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Der Freiheit des anderen dienen. Elemente einer Ethik des Anleitens

Führen und Befreien erscheinen gegensätzlich und gehören für eine menschliche Gemeinschaft zusammen wie zwei Seiten einer Medaille – so wie Chaos und Ordnung erst zusammen das Leben stiften. Ulrich Meier untersucht die schöpferische Vereinigung dieser Widersacher.


Vorbemerkung: Anleitung und Macht –ein Problem?

Das Ideal eines partnerschaftlichen Umgangs verstellt zuweilen den Blick darauf, dass am Ausgangspunkt menschlicher Begegnungen – anders als am Ziel – immer eine Asymmetrie von Macht besteht. Status, Rolle, Funktion, Wissen, Fertigkeiten und nicht zuletzt das mehr oder weniger starke Selbstbewusstsein jedes Einzelnen führen zu unterschiedlichen Voraussetzungen für den Umgang miteinander. Zwischen zwei Menschen oder auch zwischen einem Anleitenden und einer Gruppe besteht immer ein Machtgefälle, mit dem ich bewusst umgehen oder das ich ignorieren kann. Die Angst vor dem Missbrauch von Macht darf mich nicht dazu verführen, Macht als selbstverständlichen Faktor menschlicher Interaktion zu negieren. In diesem Sinne geht es bei dem spezifischen Führungsthema des Anleitens in diesem Beitrag nicht darum, der Illusion eines machtfreien Raums nachzulaufen, sondern darum, Wege aufzuzeigen, wie mit den unterschiedlichen Ebenen von Macht verantwortlich agiert werden kann: auf das jeweilige gemeinsame Projekt bezogen und in der ethischen Haltung eines gegenseitigen Respekts voreinander.

Unter Anleitung verstehe ich einen dialogischen Prozess, dessen Ziel eine Handlung ist. Es geht in erster Linie nicht darum, Kenntnisse zu vermitteln oder Einsichten zu fördern, sondern darum, ein Erlebnisfeld zu eröffnen, auf dem die Angeleiteten ihre eigenen Erfahrungen machen, die vom Anleitenden inspiriert, unterstützt und im gemeinsamen Reflektieren ausgewertet werden. Auch Lehrende, die sich mehr oder weniger ausschließlich des Mediums der Sprache bedienen, sollten sich fragen, wie es um ihre Anleiterqualitäten bestellt ist. Je mehr es jedoch um Praxis und Übung, um Bewegung des Leibes in der Welt geht, wird die Frage danach, wie ethisches Anleiten gelingen kann, unausweichlich. Dass heute an die Stelle der klassischen Unterrichts- oder Lehrstunde vielfach die Methode des Workshops, der Werkstatt oder des Kurses tritt, ist nach meiner Wahrnehmung ein Zeichen dafür, dass sich in unserem Bildungsverständnis die zentrale Bedeutung des erfahrungsbasierten Lernens immer mehr Bahn bricht. Gerade deshalb erscheint es wichtig, sich gründlicher als bisher darüber zu verständigen, wie Anleiten und Angeleitetwerden geschehen kann.

Wenn in diesem Zusammenhang von Ethik die Rede ist, soll damit nicht eine Wertedebatte im Sinne einer konventionellen religiösen Fragestellung eröffnet werden, die festschreiben will, was erlaubt bzw. verboten sein müsste. Vielmehr wird von einem Ethos zu sprechen sein, das eine nachhaltige Sensibilisierung für den Wert menschlicher Würde und Selbstbestimmung ermöglicht. Es wird nicht dargestellt, was richtig oder falsch ist, sondern vielmehr beleuchtet, wie in jedem Augenblick menschlicher Interaktion die Mitte zwischen den Extremen der Kälte scheinbar professionellen Handelns auf der einen Seite und der Hitze vermeintlichen Engagements auf der anderen Seite gefunden werden kann. Letztlich geht es dabei um die Balance von Macht und Liebe.

