Baum-Du und Lindenherz

Bildekräfte und Bewusstseinsgesten der Aufrichte – und eine Überraschung beim Baum der Dichter.


Mein Schmollbaum war die Magnolie. In ihrer einladenden Krone fand ich Trost, wenn die Erwachsenenwelt mal wieder gar nichts verstand von dem, was in einem Jungen außer dem großen Einmaleins und den täglichen Hausaufgaben noch so vor sich geht. Da oben, zwei Meter über dem Erdboden, war ein weiter Seelenraum, in dem ich stets willkommen war.

Später, in einer kurzen Lebensphase als halbprofessioneller Baumpfleger, konnte es geschehen, dass ich mir am Fuß eines mächtigen Laubholzriesen klein und verloren vorkam, der Aufgabe kaum gewachsen. Hatte ich mich dann aber bis auf Mannshöhe am Stamm emporgehievt, umfing mich plötzlich eine milde versichernde Kraft. Ab da bis zur Kronenspitze ging jeder Schritt wie von selbst, fand der Fuß blind und furchtlos den Ast, auf dem er stehen konnte. Im Grunde hätte ich den Gurt gar nicht mehr gebraucht, denn der Baum trug mich. Er nahm gern meine Pflege an und beschenkte mich mit einem Kraftgefühl, das in der Tat dem eines Ritters glich: Träger einer maßvoll aggressiven Energie, die durch ihren bestimmten Eingriff dem Lebenden dienen will.

Das Bild der Aufrichte

Der Baum ist und gibt Aufrechte. Ohne sein Vorbild hätten wir Menschen womöglich das Herumkrabbeln und Schnüffeln in der Bodenperspektive einfach endlos weitergetrieben. Hätten nie den Auf-Stand gegen die Horizontale gewagt, um unser Leben auf einen völlig ungewissen, wackeligen Stand zwischen Himmel und Erde zu setzen. Was wäre aus uns geworden, wenn nicht die Bäume uns die Würde der Aufrechte vorgelebt hätten?

Was Riesenfarne und Schachtelhalme nur wedelnd andeuten, wird in den ersten Nadelbäumen vollendetes Wachstumsprinzip. Die Mammutbäume etwa strecken sich ebenso weit in den Himmel, wie sie ihre Wurzeln immer tiefer mit Fels und Erde verbinden, und sie wachsen im Stamm allseitig nach außen, indem sie nach innen stetig neue Schichten von Zellen ablagern, in den feinen inneren Wänden verstärkt durch Holz-Stoff (Lignin). So bilden sie aus dem Zeitprozess des Wachsens organisch ein Reich der Dauer, fest und elastisch zugleich. Der Bauplan des immergrünen Nadelbaums ist in seinem Grundprinzip auch heute nicht anders als zur Zeit der Riesenlibellen und ersten Amphibien. Er war ein Erfolgsmodell und eine Stütze der kontinentalen Landschaften, egal, ob Dinosaurier an ihm vorbeigetrampelt sind oder bald auch Vögel in seinen Zweigen Platz nahmen.

Seelenbäume – Seelenräume

Auch in der Landschaft der Seele gehört der Baum zum Inventar, ja Grundpfeiler eines Welterlebens, das sich, im reflektierenden Denken auf sich selbst zurückgeworfen, doch zugleich auch in sich selbst halten kann.

Bild aus dem Buch: ‹Bäume sind wie Brüder› von Andreas Albert.

Der meditative Blick kann sich einzelnen Baumgestalten zuwenden und entlang der überaus vielgestaltigen Gesten in Krone, Borke, Zweigen und Blättern den unsichtbar formgebenden Bildekräften nachspüren. Da fällt als Erstes der gewaltige Unterschied zwischen Laub- und Nadelgehölzen ins Auge: der Sprung ins Komplex-Seelische, den die Laubbäume mit der Innenraumbildung der Krone vollziehen. In ungezählten Variationen von winkeligen Aufs und Abs, Hins und Hers schieben sich Asttriebe vom Stamm in die Peripherie. Die immer weiter ausgreifenden Bewegungen fügen sich letztlich doch in die unsichtbare Gestaltungskraft der rundlich-ragenden Krone, mit all ihren arttypischen Modifikationen zwischen Ei-, Kugel-, Herzform und Dreieck, bei durchgehend dichtem Laubwerk wie bei der Linde, spärlichen Büschen am harten Holz wie bei der Robinie oder heller Peripherie wie beim Ahorn.

