Das heimatlose Kind

Da, wo wir Neues hervorbringen können, wo wir als Schöpfende uns erkennen und erkannt werden, da wird in uns das Menschliche. Ein Interview über geflüchtete Kinder und Familien, aus dem ein Gespräch über menschliche Beheimatung in uns selbst, im eigenen Leib und ineinander wurde.


Franka Henn Wie bist du dazu gekommen, als Notfallpädagoge in Auslandseinsätzen und gleichzeitig in der Geflüchtetenhilfe in Freiburg zu arbeiten?

Christoph Bednarik Das hat mir ‹das Leben geschickt›. In einer Zeit intensiver Suche nach so etwas wie einem roten Faden in meinem Leben, erhielt ich einen Anruf von einer unbekannten Frau. Das war Frau Faltin, die den Verein stART international mitbegründet hatte. Sie fragte mich für einen Einsatz im ehemaligen Kriegsgebiet in Georgien an. Ich dachte, «die schickt der Himmel», und war begeistert, meine künstlerische Arbeit für Menschen in einer Notsituation auszuweiten. Das war vor 13 Jahren.

Seitdem habe ich viele Einsätze für stART gemacht: in Haiti, in Libyen, im türkisch-syrischen Grenzgebiet, im Irak und in der Ukraine und verschiedenen anderen Ländern, zuletzt auf Lesbos, wo wir ein neues Projekt gegründet haben. 2013, also vor acht Jahren, hatte ich die Idee, mit Kindern, die mit ihren Familien geflüchtet sind, in Freiburg zu arbeiten. Ich ging, ohne viel bürokratische Telefoniererei, zu den Flüchtlingsunterkünften hin und knüpfte Kontakte mit den Menschen vor Ort. Und das bestärkte mein Gefühl: Ich will hier etwas tun. Ich nahm Kontakt zu den Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern dort auf und besuchte Stiftungstreffen, um geeignete Finanzierungsmöglichkeiten zu finden.

Und ich erinnere mich genau – es war ein wunderbarer Moment –, als mir Frau Schiller, erste geschäftsführende Vorstandsfrau von stART, vorschlug, wir könnten doch ‹gemeinsame Sache› machen, also gemeinsame stART-Projekte mit dieser Idee. Die Freude war groß und dies setzte für unser gemeinsames, soziales Unternehmen – das kann ich jetzt im Nachblick sagen – noch mehr Wärme als Kraftstoff für die Arbeit frei.

So fing ich an, künstlerische, die Resilienz stärkende Projekte in Flüchtlingsunterkünften zu konzipieren. Ich erlebe immer eine sehr große Kraft, wenn wir gemeinsam künstlerisch tätig werden und dass dabei viele Kräfte frei werden, die die persönlichen Fähigkeiten stärken. Es war mein Hauptanliegen, in soziale Brennpunkte zu gehen und in einem stArt-Team mit Musikern, mit Kunsttherapeutinnen, mit Malern oder auch Lehrerinnen gemeinsam tätig zu werden. So hat es 2014 in Freiburg angefangen, so hat meine Begeisterung ‹Hand und Fuß› gewonnen.

FH Kannst du Näheres zu den Projekten in Freiburg, die ihr Kindern in Flüchtlingsunterkünften anbietet, erzählen?

CB Im Moment laufen vier stART-Projekte mit verschiedenen Zielgruppen in Freiburg, in zwei Unterkünften und eines in einer staatlichen Schule, wo ich auch mit Kindern mit Migrationshintergrund arbeite. ‹Kunst stärkt Kinder› ist ein Arbeitstitel dieser Projekte, die zum Ziel haben, Räume zu öffnen für künstlerisch-pädagogische Prozesse, die die Resilienzkräfte aller Beteiligten stärken.

In dem Projekt ‹Werkstatt für eine bunte Welt› geht es eigentlich darum, in klein- und großflächigen Formaten mit den Kindern in Malprozesse zu kommen, einerseits das Individuelle, Eigene zu stärken und auszuweiten, aber auch die notwendigen Grenzziehungen für das eigene Bild finden zu lernen. Daraus wollen wir gemeinsam eine Ausstellung in einem Kinderkrankenhaus kreieren.