Dialog mit ungleichen Rollen


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«Gehen Sie bitte in Ihrem eigenen Tempo durch den Raum und …» So oder ähnlich beginnen Arbeitsprozesse, in denen angeleitet wird: Der Anleitende bittet die Anzuleitenden, etwas Bestimmtes zu tun. Was daraufhin geschieht und wie es ausgeführt wird, liegt beim Angeleiteten: Er kann einwilligen und tun, was er dem Gesagten entnommen hat, oder er geht aus dem formulierten Rahmen heraus und bleibt eventuell sogar untätig. Anleitung bedeutet also für jede einzelne Aktion eine – oft wenig reflektierte – Verabredung darüber, dass etwas geschieht, was erst durch das Zusammenspiel aus der Anregung des Anleitenden und dem Einverständnis des Angeleiteten Wirklichkeit wird. Ein dialogischer Vorgang mit bewusst ungleichen Rollen. Wer sich vom Anleitenden führen lässt, hat sich dazu entschlossen, einen Teil seiner Souveränität in die Hände eines anderen Menschen zu legen. Wer als Anleitender die Führung Einzelner oder von Gruppen ergreift, übernimmt damit Verantwortung für den Teil der Selbstbestimmung, den die Angeleiteten ihm freiwillig überlassen.

Die praktischen Erfahrungen, die ich in den vergangenen 25 Jahren in der Erwachsenenbildung und im Unterricht mit Kindern und Jugendlichen sammeln konnte, haben mich dazu veranlasst, beim Anleiten sensibel zu werden. Deshalb weise ich jede Gruppe zu Beginn einer Anleitung darauf hin, dass jederzeit Nachfragen zu den Anregungen gestellt werden können und dass alle Teilnehmenden für jeden einzelnen Teil der Übungen entscheiden sollten, ob sie mitmachen möchten und können oder lieber pausieren wollen. Bevor das erste Wort des Anleitenden gesprochen wird, teilt sich auf den unterschiedlichen Ebenen allen mit, aus welcher inneren Haltung heraus Inhalt und Methode des Projekts getragen sind. Bezogen auf die Sache ist das gut bekannt: Nur wer für das begeistert ist, was er vermitteln möchte, kann hoffen, dass ein echtes Interesse der Zuhörenden entsteht. Genauso deutlich wirkt mit, aus welcher Gesinnung sich der Anleitende den Menschen zuwendet, die sich seiner Führung anvertrauen wollen. Es ist ein gravierender Unterschied, ob die Gruppe als potenziell unfähiges ‹Belehrungsmaterial› angesehen wird, das man von außen formen muss, oder ob der Anleitende in jedem Einzelnen und in der Gruppe als Ganzer ein Potenzial wahrnehmen und fördern möchte, das seinen eigenen Möglichkeiten womöglich überlegen ist.

Es ist dein Bild

Jedem Menschen kommt unabhängig von seiner Herkunft, seinem Alter oder seinem Bildungsgrad eine eigene Würde zu. Das Ich ist ein heiliger Bezirk. Es ist weit mehr als ein Gebot der Höflichkeit, vor dem Betreten dieses ureigenen Raums eines Menschen anzufragen, ob der ‹Besuch› erwünscht sei. Ein Erlebnis aus dem Malunterricht in der Oberstufe meiner Schule von vor über 40 Jahren ist mir noch heute lebhaft in Erinnerung: Der Kunstlehrer stand neben mir und nahm ungefragt plötzlich einen Pinsel und malte auf meinem Bild herum. Ich war tief verletzt und sagte spontan: «Das ist jetzt Ihr Bild.»

Das Werkstück, das jemand bearbeitet, wird zu einem Teil seiner Identität. Es zählt zum schützenden Eigenraum, der nicht ungefragt betreten oder gar verändert werden darf. Kunstwerke werden seit dem Erwachen des Ich in der Menschheit mit Namenszug signiert – für Kunstbetrachter ist es ein wesentlicher Aspekt, sich mit der Biografie und dem Selbstverständnis derer auseinanderzusetzen, die sich im künstlerischen Handeln immer auch selbst kundgegeben haben. Aus heutiger Perpektive finde ich es respektvoll, wenn der Kollege gefragt hätte, ob der Schüler eine Bemerkung zu seinem Bild hören möchte. Nach einem Dialog mit Worten über das Gewordene würde ich mir einen Dialog darüber wünschen, welche nächsten Schritte er im künstlerischen Prozess gehen möchte. Dazu könnte der Lehrer auf Nachfrage eine Anregung geben. Selbst wenn der Schüler darum bitten würde, wäre der Eingriff des Lehrers tabu. 