In solcherlei individualisierten Formen ist die vertikale Grundgeste stets modifiziert erhalten geblieben, und bei näherem Hinsehen zeigt sie sich als ätherisches Grundskelett eines doppelten Kraftstroms: Zusammen mit den gewaltigen Mengen von Feuchtigkeit aus dem Erdreich bzw. diese innerlich durchdringend, heben sich Leichtekräfte durch den Stamm nach oben, wie ein mächtiges elementarisches ‹L›, wie ein mühelos verwandelnder Springbrunnen von Lebenskraft.

Birke, Eiche, Weide

Ihm entgegen Richtung Erde – wiederum im Stammbereich – strömt ein machtvoll-lebendiges Licht. Sein Ursprung ist offenbar ‹nicht von dieser Welt›, sondern eine spezifische Mischung von Planetenimpulsen. Hier finden wir die helle Venus, die so viel Licht in ‹ihren› Baum, die Birke schickt, dass selbst noch die Borke glatt und hell überprägt ist – und die sich auf dem Weg nach unten so verausgabt, dass in den flachen und mickrigen, immerzu durstigen Wurzeln fast nichts mehr übrig bleibt an Formkräften.

Die Eiche hingegen: Ein pochendes Ätherherz voller individualisierender, dabei warm einladender Kraft prangt dort oben in der Krone, sich allseitig verschenkend an Vögel und Insekten über die knorrigen Äste und Zweige, an die Erde über die mächtige Pfahlwurzel und an den Menschen, vorausgesetzt, dieser kann sich – Herz zu Herz – für den Kraftstrom öffnen.

Die Weide hebt Wasser aus dem Mineralreich ins Licht und zerstreut es fein in den feinen Blattlanzetten mit silbriger Behaarung auf der Unterseite. Hier versteht man am glitzernden Leben der Undinen und Sylphen in der Peripherie des Blattwerks, wie gerade die Begegnung verschiedener Elemente Lebenskräfte erneuern kann.

Menschennahe Wärmekugeln

Eine ganz eigene Welt bilden die Obstbäume mit ihren menschennahen, individuell geformten Kronen. Es sind Wärmekugeln mit duftenden, farbigen, nektarreichen Blüten und saftigen Früchten. Hier wurden unter pflegenden Menschenhänden, in enger Kooperation mit Baumwesen und Naturgeistern, ganze Seelenwelten neu erschlossen, für das Auge wie für den Geschmackssinn. In Tausenden von Sorten wurde im 19. Jahrhundert ein Höhepunkt der Individualisierung erreicht, indem jeder Landstrich andere Nuancen eines fein abgestimmten Cocktails an Ätherkräften bereitstellen konnte – subtile Nahrung der Ichentwicklung, die in einer konkreten Erdenheimat wurzelt.

Immer noch kann man beim Eintreten in den Kronenraum eines alten Apfelbaumes das mütterlich-nährende Fluidum erleben. Hier ist ein Wesen, welches es gut mit dem Menschen meint und ihm schon seit Jahrtausenden vorbehaltlos Nahrung zur weiteren Entwicklung zu schenken bereit ist.

Das Harmonievermögen der Linde

Schenkender, nährender Großmut, das ist auch das Signum der vielbesungenen Linde, des Lieblings und Inspirators der Romantik, Sammelpunkt der Dorfkultur als Tanz-, Liebes- und Gerichtsbaum. Wie anders ist nun das Schenken der lieblichen Linde als das des saftigen Apfels. Mehr in Luft und Duft, in der Ekstase des Mittsommers, in dem schier unerschöpflichen Nektarstrom und der summenden Wolke von Bienen seine Erfüllung findend. Dabei ist Kraft und Erdergreifung immer zugegen, werden Ströme von Wasser und darin gelösten Mineralien beständig emporgehoben in das dichte Laubwerk mit seinen bis ins letzte Glied fein durchformten Harmoniegestalten. Verwandelt tropft es dann im weiteren Umkreis des Stammes ätherisch herab, gleichsam ein Pflanzenmanna.

