Anthroposophie in der DDR

Wie haben Anthroposophinnen und Anthroposophen in der DDR gelebt? Konnten sie überhaupt arbeiten? Aus Sicherheitsgründen wurde fast nichts aufgezeichnet. Dankmar Bosse berichtet von dieser Zeit und dokumentiert nachträglich, damit nicht alles in Vergessenheit gerät.


«Unser Arbeitsgebiet war die innere Arbeit»1, sagt der Autor dieses interessanten Buches. Da die Anthroposophie weder erlaubt noch verboten war, bewegte sie sich in einer Grauzone. 1990 erst wurde die Anthroposophische Gesellschaft auch im Osten Deutschlands begründet. Bis dahin bot oft die Christengemeinschaft, in Absprache mit den Pfarrern, ein heimliches Dach für die Arbeit.

Dankbar Bosse betrachtet die anthroposophische Arbeit in zwölf Städten der DDR. In Weimar beispielsweise führte der ab 1951 hier tätige Pfarrer der Christengemeinschaft Jo Voss junge Menschen in die Anthroposophie ein und leitete sogar Arbeitskreise für Studierende. Ansonsten gab es in der Stadt mehrere kleine Gruppen. Ältere Personen trafen sich bis 1975 bei Walter und Irmgard Bosse. Hier hielten ‹westliche› Gäste öfter Vorträge, und sogar Klassenstunden wurden gelesen. Ab 1975 begann Ingrid Hüther in ihrem Privathaus mit einer waldorfpädagogischen Gruppe, um eine künftige Waldorfschule vorzubereiten. Unvorstellbar zu diesem Zeitpunkt! Auch Vorträge und Klassenstunden sowie künstlerische Kurse für Erwachsene und Kinder fanden statt. Nach der Wende wurde 1990 in Weimar die erste Waldorfschule Thüringens eröffnet!

Rudolf Steiners ehemalige Mitarbeiterin Anna Samweber, die später in Ostberlin wohnte, leitete dort einen Arbeitskreis. Einige kleine Gruppen arbeiteten hier unabhängig voneinander. Ab 1972 kam der Arbeitskreis von Dankmar und Brigitte Bosse hinzu. Nach der Wende entstand ein zweiter Kreis, der bis 2021 arbeiten konnte.

Die Christengemeinschaft begann in Westberlin noch 1945 mit ihrer Arbeit. Ab 1949 wurden auch im Osten Berlins einfache Räume gefunden. Später wurde der Gemeinde der erste Stock der Schwedter Straße 263 zur beengten Heimat, doch der Saal fasste bis zu 100 Personen. Hier wirkten die Priester Karl-Hans Heinrich und Klaus Brüggemann sowie die Priesterin Gertrud Osterwald. Nach der Wende musste die Gemeinde die Räume aufgeben und konnte schließlich in der Schwedter Straße 4 eine neue Kirche erbauen. Neben der Schilderung der schwierigen Wohnverhältnisse in der DDR beschreibt Bosse seine eigene Entwicklung, die ihn früh auf die Geologie hinwies. Durch besondere Umstände hätte er nach dem 13. August 1961 die Chance gehabt, im Westen zu bleiben. Doch er entschied sich für die DDR, weil er hier sein künftiges Arbeitsfeld ahnte, studierte Geologie und war bis 1989 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralen Geologischen Institut in Berlin. In der Christengemeinschaft wurde er für die Anthroposophie wirksam. Er hatte Kontakt mit Bodo Hamprecht in Westberlin, der oft Vorträge vermittelte. Schwierig war es, Bücher von Rudolf Steiner zu bekommen. Freunde bemühten sich, aus Westberlin Bücher mitzubringen. Bosse besaß ein Reprogerät und fotografierte heimlich Bücher ab.

Das Gemeindeleben in Ostberlin war sehr rege, besonders in den 1980er-Jahren durch die ‹Werkstatt für sakrale Kunst› – ein dehnbarer Begriff! Als ‹Novaliswerk› beinhaltete sie sogar Seminare zur Einführung in die Anthroposophie. Die drei Zusatzberichte betreffen die anthroposophische Arbeit in den Ländern des Ostblocks: mit aufregenden illegalen Reisen innerhalb der Sowjetunion und einem Gedenken an das beispiellose Leben des Priesters Josef Adamec in Prag. Anhand des Wirkens von Irmgard Bosse wird die Situation der Anthroposophischen Medizin in der DDR dargelegt. Der dritte Bericht schildert die Öffnung der Berliner Mauer. Bosse analysiert spannend die Begebenheiten am 9. November 1989. Der abschließende Bericht von Tobias P. fängt die Stimmung der Nacht ein.

Das vorliegende Buch ist eine sorgfältige und gut lesbare Darstellung, bei der die Erregung dieser Umbruchszeit wieder spürbar wird. Eine große Menge an Fakten und Erlebnissen ist hier auf wenigen Seiten gebändigt. Dazu kommt das angenehme Layout. Der Textfluss ist trotz der vielen langen Zitate leicht zu verfolgen, nur gelegentlich muss man den Zusammenhang nachblättern. Das Buch soll auch eine Dokumentation für zukünftige Leserinnen und Leser sein, hebt Bosse hervor. Die Stasi ahndete verbotene politische Verbindungen. Der Ideengehalt der Anthroposophie interessierte sie nicht. Für diesen jedoch bestand damals «eine ideale innere Disposition». Und speziell zur ‹Werkstatt für sakrale Kunst›: Sie habe «bei vielen hunderten Menschen […] das Schicksal entscheidend zum Geiste hin verändert». Mit der Wiedervereinigung wurde statt des ideologischen der finanzielle Maßstab bestimmend. Dankmar Bosses Fazit: «Bereiten wir uns nun gemeinsam auf die nächste Wende vor! Möge dann weder der Genosse noch der Kunde, sondern der Mensch König werden, der aus freier Initiative handelt!»


Buch Dankmar Bosse: Anthroposophie im Osten Deutschlands zu DDR-Zeiten. Edition Immanente, Berlin 2022.

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Footnotes

  1. Alle Zitate aus dem Buch.

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