Auf die Selbstwirksamkeit kommt es an

In der Anleitungssituation geht es nicht darum, um jeden Preis zu vermeiden, die aufgezeigten Grenzen zu übertreten. Jede Interaktion trägt das Risiko in sich, dass ich mich zu viel oder zu wenig engagiere. Im Extremfall verwechsle ich beim Anleiten die personale Identität mit den Anzuleitenden, indem ich mein Ich an die Stelle ihres Ichs setze – oder ich lasse sie orientierungslos ‹verhungern›, indem mich mein übergroßer Respekt verstummen und/oder untätig werden lässt. Grenzverletzungen oder Versäumnisse, die ohne Absicht geschehen, lassen sich im Nachhinein reflektieren und leicht befrieden.

Was auch immer ich tue oder unterlasse, es wird dadurch bestimmt, vor welchem seelisch-geistigen Hintergrund ich agiere. In meiner Arbeit als Jugendpfarrer habe ich Theaterprojekte angeleitet. Um eine als undiszipliniert empfundene Gruppe anzuspornen, hatte ich eine scharfe ‹Manöverkritik› vom Stapel gelassen. Die betretene Stimmung in der Gruppe nach meiner ‹Gardinenpredigt› hat mich jedenfalls dazu bewogen, solche Maßnahmen aus meinem Anleiterrepertoire zu streichen.

Die Empathie, sich immer wieder in die Angeleiteten zu versetzen, schützt vor Kühle und Distanz. Verstehe ich mich als Diener der Angeleiteten und als Verantwortlicher für die Entfaltung der Gruppenpotenziale, dann weiß ich, dass nur nachhaltig zählt, was die Menschen als Selbstwirksamkeit in ihren eigenen Prozessen erlebt haben. Ein Jugendlicher der Gruppe schrieb zum Abschied: «Besonders danke ich dir dafür, dass du mich viele Sachen hast ausprobieren lassen.»

Was nur durch innere Aktivität geschieht

Ein Spezialfall von Anleitung ist die Arbeit, zu der ich mich selbst bestimme. Beim Üben und Trainieren kann ich unterscheiden, dass ein Teil von mir angeleitet wird, während ein anderer Teil meiner selbst Regie führt. Goethes Wort der zwei Seelen in der Brust meint diese Asymmetrie von Intentionen. In diesem Verhältnis von Ich zu Ich spricht sich jedoch nicht nur eine intrapersonale Besonderheit des Menschen aus, sondern es weist auf den Wesensaspekt, der sich auch im Verhältnis Ich–Du und Ich–Wir auswirkt.

Rudolf Steiner hat in einem Vortrag über soziale und antisoziale Triebe (12.12.1918, in ga 186) über das sogenannte ‹soziale Urphänomen› gesprochen. Jede menschliche Begegnung beinhaltet das Bestreben, so Steiner, «durch den Eindruck, den der eine Mensch auf den anderen macht, dass der Mensch eingeschläfert wird». In dieser zarten Bereitschaft, sich einschläfern zu lassen, die eigenen Vorstellungen loszulassen, erkennt Rudolf Steiner die sozialen Triebe des Menschen. Diesen stehen antisoziale Triebe entgegen: «Dagegen wirkt noch etwas anderes. Es wirkt das fortwährende Sichsträuben, das fortwährende Aufbäumen der Menschen gegen diese Tendenz, wenn sie eben nicht schlafen.» Dieser leise Atem von Ich und Seele zwischen sozialem Verdämmern und antisozialem Bewusstwerden kann die beiden beteiligten Ich-Wesen steigern. Dies hat Heinrich von Kleist 1805 in seinem Prosastück ‹Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden› zum Thema gemacht. Er zeigt, dass der Sprechende dem Zuhörer einen Teil dessen verdankt, was ihm als Gedankeninhalt bewusst wird.

