Zwischen Menschen und Engeln

Ein Lesebuch besonderer Art legt der Dozent für Waldorfpädagogik Frank Linde vor. Man könnte es ebenso gut als ‹Bilderbuch› bezeichnen, denn es erzählt in zwölf groß angelegten Panoramen von den Beziehungen der Engelwelt zum Menschen und des Menschen zur Engelwelt.


Das Buch richtet sich an alle an der Anthroposophie Interessierten, besonders aber an Waldorfpädagoginnen und -pädagogen, denn sie bereiten die heranwachsenden Generationen auf das Leben in der modernen Welt vor, das ohne ein Bewusstsein der spirituellen Beziehungen zwischen Mensch und Kosmos nicht zu bewältigen sein wird. Natürlich ist die Rede von Gedankenbildern, denn das anspruchsvolle Buch schmückt keine einzige Illustration, sieht man vom Coverbild ab, das eine Miniatur des makrokosmischen Menschen wiedergibt, wie er Hildegard von Bingen im 12. Jahrhundert erschien.

Der Autor schreibt über die Bedeutung des von ihm komponierten Bilderbogens: «Jedes der zwölf Bilder entfaltet ein ganzes Panorama vieler einzelner Bilder, die wie bei der Disputa von Raffael nicht nur einzelne Gestalten zeigen, sondern in ein größeres Gemälde eingebettet sind. Es sind Bilder, weil sie nicht als abstrakte Wissensinhalte gemeint sind, sondern aus der bildhaften Sprache des Geistesforschers stammen, der sie aus unmittelbarer geistiger Anschauung schöpfte. Nicht auf die [abstrakte] Kenntnis der Darstellungen des Geistigen kommt es an, sondern auf das lebendige Erleben an ihnen.» Entstanden ist das Buch zwischen Ostern 2019 und Johanni 2021, wesentliche Kapitel wurden in der Zeit um Weihnachten 2020 verfasst, während des Höhepunkts des ersten Lockdown-Jahres. Es war eine Zeit, die «nach einer Tiefen-Besinnung auf die wirklich existenziellen Fragen des Lebens» rief, eine Besinnung, die nicht so sehr äußere Bedrohungen betrifft, als den Fortbestand der Seele, die laut Linde in der Gefahr steht, den Geist endgültig zu verlieren.

Linde hat die schon in früheren Publikationen praktizierte Methode der thematisch geordneten Zusammenstellung einschlägiger ‹Erzählungen› Rudolf Steiners, wie sein neues Buch zeigt, zu einer Kunstform weiterentwickelt. Tatsächlich verweben sich die hier aufgereihten Bilder zu einer großen Tapisserie, die den lesenden Betrachter oder die Betrachterin beeindruckt und erhebt. Beeindruckend ist die Fülle an Einblicken, die Steiner in den intimen Lebenszusammenhang des Menschen mit der Engelwelt gewährte, erhebend ihre Perspektive: Wer sich auf die hier wiedergegebenen Ausführungen einlässt, wird seinen Blick nach oben richten müssen, dorthin, wo im Dämmerlicht des Alltagsbewusstseins der Glanz der himmlischen Welt aufleuchtet, der die Seele begeistert und beflügelt. Man könnte auch sagen, er hat den Blick nach innen zu richten, denn nach allem, was wir über die höheren Wesen erfahren, breiten sie sich nicht nur im Kosmos aus, dessen Leere nur scheinbar ist, sondern sind auch in unserem Inneren präsent, in den Tiefenschichten unserer Seele, ja in unserem Fleisch und unseren Knochen. Auf rund 400 Seiten werden so Quellentexte der Anthroposophie präsentiert, die sich zum eigenen Studium ebenso eignen wie zur Gesprächsarbeit in Konferenzen oder Gemeinschaften, die nach spiritueller Vertiefung streben. Dabei beschränkt sich die Auswahl im Wesentlichen auf die dem Menschen am nächsten stehende Triarchie der Engel, Erzengel und Zeitgeister, auch wenn ihre höheren Himmelsgeschwister nicht unerwähnt bleiben. Eine kurze Würdigung kann natürlich nur einen Hinweis auf das komplexe Gewebe geben, das sich zwischen den Buchdeckeln entfaltet, außerdem ist das Gewebe nach allen Seiten offen, es reicht, um im Bild zu bleiben, weit über die bedruckten Seiten hinaus, in vielerlei Hinsicht.

In neuem Licht

Lesenden, die mit dem Werk Rudolf Steiners ein wenig vertraut sind, werden die meisten der hier zusammengestellten Grundlagentexte bereits bekannt sein. Sie erscheinen aber aufgrund des Zusammenhangs, in die der Autor sie stellt, mitunter in einem neuen Licht. Darin zeigt sich die Webkunst des Meisters, dass er seine Fäden aus einer bewundernswerten Übersicht ineinander verflicht und das Gesamtbild nach seinen Gesichtspunkten frei komponiert. So ergibt sich selbst für Kenner mancher überraschende Einblick. Mir beispielsweise sprang aus vielen der abgedruckten Ausführungen die ungeheure Bedeutung entgegen, die Steiner der menschlichen Freiheit zumaß. Sie ist gleichsam Alpha und Omega all seiner ‹Erzählungen›, sie ist der geheime Sinn seiner Weltinterpretation und das Schibboleth der Gegenwart – der Jahrzehnte, in denen wir leben, die wahrlich als apokalyptisch bezeichnet werden können. Nur ein kleines Beispiel: In einem Aufsatz aus dem Jahr 1888 über die ‹geistige Signatur der Gegenwart› schrieb Steiner, die Gegenwart habe alles Vertrauen in das Denken verloren, mit fatalen Konsequenzen für die Ethik: «Der rote Faden, der sich durch das Denken aller Geister der klassischen Epoche unserer Wissenschaft hindurchzieht» – im Gegensatz zum ausklingenden 19. Jahrhundert – «ist die Anerkennung des freien Willens als der höchsten Macht des menschlichen Geistes. Diese Anerkennung ist das, was, recht erfasst, uns den Menschen allein in seiner Würde erscheinen lässt […]. Nicht Geboten, sondern der eigenen Einsicht gehorchen, keine Macht der Welt anerkennen, die uns vorzuschreiben hätte, was sittlich ist, das ist die Freiheit in ihrer wahren Gestalt. Diese Auffassung macht uns zu Selbst-Herren unseres Schicksals.»