In dem Schulprojekt werden von den Sozialarbeitern und Lehrerinnen Kinder ausgewählt, die besonderen Bedarf, die schwierige Fluchterfahrungen gemacht und schwierige Lebensverhältnisse haben. Mit den Kindern arbeite ich dann in einem künstlerischen Setting, in dem wir mit unterschiedlichen Maltechniken und Materialarbeiten kreativ werden.

Mir gefällt es sehr, kontinuierlich, über ein paar Jahre mit denselben Kindern und Familien zu arbeiten. Manche kenne ich inzwischen sechs, sieben Jahre, und das ist eigentlich wie eine künstlerische Entwicklungsbegleitung. So können wir als stART-Team vermehrt die Eltern miteinbeziehen und so entsteht ein schön gewachsenes Vertrauensverhältnis über die Jahre.

stART-Nothilfeprojekt Lesbos, Malerei in Mischtechnik, vier- bis fünfjähriges Kind, November 2021

Äußere Aushöhlung auf der Flucht

FH Kannst du etwas über die Situation für Flüchtlinge in Deutschland oder in Freiburg und über die Fluchtetappen erzählen? Wie sind die Stationen, wenn man in Deutschland versucht, sich neu zu etablieren?

CB stART international hat 2019 auch ein Projekt auf Lesbos ins Leben gerufen. Tausende Menschen, vor allem aus Afghanistan, aus Syrien, aus verschiedenen afrikanischen Ländern flohen über die Türkei auf die Insel Lesbos in Griechenland. Diese Menschen kamen bis September 2020 ins Moria Camp, das dann abgebrannt ist. Wir waren zuletzt im Oktober dieses Jahres wieder in einem stART-Einsatz vor Ort. Es gibt dort mittlerweile viel weniger Geflüchtete. Es waren vor zwei, drei Jahren über 20 000 und jetzt harren ungefähr 2500 Menschen in dem neuen Camp aus. Man muss die Situation vor Ort kennen, wissen, wie sie ankommen, wie sie behandelt werden, in welchen Wohnverhältnissen sie leben, um irgendwie verstehen zu lernen, was diese Menschen durchmachen. Es sind so viele Faktoren, die eigentlich von außen auf ihr Leben einwirken, die die Menschen in ihrer Würde aushöhlen: Unterernährung, schlechtes Essen, keine oder desolate hygienische Verhältnisse, schmutzige Unterkunft, Kälte, dann die Gefahr von Vergewaltigung, Pädophilie und immer so weiter. Es waren und sind extrem drastische Verhältnisse. Die Sicherheit im neuen Lager scheint besser geworden zu sein, sagen manche, die dort wohnen. In den letzten Monaten haben viele Tausende einen positiven Bescheid zur Weiterreise bekommen. Sie werden auf das Festland gebracht, nach Thessaloniki oder Athen. Sie wohnen da wieder in neu errichteten Lagern, manche Familien fliegen direkt in andere europäische Länder. Wenn sie hier ankommen, stellen die Menschen einen Asylantrag in einer Erstaufnahmestelle, da sind sie einige Zeit in Quarantäne und erhalten einen Gesundheitscheck. Nach einigen Wochen kommen sie in eine zentrale Unterbringungseinrichtung, wo nach einem Interview über ihre Fluchthintergründe, die Wartezeit auf die Antwort auf ihren Antrag beginnt. Von da werden die Menschen in Asylunterkünfte verteilt.

Die Menschen, die seit einigen Jahren hier sind, haben manchmal schon eine Wohnung und Arbeit gefunden. Die Kinder gehen in der Regel in den Kindergarten oder in die Schule oder machen auch Ausbildungen und studieren. Die Integration in das Bildungs- und Berufsleben ist da, die in das soziale Leben weniger. Die Flüchtlingsunterkünfte stehen meistens an sehr abgelegenen Orten in Freiburg, sie sind an das Verkehrsnetz angeschlossen, aber liegen sehr dezentral. Und ich habe in den letzten sechs, sieben Jahren kaum Kinder aus Deutschland in diesen Unterkünften gesehen und umgekehrt kaum Einladungen in deutsche Familien, in ihre Häuser oder Wohnungen. Es gibt aus meiner Sicht eine Isolation im Sozialen, auch wenn sie bildungsmäßig mehr und mehr integriert erscheinen.

FH Ich würde dich gern nach der ‹Erfahrung des fliehenden Menschen› fragen. Kannst du etwas über das Gemeinsame dieser Erfahrung sagen?