Für das Anleiten gilt es, für diesen produktiven Aspekt von Begegnung aufzuwachen. Ich lasse die Begegnung ungenutzt, wenn ich die Asymmetrie von Anleiter-Macht und Angeleiteten-Ohnmacht für die perspönliche Entwicklung allein nutze und nicht versuche, die Angeleiteten dazu zu bringen, dass sie sich selbst aktivieren, dass ihr Erfahrungslernen stärker wird.

Schwelle und Doppelgänger

Hinter der Schwelle zum Unbewussten existieren Anteile des menschlichen Wesens, denen eine Doppelbedeutung eigen ist: Einerseits gehören sie zu mir und sollten deshalb nicht verleugnet oder abgespalten werden, andererseits beinhalten sie auch Fremdes. Was Seelenforscher wie C. G. Jung und Rudolf Steiner vor 100 Jahren über die inneren Abgründe und ihre Schätze im Menschen ausgesagt haben, ist inzwischen zum geistigen Allgemeingut unserer Zeit geworden. Nur dass alte Worte wie ‹Genius›, ‹Engel› oder ‹Dämon› auf die wesenhafte Gestalt dieser Phänomene hingewiesen haben, bedarf vielleicht einer Aktualisierung und genaueren Betrachtung. Das wahre Selbst (Jung) bzw. das höhere Ich (Steiner) sind ebenso vor meinem Alltags-Ich verborgen wie die Quelle der destruktiven Strebungen, die als ‹Schatten› (Jung) oder ‹Doppelgänger› (Steiner) Teil des Unbewussten ist. Beide wirken unaufhaltsam in die seelischen Aktivitäten ein, aus denen ich handle bzw. nicht handle.

Zur Verantwortung des Anleitenden gehört es, dass er mit diesen Kräften rechnet und sie zu erkennen bemüht ist: Wo kommt mir die positive Kraft meines Gegenübers oder der Gruppe entgegen, die ich anleite? Wann zeigt sich, dass sich in das Verhalten einzelner Angeleiteter Destruktives einmischt, dem sie nicht aus der wachen Sphäre ihrer Seele gewachsen sind? Es geht hier nicht um Urteile oder Vorurteile aufgrund persönlicher Sympathien oder Antipathien des Anleitenden, sondern um wache Aufmerksamkeit auf etwas, das wir nicht abschließend bestimmen können, weil es sich im Eigenen der Gruppenmitglieder oder der Gruppe auslebt und deshalb nicht von außen überschaut und beurteilt werden kann.

In der psychoanalytischen Bewegung wurde eine ethische Richtlinie für Therapeuten formuliert, die nach meiner Auffassung auch für Anleitende gelten sollte: die Abstinenzregel. Der Anleitende sollte sich darum bemühen, seine persönlichen Dinge aus den persönlichen Angelegenheiten der Anzuleitenden herauszuhalten. Das ist ein wesentlicher Anteil professionellen Handelns: Ich diene dem Klienten, Patienten oder Kunden, ohne dabei auf meine eigene Bedürftigkeit bezogen zu sein. Jung und Freud brachten dies mit dem Begriff ‹Übertragung und Gegenübertragung› auf den Punkt. Für Anleitende bedeutet das: Der andere sollte nicht zur Projektionsfläche meiner seelischen Angelegenheiten werden. Andererseits muss ‹ich› sehr wohl damit rechnen, dass ich selbst zur Projektionsfläche seitens der Angeleiteten werde. Wo sie mir mit übergroßer Sympathie oder Antipathie entgegenkommen, sollte ich gewärtigen, dass dies weniger mit meiner Person als mit ihnen zu tun hat.

