Was geschieht, wenn die Begriffe, die wir gebildet haben, nicht mehr zutreffen? Wenn wir ‹Natur› sagen, aber die Natur nicht angesprochen wird oder sich nicht angesprochen versteht? Der im Oktober 2022 verstorbene Soziologe und Philosoph Bruno Latour hat in einer seiner letzten Schriften die These entwickelt, dass wir auf der Erde noch nicht gelandet sind. Er schlägt eine neue politische Kraft vor, welche die zugespitzte Opposition zwischen Populisten und Progressiven aufbrechen und vereinen vermöchte. Die Schrift erschien 2017 unter dem Titel ‹Où atterrir?› und wurde unter dem Titel ‹Das terrestrische Manifest› auf Deutsch veröffentlicht.
Folgen wir Bruno Latour, leben wir nicht in einer Welt von Objekten, sondern in einer von Kräften. Dies entspricht aber nicht dem dominierenden wissenschaftlichen Paradigma. Er spricht von der Notwendigkeit einer zweiten Revolution, die Galileis wissenschaftliche Revolution einer objektiven, wissenschaftlich beschreibbaren und kontrollierbaren Welt in ein Denken überführt, das die Erde als Lebewesen anerkennt. In der Welt der ‹galileischen Objekte› wird die Erde als ein Labor betrachtet. Durch die Einsicht in physikalische, chemische und biologische Gesetze wird gestapelt und gebaut, wie ein Kind mit Legosteinen seine Welt baut. Diese Welt der Objekte ist das Ergebnis einer Sicht auf die Erde von außen. Die Natur wird vom Universum aus betrachtet, von der Ferne dieses großen Draußen, in der Überzeugung, dass dadurch eine objektive Erfassung ermöglicht wird. Daraus folgt ein Erkenntnisbegriff, der besagt: «Erkennen heißt von außen erkennen. Alles muss von Sirius aus betrachtet werden – einem bloß eingebildeten Sirius, zu dem keine Person je gelangte.»1 Dieser Blick von außen, von einer bloß virtuellen Position scheinbarer Objektivität, habe im Begriff der Natur Verwirrung gestiftet.
In einer etwas zu leichtfüßigen Herleitung zeigt Latour auf die Wandlung der lateinischen ‹natura› wie der griechischen ‹physis› in der Frühen Neuzeit. Natura, die mit Herkommen, Erzeugung, Prozess und Verlauf der Dinge übersetzbar sei, wurde von einem Naturbegriff abgelöst, der ausschließlich eine von außen betrachtete Bewegung verfolgt. Der neue Begriff der Natur hält eine Verbindung von Wissenschaft und Natur fest, die die Innenseite der Natur gänzlich aus dem Blick verliert (S. 82). Die Verwirrung liegt also in dem mangelhaften Begriff der Natur; oder noch schärfer: sie liegt in der Ideologie der ‹Natur›, also nicht notwendigerweise in der Wissenschaft an sich, sondern in einer bestimmten Verbindung von Wissenschaft und Natur: «Was uns nottut: auf die gesamte Macht der Wissenschaften bauen, aber ohne die Ideologie der ‹Natur›, die mit ihr verknüpft war. Wir müssen materialistisch und rational sein, diese Qualitäten aber auf das richtige Terrain anwenden.» (S. 78)
Der ‹Neue Materialismus›
Latours Anliegen ist nun, die selbstverständlich gewordene Verzahnung von Natur und Wissenschaft, wie sie sich im obigen Sinne seit der Frühen Neuzeit entwickelt hat, aufzulösen. Es sei die Sicht aus der Ferne, die uns hindert, die Natur zu erkennen. Dieser Fernblick ist der ideologische Kern, mit dem er brechen möchte, indem er den Blick umkehrt, um stattdessen beim ganz Nahen zu beginnen. Seine Aufforderung, «materialistisch» zu sein, kann als eine Hinwendung zur Erde verstanden werden. Er fordert dazu auf, dass wir uns direkt mit der Erde in ihrer konkreten Handlungsmacht ohne die Abstraktion der Ferne und ohne die Ideologie der einzig zulässigen Bewegung nach dem Modell des fallenden Körpers auseinandersetzen. Das heißt, dass wir das mechanistische Weltbild, das alle Bewegungen, allen voran die von innen belebte Natur, unter Verdacht stellte, entmachten. (S. 83)
Bruno Latour gehört zum Umfeld einer interdisziplinären Denkrichtung, die sich in den letzten gut 20 Jahren entwickelt hat. Diese unter dem Stichwort ‹Neuer Materialismus› zusammengefasste heterogene Strömung vertritt neben dem grundsätzlichen Anliegen, die Zentralstellung des Menschen zu überwinden (Kritik am Anthropozentrismus), die Überzeugung, dass die Materie nicht passiv, stumm und unveränderlich, sondern vielmehr als aktive Wirkmacht aufzufassen ist. Es gilt, sich von zwei Vorstellungen loszulösen: erstens, dass nur der Mensch als denkendes Subjekt und Akteur gegenüber einer stummen Natur steht, und zweitens, dass wir die Welt in unserem Nachdenken bloß repräsentieren, also das wahrgenommene Ding in Form eines schwachen Abbildes in unserem Bewusstsein verdoppeln.