CB Es sind viele Stationen, die Menschen auf ihrer Flucht durchleben. Angefangen in ihrem Heimatland, wenn sie beispielsweise durch Krieg entwurzelt werden von ihrem Grund und Boden, aus ihrer Wohnung, wo sie alles zurücklassen müssen: die Spielsachen, die geliebte Katze, den Hund, Oma, Opa. Das sind natürlich dramatische Erlebnisse, die je nach Land verschieden sein können, aber die die Kinder und die Erwachsenen als Erlebnis in ihrem ‹Seelen-Rucksack› mitnehmen. Das kann ein tief erschütterndes Erlebnis sein, entwurzelt zu sein, nicht mehr den Heimatboden bearbeiten und bepflanzen zu können oder das eigene Haus oder Geschäft, das man aufgebaut hat, aufgeben zu müssen. Dann gibt es die Erlebnisse auf der Flucht, je nach Fluchtroute etwas verschieden. Im Kern sind es jedoch oft die eigene Existenz bedrohende Erlebnisse, Todeserlebnisse, Erfahrungen von verschiedensten Formen der Gewalt. Die Gefahr, in der Wüste Sahara ausgesetzt zu werden oder zu verdursten, auf der Überfahrt über das Meer zu ertrinken. Viele Menschen können nicht einmal schwimmen.

Wie die Menschen all dies verarbeiten, hängt von ihrer Konstitution, den genauen Umständen und ihrer Resilienz ab. Ich erinnere mich an eine Aussage, die mich sehr berührt hat auf Lesbos, noch im alten Moria Camp. Dort hat mir ein jüngerer Mann aus Syrien gesagt, das Allerschlimmste für ihn seien die langen Menschenschlangen. Er muss jeden Tag anstehen, ob er jetzt zum Arzt gehen, telefonieren oder Papiere haben will, vor dem Essen, Duschen oder vor der Toilette. «Du kommst dir nicht mehr als Mensch vor, sondern als Tier», hat er gesagt, «wenn du dich immer anstellen musst und nicht mehr persönlich als Mensch gesehen wirst.» Es ist dies ein eindringliches Beispiel für die den Menschen immer mehr entwürdigenden und schwächenden Kräfte, die auf den verschiedensten Ebenen wirken. Jeder Mensch bringt diesen schwierigen Verhältnissen eine andere, innere elastische Kraft entgegen, eine Resilienzkraft, die die Menschen befähigt, durch Krisensituationen zu kommen. Es gibt individuelle und soziale, gut erforschte Resilienzfaktoren, die unterstützend wirken: ob du eine Begleitperson, eine Familie hast, die hinter dir als Kind steht, ob du vielleicht sogar einen Kindergarten oder eine Schule besuchen kannst. Auch Religion ist ein ganz wichtiger Faktor. Individuell spielen zum Beispiel die Selbstwahrnehmung, kreatives Handeln und Empathie eine wichtige Rolle.

stART-Nothilfeprojekt Lesbos, Malerei in Mischtechnik, vier- bis fünfjähriges Kind, November 2021

Sich einander vertraut machen

FH Kannst du von Einzelfällen berichten?