Ich kam besonders am Anfang meiner Tätigkeit als Religionslehrer mit manchen Gruppen nur schwer oder gar nicht zurecht. Traf ich die Gruppenteilnehmer einzeln, so gab es keine Probleme, erst die Kombination des Gruppenwesens machte mir das Leben als Anleitender schwer. Als ich wieder einmal mit erheblichen Disziplinproblemen bei einer Gruppe zu kämpfen hatte, machte ich mir außerhalb des Unterrichts klar, dass ich als Lehrer auch unmittelbar mit dem Gruppengenius und dem Gruppendämon zu arbeiten habe. Am Ende einer Stunde war ich verbal aus der Haut gefahren: «Ich werde gleich sauer!», rief ich in die Klasse – natürlich ohne Erfolg. Nachdem mir klar war, dass dieser Satz mir nur verbergen wollte, dass ich bereits sauer war, nahm ich mir für den Beginn der nächsten Stunde vor, eine Miniansprache zu halten, die eigentlich an Gruppengenius und Gruppendämon gerichtet war. Sie lautete in etwa: «Es tut mir leid, dass ich in der letzten Stunde so laut geworden bin. Ich werde mich darum bemühen, dass das nicht wieder vorkommt, und ich möchte euch bitten, mit dafür zu sorgen, dass wir hier gut miteinander auskommen. Und übrigens: Ich habe mich entschieden, die Gruppe nicht an den Kollegen abzugeben.»

Wie gebe ich auch in methodischer Hinsicht immer wieder das Zepter des Gruppenleiters aus der Hand und überlasse Leitungsfunktionen den Einzelnen und der Gruppe? Indem ich mich so oft wie möglich als ‹Bestimmer› überflüssig mache und zugleich in der Gesamtverantwortung und Wahrnehmung der Prozesse präsent bleibe. Der methodische Königsweg des Anleitenden besteht darin, das Königtum jedes Angeleiteten zu wecken und zu stärken. 

Nähe und Distanz

Neben der Zeit ist der Raum der wichtigste methodische Partner des Anleitenden. Mit seinen Dimensionen Innen/Außen und Nah/Fern ist er einer der fundamentalen Vermittler von Erfahrungen der Seele über den Leib an der Welt. Zwei Grenzen oder Schwellen sind solche Orte der Bewusstwerdung. Zwischen Seele und Leib liegt die erste Schwelle, an der die Angeleiteten über ihre ‹Empfindungen› Erfahrungen sammeln. Die andere Grenze öffnet die ‹Wahrnehmung› über die Sinne in die volle Weltrealität des Raums und zu den anderen Angeleiteten. Ich muss diese wunderbaren Arbeitsbedingungen als Anleitender nicht herstellen, sondern kann sie methodisch versiert nutzen, um die Eigentätigkeit und Eigenverantwortung der Angeleiteten zu stärken und mich als ihren Lernerfahrungspartner zu entlasten.

Ein besonderes Kapitel ist die Nähe oder Distanz des Anleitenden zu den Angeleiteten. Wie schaffe ich es, für jeden Teilnehmer eines Workshops persönlicher Ansprechpartner zu sein und andererseits die Teilnehmer möglichst oft in Distanz zu mir als Anleitendem zu führen, damit sie ihre Erfahrungen selbstständig machen? Wenn ich zu Beginn einer Anleitung die Ansprache an alle halte, ist das Verhältnis ziemlich statisch: «Wenn alles schläft und einer spricht, den Zustand nennt man Unterricht», lautet der alte Pennälerspruch. Die gemeinsame Auswertung am Schluss ist formal genauso statisch. Nur ist der große Unterschied, dass ich als Anleitender auf der sozialen Schlafseite stehe, wenn ich wahrnehme, was die Angeleiteten über ihre Erfahrungen erzählen. Für die Struktur der Kleingruppen hat sich für das Anleiten die Dreierformation bewährt: Einer leitet den Zweiten an und die beiden werden vom Dritten wahrgenommen – die Rollen rotieren, sodass jeder einmal anleitet, einmal angeleitet wird und einmal von außen wahrnimmt. Der Wahrnehmende steht am meisten in Distanz zum Geschehen, der Anleitende in einer mittleren Distanz und der Angeleitete hat die größte Nähe zu seinen Erfahrungen. Für das Reflektieren passt oft der Dialog zwischen zwei Teilnehmenden besser, dies kann als Auswertung in Vierergruppen erweitert werden. Ein Dreischritt im Auswerten kann im Sinne der Hauptmethode des kooperativen Lernens als ‹Think – Pair – Share› erfolgen: Zuerst denkt jeder für sich allein, dann folgt ein Zweiergespräch, schließlich das Teilen in der Vierergruppe.