Fragt man nach dem Ursprung dieser schenkenden Kraft, so kann man Erstaunliches erleben. Nicht ein klarer Planetenarchetypus steht dahinter wie der seelenraumbildende Mond bei der Kirsche oder beim Ahorn der Jupiter in seiner Gestaltung peripherer Lichtmembranen. Hier wirken die Wandler einmal alle gemeinsam, umgeschmolzen zu einer höheren harmonischen Kraft.

Am meisten treten bei der Linde die sonnennächsten Planeten hervor: Venus in der generös schenkenden Gebärde und der verwandelnde Merkur, sogar äußerlich sichtbar im lebendigen Flechtwerk der Borke, das ätherisch sich durchdringende Auf und Ab der Bildekräfte anzeigend, und in der lebendigen Asymmetrie der herzförmigen Blätter. Dazu kommt – gar nicht im Kontrast hierzu, sondern wie selbstverständlich integriert – der Mars, der den mineralischen und wässrigen Erdenraum zu durchdringen hilft.

Himmelfahrtssphäre

Wie kann die Linde all dies zugleich leisten? Wo hat das Harmonievermögen seinen Ursprung?

Befragt man die komplexe Kraftgestalt der Ätherströme auf eine innere Anwesenheit, so kann man – von der Imagination zu Inspiration aufsteigend – erstaunt eine Himmelsheimat erleben, die in dieser Form einzigartig unter den Bäumen scheint. Ich möchte sie ‹Himmelfahrtssphäre› nennen. Sie ist weit oberhalb des Baumes wahrnehmbar als Urbild des Herzens – als Geste, als Gefühl, als strömende Bewegung mehr denn als geschlossene Form –, mit einem hohen Linden-Baumwesen in der Mitte, in schenkender, hüllender, großzügig ausgreifender Gebärde. Es ist eine subtil sich vermehrende Ansammlung von Leichtekräften, die in dem alle Naturreiche stetig durchdringenden Auferstehungsgeschehen urständet. In diesem Sinne ist sie eine Sphäre der Freiheit, natürlich-göttlich-menschlich zugleich. Sie lässt einerseits eine goldwarme Lichtsubstanz «zu freiem Wollen schenkend» herunterrieseln. Zugleich aber wächst sie aus Menschenkraft, indem Ich mit Ich am Äthergewand des Christus in den Naturreichen webt.

Christus-Stoffwechsel

Mein Versuch, das Wesen der Bäume in direkter Wahrnehmung zu erkunden, hat mich zur Besonderheit der Linde geführt und lässt mich hier, vor dem Baum der Romantik, in doppelter Ehrfurcht zurück: vor dem Baumwesen als solchem und vor der Eigenart der Linde. Das Erste ist die Ehrfurcht vor dem Urbild der Aufrichte, das in artspezifischen Abwandlungen, aber immer durch den Stamm vermittelt, die Gestaltungskräfte und Urbilder aus dem Kosmos zur Erde trägt. Was so im Allgemeinen den Baum auszeichnet, individualisiert sich in zahllosen artspezifischen Planetengesten bzw. deren Kombination. Im Ausnahmefall der Linde wird das Ganze noch gekrönt von einem übergeordneten Zeitprozess, der aus dem Wärmestrom von Bildung, Verwandlung und Schenkung eine besondere Zukunftssubstanz direkt ins Menschenherz ergießt. Es ist wohl dieser ‹Christus-Stoffwechsel›, der seit jeher den Dichtern und Liebenden in den sanften Ätherräumen ‹unter den Linden› vernehmbar war. Das hören die Geister in Ost, West, Nord, Süd … Menschen können es immerhin fühlen.

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