CB Ich kann als Beispiel von einem irakischen Jungen erzählen, der jesidischen Ursprungs war. Seine Familie wurde vom Islamischen Staat (IS) gefangen genommen und er musste in die Koranschule, in der er geschlagen wurde, wenn er nicht gut zitieren konnte. Es gelang seiner Familie, nach Deutschland zu fliehen, und ich traf ihn in der Grundschule, in der ich in Freiburg arbeite. Es war eine große Herausforderung in der Gruppe, ihn sozial zu integrieren und mit seinem Verhalten umzugehen. Es kam vor, dass er andere Kinder schlug oder er zerstörte seine eigenen Malversuche oder die der anderen. Er hat die sozialen Grenzen gesprengt. Er schien so tief verletzt, dass er nicht in seine Kreativität, nicht in einen konstruktiven Ausdruck kommen konnte. Das war für mich sehr herausfordernd, denn natürlich gibt es Grundregeln in einer Gruppe und wir müssen Grenzen setzen, wenn es aggressiv und zerstörerisch wird. Ich musste ihn dann, weil er auf Kinder losgegangen ist, wirklich physisch trennen und ihn halten, was ich sonst nicht gern mache. Er wollte es nicht und ich wollte das auch nicht, aber es war einfach unumgänglich, ihn zu trennen, damit nicht noch mehr Schaden entsteht. Ich bin mit ihm aus dem Malatelier hinaus, wir setzten uns auf eine Bank und ich hatte das starke Gefühl, ich weiß gar nicht mehr, was ich mit ihm tun soll; ich fühlte meine Ohnmacht. Er hat dagesessen und geheult und wir schienen beide ratlos. Das war ein Schlüsselmoment. Ich konnte ihm meine Hand auf die Schulter legen, die er annahm. Er weinte noch mehr – und irgendwann war es gut. Es hatte nicht viele Worte gebraucht. Es war das Mitgefühl und das Erkennen des gemeinsamen Ringens und das gemeinsame Durchgehen durch ein Nadelöhr. Er beruhigte sich, wir gingen wieder ins Atelier, er setzte sich und wollte malen, etwas, das er sonst nie von sich aus gemacht hat. Er malte 20, 30 Minuten, konzentriert, in einer weichen Gelöstheit, er wusch seine Pinsel. Er wollte mithelfen und räumte mit allen zusammen auf. Durch dieses Erlebnis der Grenzsetzung und des gemeinsamen Durchgehens durch dieses seelische Nadelöhr schien er wieder Zugriff auf seinen ‹inneren Gestalter› zu bekommen, womit er seine Kräfte wieder in sinnvolle, aufbauende Dinge lenken konnte und aus seinem Innersten auch im Sozialen beitragen wollte. Daraus lernte ich, wie ‹nah› die persönlichen Fähigkeiten und Ressourcen sind, die junge Menschen in sich tragen, auch wenn sie vielleicht temporär keinen Zugriff darauf haben.

stART-Nothilfeprojekt Lesbos, Malerei in Mischtechnik, fünfjähriges Kind, November 2021

FH Durch wahrhaftige zwischenmenschliche Beziehungen wächst auch die ‹innere Heimat› wieder – sich in sich selbst zu Hause fühlen können – oder? Geht es in eurer Arbeit im weitesten Sinne um ‹Beheimatung›?

CB Es ist unsere Arbeit bei stART, Räume für Kinder zu schaffen, in denen sie wieder Kind sein können. In internationalen Krisengebieten arbeiten wir in Child Friendly Spaces, Orte, an denen sich Kinder sicher fühlen und in ein heilsames Spielen durch künstlerische Angebote kommen können. Es geht darum, dass wir uns gemeinsam beheimaten, in dem, was wir gerade tun, in der Begegnung, in der wir gerade stehen. Und das passiert durch die Begeisterung für unsere Arbeit, durch die Liebe zu den Kindern. Daraus entsteht Herzensbegegnung, ein Raum voll Herzenswärme.

Dann gibt es verschiedene Kraftfelder, in denen es sich zu beheimaten gilt. Für Kinder bis zum siebten, achten Jahr ist es essenziell, sich zu Hause fühlen zu lernen im eigenen Körper, sich darin wohlzufühlen, dass sie sich sicher bewegen können, sich stabil fühlen in ihrem Leib, ihre Grenzen spüren lernen. Das ist fundamental – ein Leben lang. Dafür bieten wir eurythmische Elemente, rhythmische Lieder mit körperperkussiven Elementen an, natürlich auch Spiele für die Sinne. Das ist das Methodische, um Körpergefühl zu erzeugen, wodurch Vertrauen zum eigenen Körper entsteht. Körpervertrauen ist ein Stück Beheimatung in sich selbst.

Ein weiterer Aspekt ist, in den eigenen Willen, in die Eigenwilligkeit zu kommen, in den eigenen Ausdruck. Die Kinder sollen eigene Ideen, eigenen Ausdruck und eigenwillig selbst Dinge gestalten lernen. Das kann durch Malen, Musik oder theaterpädagogische Elemente sein. stArt international arbeitet da immer mit vielseitigen Ansätzen im Team, um eine Vielfalt an künstlerischen Aktivitäten anzubieten. Die Kinder erleben ihre Selbstwirksamkeit: ‹Ich kann etwas schaffen, was sinnvoll ist. Ich kann etwas tun, das schön ist.› Das ist ein ‹Beheimaten im eigenen Schöpfer› oder in ihrem eigenen Wesen, das neue Dinge im Leben hervorbringen will. Auch das brauchen wir alle ein Leben lang.