Tempo: Schnelligkeit und Langsamkeit

Bietet mir der Raum Gelegenheit, mit einer Vielzahl von Konstellationen zu experimentieren, so ermöglicht die Zeit, Prozesse zu organisieren. Bewegung und Entwicklung, Anfang und Ende, die Zartheit des Entstehens und die Chance zum Reifen im Vergehen: All dies beinhaltet der Verlauf der Zeit vom Gewordenen über das Werdende bis zum Möglichen. 

Aber nicht nur die einmalige Potenz schöpferischer Prozesse unterliegt den Gesetzen der Zeit, sondern sie bergen auch das vielleicht kostbarste Gut des Lernens in Wiederholung, Variation und Steigerung. Wie öde, wenn jede Initiative für einen Entstehungsvorgang in einer Gruppenarbeit auf die Person und Autorität des Anleitenden beschränkt bleibt. Dann lautet die Chefansage: «Und jetzt das Ganze bitte noch einmal!» Wie leicht gebe ich die wunderbare Möglichkeit, Prozesse zu initialisieren, zu steuern und auszuwerten, aus der Hand und organisiere – womöglich ohne es zu wollen – das alte stumpfe Spiel: Je stärker der Gestaltungswille des Anleitenden, desto mehr passiver oder aktiver Unwille bei den Angeleiteten. Zur Zeitgestalt einer Anleitung gehört vielmehr so etwas wie Motivation: der Impuls, sich zu bewegen. Hier steuere ich als Anleitender unter anderem mit dem Tempo. Bin ich zu langsam, dann mutiert die anfängliche Frische der Begegnung zu einer langweiligen Geduldsprobe. Als Anfänger im Anleiten musste ich später am Leben lernen, dass sich eine zu schnelle Anleitung aber ebenfalls nicht auszahlt. Ich hatte zunächst noch nicht das Sensorium dafür, ob ich etwa beim Erklären von Regeln alle Gruppenmitglieder erreicht und ihnen genügend Zeit zum Verdauen und Umsetzen der Worte in Vorstellungen und Handlungsentwürfe gelassen hatte.

Anleitung ist selbst ein Prozess, und jeder Anleitende hat die Aufgabe, diesen Prozess zu führen. Dazu muss er sich ein ganzes Bündel von Fähigkeiten erwerben und deren Einsatz an der passenden Stelle der Zeitgestalt des Anleitungsprozesses entscheiden. Was Jutta Hodapp und Adriaan Bekman in ihren Beiträgen für dieses Buch dazu angeführt haben, lässt sich unmittelbar auf das horizontale Führen in Anleitersituationen beziehen: 

  • Ich ‹steuere›, indem ich den Prozess einrichte und Impulse gebe.

  • Ich ‹coache›, indem ich besonders bei der Auswertung die Wahrnehmungsseite stark mache.

  • Ich ‹inspiriere› durch motivierende und/oder begeisternde Bemerkungen. 

Am schwersten ist die Intervention und Konfrontation zu handhaben, wenn ich bei Konflikten, Missverständnissen oder bei Fehlverhalten der alten, einseitig vertikalen Führungsrolle und dem Thema Machtmissbrauch am nächsten komme.

 

Gekürzter erster Teil eines Beitrags von Ulrich Meier: ‹Der Freiheit des anderen dienen› in ‹Christliches Anleiten›, Hrsg. Ulrich Meier, Stuttgart 2017

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