Beides führe in die Irre oder, um mit Latour zu sprechen, weg von der Erde. Karen Barad, eine prominente Vertreterin des Neuen Materialismus, stellt ein performatives Verständnis an die Stelle der Repräsentation und der Passivität: «Im Unterschied zum Repräsentationalismus, der uns über oder außerhalb der Welt ansiedelt, auf die wir angeblich nur reflektieren, hebt ein performativer Ansatz das Verständnis des Denkens, Beobachtens und der Theoriebildung als Praktiken der Auseinandersetzung mit der Welt, in der wir existieren, und als Teil dieser Welt hervor.»2
Barads Ansatz ist verwandt mit Latours, auch wenn ihre Erklärung, weshalb wir uns über oder außerhalb der Welt befinden, auf einer anderen Kritik beruht. Sie stellt die Macht der Sprache infrage, die Tatsache, dass wir die Grammatik zu ernst nehmen und davon ausgehen, dass ihre Kategorien die zugrunde liegende Struktur der Welt widerspiegeln. Praktiken, Tätigkeiten und Handlungen werden wichtiger als die Reflexion und die kategoriale Einordnung der Phänomene, Beziehungen wichtiger als Dinge: «Beziehungen hängen nicht von ihren Relata ab, sondern umgekehrt.»3 Für Latour haben wir uns von der Erde entfernt, weil wir im Zuge der Moderne begannen, die Natur vom Universum aus zu betrachten, statt sie von der Erde aus anzuschauen, weil wir jene Natur vertrieben haben, die von innen alle Phänomene der Entstehung erfasst. (S. 83) Der Idealismus sitzt tief in uns und prägt unser Leben. Wir benutzen ein GPS, um uns präzise zu lokalisieren, und weil wir Idealisten sind, merken wir dabei nicht, dass wir ein Instrument bedienen, das alles aus der Ferne bestimmt und den Ort verfehlt. Den Ort im Sinne von Latour vermag das GPS gerade nicht zu bestimmen. Das Ortungsgerät glättet alle Ungereimtheiten und erweckt den Anschein einer einzigen großen Einheit.4 Es fehlt die Feuchtigkeit, die Beziehung, die Leibhaftigkeit mit allen ihren Kontingenzen und Fehlern.
Wir sind nie modern gewesen
Latour schließt sich James Lovelocks und Lynn Margulis’ ‹Gaiahypothese› aus den 1970er-Jahren an. Sie besagt, dass die Erde ein Lebewesen ist, von dem wir ein integraler Teil sind. Der Planet Erde ist nicht nur ein Körper unter anderen, sondern vollkommen einzigartig. Statt eine Ansammlung von galileischen Objekten, sei die Erde eine Welt aus Agentien bzw. Akteuren, mit denen der Mensch im Austausch steht. (S. 89) Paradoxerweise soll die Gaiahypothese durch den sogenannten ‹Overview Effect› angeregt worden sein5, ein Gefühl der Ehrfurcht und Verbundenheit mit dem Leben auf der Erde, das Raumfahrer erleben, wenn sie zum ersten Mal den Planeten Erde aus dem Weltall sehen. Neil Armstrong prägte bei der Raumfahrt 1968 den Ausdruck ‹Blue Marble›. Zum ersten Mal sah die Menschheit den Globus als einen ganzheitlichen, verletzbaren und fragilen Organismus. Dieser wirkliche Blick aus der Ferne soll jedoch nicht verwechselt werden mit dem von Latour beschriebenen konstruierten Blick vom Sirius. Es gehört zu den großen Momenten des letzten Jahrhunderts, dass die Menschheit eine Mondlandung gebraucht hat, um einzusehen, dass das viel Aufregendere die Erde selbst ist – auf der zu landen allerdings nicht so einfach ist.