Das soziale Miteinander ist eine weitere, wichtige Ebene. Unsere Arbeitshaltung ist inspiriert durch: ‹Es ist gut, dass du da bist. Es ist gut, dass ich da bin. Und wir können jetzt gemeinsam etwas schaffen.› Dieses Gefühl der Wertschätzung, des Interesses, auch verlässliche Regeln und Grenzen, all dies führt zu neuem Vertrauen im Sich-Aufeinander-Beziehen. Wenn die Kinder sich mehr und mehr erkannt fühlen, dann entsteht in der Wärme auch Licht. Wir erzeugen in unserer Arbeit Wärme, aber eben auch Licht. Ich verstehe uns als Wärme- und Lichtproduzenten. Im Grunde geht es darum, Räume zu schaffen, wo dieses Menschsein in Herzenswärme und Licht möglich wird. Und dafür sind künstlerische Medien essenziell. Das hat für mich mit Beheimatung auf einer tief menschlichen Ebene zu tun. Es ist für mich immer wieder ein ergreifendes Erlebnis, in der Arbeit mit großen Gruppen zu erleben, was sich zwischen uns, um uns herum bildet: Das sind innere Räume, die mit Herzenswärme belebt sind, mit lächelnden Gesichtern und mit Lichterfüllten Augen aller Beteiligten. Mitten im Dunkel von Krisengebieten erzeugen wir oder legen wir diese Licht- und Wärmefülle frei; Licht- und Wärmekuppeln entstehen gemeinsam mit allen Menschen. Das sind Momente gelebter Existenzialität.

stART-Nothilfeprojekt Lesbos, Gruppenarbeit mit unbegleiteten Jugendlichen in der Safe Zone im Moria Camp, 2019, Großformat 120 × 70 cm

FH Du hast schon vorsichtig angesprochen, dass die Kinder bei euch von der Flucht traumatisiert sein können. Wie kommen sie in eurer Arbeitsstelle an?

CB Eine oft beobachtbare Tendenz bei Kindern ist die Rastlosigkeit, das Getriebensein. Sie können sich mit den Dingen, die man anbietet, vielleicht gar nicht oder nur kurz verbinden und dann nur mit einer geringen Konzentrationsspanne. Ein weiteres Phänomen sind sich offensiv verhaltende Kinder mit mangelnder Impulskontrolle, was sich in verbaler oder körperlicher Aggression entladen kann. Es gibt auch Kinder, die ganz in sich versunken, schwer und abgeschlossen wirken.

Es gab einen Jungen in Lesbos, acht Jahre alt, der konnte einen Jonglierball nicht so zuwerfen, dass man ihn fangen konnte. Er warf ihn nur nach unten und konnte keinen Bogen zum Gegenüber spannen. Auffällig schien sein Blick, der stets etwas nach unten gerichtet war und belastet erschien. Einer unserer Teamkollegen fing an, mit ihm den Ball spielerisch in die Höhe zu werfen, in die Leichte zu arbeiten. Der Blick des Jungen, seine Stirn, seine ganze Bewegungsgestalt öffnete sich nach oben in die Leichte. Nach einer kurzen Zeit konnte er den Ball in einem schönen Wurf zuwerfen. Sein Vater hat das beobachtet und gab uns am nächsten Tag ein Feedback. Er war ganz erschüttert, dass sein Sohn nicht richtig werfen konnte. Die Familie hatte wohl eine sehr tragische Fluchtgeschichte und er freute sich, dass sein Sohn es so schnell wieder lernen konnte. Er merkte, wie belastet sein Kind von dieser Flucht war.

Das ist eine Erfahrung, die zeigt, wie wir in unserer Arbeit einseitige Tendenzen erkennen und wie wir wieder Balance in diese bringen können.

stART-Projekt ‹Kunst stärkt Kinder› in Freiburg, Gruppenarbeit von Kindern einer Flüchtlingsunterkunft, Mai 2021

Im Schöpferischen erblüht der Mensch

FH Du hast manche Kinder über lange Zeit begleitet. Wie wirkt sich das auf ihr Leben aus?