Darin zeigt sich die Webkunst des Meisters, dass er seine Fäden aus einer bewundernswerten Übersicht ineinander verflicht und das Gesamtbild frei komponiert.

Zukunftssaaten

Wer nun zu glauben geneigt ist, diese Freiheit werde durch den Einbezug der Engelwelt obsolet oder relativiert, sieht sich durch den späteren Steiner eines Besseren belehrt. Im Kontext der Bewegung für soziale Dreigliederung nach dem Ersten Weltkrieg erscheint das freie Geistesleben vielmehr als die gesellschaftliche Ausformung dessen, wonach die Engel verlangen: «Die Menschen werden immer mehr und mehr darauf angewiesen sein, ein freies Geistesleben zu haben. Warum? Weil wir […] einer sinnlich-übersinnlichen Einrichtung der Welt entgegengehen, in der [die Angeloi] […] in eine viel innigere Gemeinschaft mit den Menschen treten […].» Die Menschen können in einem freien Geistesleben lernen, die «Eingebungen» – wie Steiner sich ausdrückt – der Engel wahrzunehmen. «Dadurch wird das Geistesleben […] zu einem solchen, das durch die Gedankenfreiheit aufnehmen wird […], was als Einflüsse einer übersinnlichen Welt herunterkommt.» Das befreite Geistesleben bereitet die Menschheit wiederum darauf vor, die Inspirationen der Erzengel zu vernehmen, die die innere Substanz der Zukunftsstaaten begründen, die das freie Geistesleben auf der einen und das Wirtschaftsleben auf der anderen Seite aus sich herausstellen und somit «wirkliche, auf sich gestellte Rechtsstaaten» werden können. Im «irdischen Rechtsleben» müsse, so Steiner, «das Walten der Erzengel gefühlt» werden. Den Zeitgeistern wiederum würde dadurch ermöglicht, das Wirtschaftsleben (durch den Menschen) zu verwalten. Die Freiheit des Denkens, die Freiheit der Wissenschaft, ist also die Voraussetzung für die menschengemäße Gestaltung der Gesellschaft. Die Notwendigkeit eines freien Geisteslebens wird aber noch von einer anderen Seite begründet: Sie bildet nämlich das einzige Bollwerk gegen Ahriman, dessen Inkarnation bekanntlich nach dem Anbruch des 3. Jahrtausends bevorsteht. Verfiele die Menschheit seinen technokratischen Verlockungen, endete die Zivilisation in der vollständigen Versklavung der Massen. Aber: «Die ahrimanische Macht wird das freie Geistesleben wie eine Art Finsternis empfinden. Und das Interesse der Menschen an diesem freien Geistesleben wird diese ahrimanische Macht empfinden wie ein sie brennendes Feuer […]. Daher obliegt es geradezu dem Menschen, um die richtige Stellung, das richtige Verhältnis zur ahrimanischen Inkarnation in der nächsten Zukunft zu finden, dieses freie Geistesleben zu begründen.» Wer sich für die Freiheit des Geistes, des Urteils, des Sprechens auf Erden einsetzt, der wird zum Verbündeten des führenden Zeitgeistes, des Erzengels Michael. Denn Michael ist der «geistige Held der Freiheit». Er ist es auch insofern, als er nichts so sehr respektiert als eben die Freiheit des Menschen, die er durch seine Zurückhaltung ermöglicht. «Der Mensch kann, wenn er will, Geisteswissenschaft haben, das heißt, Michael dringt wirklich aus den geistigen Reichen bis in unser Erdenreich herein, doch drängt er sich uns nicht auf, denn heute muss alles aus der Freiheit des Menschen entspringen», so Steiner. Im Gegensatz dazu der Drache (Ahriman): «Der Drache drängt sich vor, er fordert die höchste Autorität. Es hat niemals in der Welt eine so mächtig auftretende Autorität gegeben wie diejenige, die heute von der Wissenschaft ausgeübt wird […]. Überall springt einem der Drache entgegen.» Wenn das manchem Lesenden dieser Zeilen bekannt vorkommt, dürfte das kein Zufall sein.

Es ist hier nicht der Ort, um auf die kosmische Vorgeschichte der Menschenfreiheit, auf die Bedeutung des Christus-Ereignisses für sie oder den Sturz der Geister der Finsternis näher einzugehen, die in den von Linde zusammengestellten Grundlagentexten beleuchtet werden. Wer mehr darüber erfahren will, der sei auf Lindes anthroposophischen Bilderteppich verwiesen, der regelmäßig dazu einlädt, den größeren Kontext in den Quellen nachzuschlagen. Die Weihnachtszeit bietet sich an, ihn zur Hand zu nehmen.


Buch Frank Linde Engelwirken im Menschenleben. Anthroposophische Betrachtungen in 12 Bildern. Herausgeber: Ernst-Michael-Kranich-Stiftung/Vereinigung der Waldorfkindergärten. Edition Kunstschrift im Residenz-Verlag 2021. Hardcover, 427 S., 38 Euro.

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