Latours Kritik am Naturbegriff reiht sich ein in seine wiederholte Kritik an der Moderne. ‹Wir sind nie modern gewesen›, heißt eines von seinen Hauptwerken. Der Ausgangspunkt für das vorliegende Buch ist jedoch ein politischer, nämlich die Wahl von Donald Trump am 8. November 2016. Mit dieser Präsidentschaftswahl verbindet Latour drei Phänomene, die zwar schon zu Beginn der 1990er-Jahre einsetzten, aber in jener Zeit in krasser Weise zum Ausdruck kamen. Erstens die sogenannte ‹Deregulierung› des Marktes, zweitens eine damit einsetzende immer «schwindelerregendere Explosion der Ungleichheiten» und drittens die systematische Leugnung der Klimaveränderung. Hinter diesen drei Phänomenen steht die Globalisierung mit ihrer erträumten Freiheit und Offenheit für das Fremde, mit der Auflösung der Grenzen, mit der Steigerung der kulturellen Diversität und unbehindertem Austausch. Die Hoffnung der Globalisierer hat sich zerschlagen – alles hat sich ins Gegenteil verkehrt. Was ist passiert? Wieso spüren wir heute so eminent, «dass uns der Boden unter den Füßen weggezogen wurde»? (S. 14)
Die Globalisierung, die eigentlich bedeuten sollte, dass wir unsere Aufmerksamkeit weiten, unsere Gesichtspunkte vermehren, dass wir eine größere Zahl von Wesen, Kulturen, Organismen und Menschen in Betracht ziehen, ist in der Tat nicht in Erfüllung gegangen. Statt die vielen Sichten, hat sich eine einzige Sicht gegenüber allen durchgesetzt; eine Sicht, «die von Grund auf provinziell ist, von einer kleinen Gruppe von Personen vorgeschlagen wurde, eine winzige Zahl von Interessen repräsentiert, auf wenige Messinstrumente, Standards und Formulare begrenzt ist» (S. 21). Aus der Weite wurde eine unangenehme Enge. Dass die rücksichtslose Vereinfachung und ins Monotone führende Globalisierung einen reaktionären Rückzug auf das Lokale ausgelöst hat, ist nicht verwunderlich.
Das Schlagwort der Globalisierer sei ‹Modernisierung›. Dagegen stellen die Verfechtenden lokaler Traditionen die Zugehörigkeit zu einem Land, einem Volk, einem bestimmten Boden mit je spezifischen Lebensweisen und Metiers, mit bestimmten Handwerken und einem Kulturkanon, die es zu pflegen und bewahren gilt. Wie die Globalisierung, hat auch das Lokale eine Kehrseite, nämlich die Angst vor dem Fremden und Andersartigen. Politisch drückt sich dies im ‹Populismus› aus. Der Populismus sucht Schutz, Tradition, Identität und Gewissheit innerhalb nationaler oder ethnischer Grenzen; er findet sie aber nicht im alten Lokalen – denn auch der abgelegenste Landstrich ist inzwischen von der Modernisierungswelle erfasst worden. Und weil das Lokale nicht modernisierbar ist, habe das von den Populisten neu gestylte Lokale keine Ähnlichkeit mehr mit dem alten und es sei nicht bewohnbarer als die Welt der missratenen Globalisierung. (S. 40) Die Welt sei entweder modern, aber unter ihren Füßen sei dann keine Welt mehr, oder sie sei eine wirkliche, aber nicht modernisierbare Welt. «Ein bestimmter historischer Bogen findet sein Ende.» (S. 42)
Die Erde als neuer Akteur
Worin liegt nun das Neue, das uns befähigen soll, auf der Erde zu landen? In einem neuen Verhältnis zur Erde. Dieses neue Verhältnis will Latour durch die Einführung eines neuen Begriffs sichtbar machen: das ‹Terrestrische›. Er soll an die Stelle der beiden Fluchtbewegungen, der Globalisierung (die Flucht nach vorne) einerseits und des Lokalen (die Flucht zurück) andererseits, treten. Das Terrestrische versteht Latour als neuen Politikakteur, das heißt als Wirkmacht, die an unserem öffentlichen Leben teilnehmen soll, im Unterschied zum Begriff ‹Geopolitik›, in dem die Erde lediglich den Rahmen für politisches Handeln darstellt. (S. 51) Das ist der Grund, weshalb Latour den Begriff Anthropozän als Bezeichnung für unser Zeitalter unglücklich findet. Der Mensch ist für Latour gerade nicht Hauptfigur und der Erdball ist mit seiner Natur und Atmosphäre nicht bloß Dekor, Kulisse und Hinterbühne. (S. 55)