CB Kind sein heißt, neue Dinge hervorzubringen, sich im Prozess ganz zu verwirklichen und dabei völlig präsent zu sein. Darin ist etwas Fundamentales. Es ist dieser innere Quell, der die Dinge neu hervorbringt, der immer wieder neue Facetten unseres Menschseins entstehen lässt, indem wir neue Ideen schöpfen, neue Dinge ausprobieren, Neues unternehmen. Es gilt, diese Freude am Initiativ-Werden zu stärken. Kinder, die ich über mehrere Jahre begleitet habe, entwickelten eine zunehmende Freude und Sicherheit im Schöpferisch-Werden mit den verschiedensten künstlerischen Ausdrucksmedien. Der achtsame Umgang mit Materialien, die achtsame Pinselführung beim Malen, auch der Umgang miteinander sind Qualitäten, die wachsen konnten. Gerade zum Umgang möchte ich etwas sagen. In den Unterkünften leben Menschen mit unterschiedlichsten Zugehörigkeiten zu Kultur und Religion. Da lebt auch viel Rassismus, Mobbing oder Streit zwischen Familien, was sich natürlich auch auf die Kinder auswirkt. Wenn wir auf großen Papierformaten in der Gruppe malen, stehen oft Kinder am Tisch, zwischen denen Spannungen herrschen, Spannungen durch Altersunterschiede oder verschiedene Religionszugehörigkeiten. Es gibt dann zwei Elemente, die durch den Malprozess führen. Das eine ist die Abgrenzung, für das eigene Bild eine Grenze zu finden. Das Zweite ist eine Fläche, zum Beispiel einen Himmel, gemeinsam zu gestalten. Erfahrungsgemäß transformieren sich die sozialen Spannungen im gemeinsamen Malprozess in wunderschön gestaltete Bilder. Wir gestalten hier im Sozialen, in einem kreativen Prozess, der Emotionen und Streit in ein gemeinsames Werken führt, und am Ende können die Kinder sagen: «Wir haben das zusammen geschafft!»

FH Das klingt wie eine Friedensarbeit! Etwas, das doch überall gebraucht würde, sowohl für unsere eigenen inneren Gestalter als auch im Zusammensein. Was sind deine Anregungen, für ‹den Rest von uns› – für diejenigen, die um diese Inseln der Flüchtlingsunterkünfte herum leben? Wie kommen wir über die Nothilfe hinaus in ein wachsendes Miteinander?

CB Ich finde, wir haben oft ein einseitiges Bild von geflüchteten Menschen. Sie haben vieles erlebt, was schwerwiegend ist. Aber sie sind nicht nur Opfer und wollen nicht nur als Opfer gesehen werden, als solche, die nur bemitleidenswert sind. Das sind Menschen, die, so wie wir, das Bedürfnis nach Sicherheit, nach Familie, nach Bildung, nach Liebe haben. Menschen, die mit ihren vielfältigen Fähigkeiten ihren Weg in die Berufswelt finden, anderen Menschen helfen, die ihr Leben aktiv in die Hand nehmen wollen.

Mein Wunsch ist, dass wir mehr Herzensbildung in unserer Pädagogik und in der Begegnung mit Menschen üben, dass es Begegnungen werden können, in denen wir spüren und uns fragen, was will aus dem anderen werden, was ist noch gar nicht da, was ist noch ungeboren. Und dass wir fühlen können: ‹Ich kann dich ein Stück begleiten. Ich mach das von Herzen gern und und wir gehen ein Stück Weg zusammen und lernen uns kennen, lernen voneinander.› Ich wünsche mir, dass wir uns erinnern, dass wir auch nur werden konnten, wer wir sind, weil wir anderen Menschen begegnet sind. Dazu gehören alle Menschen, aus allen Religionen, Kulturen und Schichten, die uns etwas zeigten, von denen wir etwas lernen konnten. Also, eine herzliche Bescheidenheit und eine Offenheit dem Wunder des Menschseins gegenüber – das wäre wunderbar! Ich kann nur dadurch der sein, der ich bin, und der, der ich werden will, weil die Kinder hier sind und geflüchtet sind. Sie helfen uns auf diese Weise, Mensch zu werden, weil wir darin eine Aufgabe sehen und uns dieser stellen. 


stART international e. V.
Emergency aid for children

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Emergency aid for children Unser Ziel ist es, Kinder und Jugendliche so früh wie möglich nach einem traumatischen Ereignis zu erreichen.

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