Die neue Politik müsse also dialogisch und achtsam mit der Erde umgehen, und sie müsse mit den Anhängerinnen der Globalisierung einerseits und jenen, die eine Zugehörigkeit zu einem spezifischen Boden vertreten, andererseits verhandeln. Es müsste gelingen, die Zugehörigkeit zu einem Boden zu legitimieren, ohne dass diese mit den Forderungen des Lokalen – ethnische Homogenität, Musealisierung, Historizismus, Nostalgie und falsche Authentizität – verwechselt wird. Eine solche reaktionäre Haltung stellt eine abschließende Ausdifferenzierung dar, also einen nicht mehr entwickelbaren Endpunkt, während das Terrestrische vielmehr durch Öffnung charakterisiert ist. Gegenüber den Anhängern der Globalisierung kann gezeigt werden, dass ihr Scheitern, wirklich Zugang zum Globus und zur Welt zu gewinnen, durch das Terrestrische gelöst werden kann. Das Terrestrische ist zwar erdverbunden, aber zugleich welthaft in dem Sinne, dass es sich mit keiner Grenze deckt und über alle Identitäten hinausweist. (S. 66)
Es ist also am Ende nicht wesentlich, ob jemand für oder gegen die Globalisierung oder das Lokale ist, «sondern ob es ihm gelingt, die größtmögliche Zahl an Alternativen der Zugehörigkeit zur Welt zu erfassen, daran festzuhalten und sie zu lieben». (S. 24)
Humus werden
Bruno Latour geht es um die grenzenlose und maximal vielfältige Zugehörigkeit zur Erde, darum, dass wir die Aufmerksamkeit von der ‹Natur› auf das Terrestrische zurücklenken mit dem Ziel, die Verbindungslosigkeit zur Erde zu beenden. (S. 96) Er führt den alten Naturbegriff gewissermaßen durch die Hintertür wieder ein: die Natur als eine Erzeugerin in konstanter Wandlung. Daraus entspringt der Vorschlag, «nicht mehr von Menschen, Humanwesen, zu sprechen, sondern von Terrestrischen, von Erdverbundenen (‹earthbound›), um damit den ‹Humus›, letztlich den ‹Kompost› herauszustreichen, der in der Etymologie von ‹human› steckt.» (S. 101) Die Verbindungslosigkeit zu beenden heißt, die Erde nicht weiterhin auszurauben, weil wir sowieso bald nach Mars migrieren können, sondern uns stärker mit ihr zu verbinden, indem wir uns selbst als Humus verstehen. Wenn wir diesen Gedanken ernst nehmen und den Menschen als die Substanz des Bodens begreifen wollen, sind wir dann nicht wieder an dem Punkt angekommen, wo Latours Kritik eingesetzt hat, am Anthropozentrismus? Die Frage aber, worin die Substanz des Menschen besteht, stellt sich aus der Sichtachse des Erdbodens anders als aus der Sicht von Sirius. Latour geht es vor allem um die Verschiebung der Perspektive und sie scheint mir weniger eine theoretische zu sein als eine Handlungsperspektive.
Gegen Ende des Buches, nach der Analyse der antagonistischen und gewissermaßen ausweglosen politischen Lage und der Einführung eines neuen Anziehungspols – des Terrestrischen – bringt Latour noch einen Vorschlag für einen ersten Schritt, namens «zunächst beschreiben». (S. 109) Nach der entlarvenden Analyse der gegenwärtigen politischen Weltordnung fällt der Vorschlag enttäuschend aus. Warum eigentlich? Ich denke, weil der Kontrast zwischen der massiven Gewalt der missratenen Regierungen der Welt und dem Vorschlag, bloß beschreibend vorzugehen, zu groß ist, als ob ein gleichmächtiges Programm als Gegengewicht erforderlich erscheint. Vielleicht liegt aber die Lösung gerade darin, in einer Übung in Bescheidenheit: «Wie können wir politisch handeln, wenn wir vorher nicht Lebewesen für Lebewesen, Kopf für Kopf, Zentimeter für Zentimeter inventarisiert und vermessen haben, woraus sich das Terrestrische für uns zusammensetzt? Wir könnten dann zwar kühne Thesen propagieren und für respektable Werte eintreten, aber unsere politischen Affekte liefen ins Leere.» (S. 109)
Der neue Begriff der Natur von Bruno Latour schließt an dem vormodernen Verständnis einer prozesshaften und von innen bewegten Natur an. Es ist aber auch offensichtlich geworden, dass Latour diesen Begriff als einen politischen betrachtet. Die Natur ist nicht mehr selbstverständlich da als Grundlage für die Politik. Vielmehr braucht es einen neuen Begriff der Politik, der sich am neuen Begriff der Natur orientiert. Natur und Politik sind in ein symbiotisches Verhältnis getreten.
Titelbild Matt Seymour
Footnotes
- Bruno Latour, Das terrestrische Manifest. Berlin 2019, S. 81. Die Seitenangaben im Fließtext in Klammern beziehen sich auf diesen Text.
- Karen Barad, Agentieller Realismus. Über die Bedeutung materiell-diskursiver Praktiken. Berlin 2012, S. 9.
- Ebd. S. 14.
- Bruno Latour, Peter Weibel (Hg.), Critical Zones. Die Wissenschaft und Politik des Landens auf der Erde. ZKM Karlsruhe, 2021, S. 18.
- Hans-Dieter Mutschler, Naturphilosophie. Stuttgart 2002, S. 173