Nana Woo ist Sozialeurythmistin und Prozessbegleiterin für innere Entwicklung. Sie stammt aus Südkorea und arbeitet heute in Sekem in Ägypten. Charles Cross sprach mit ihr über ihren Weg und das Vertrauen, das sich im Gehen gebildet hat.
Nana, erzähl uns über dich und deine Arbeit in der Welt.
Der rote Faden meiner Arbeit in Sekem ist die menschliche Entwicklung. Es geht darum, einen Raum zu schaffen, in dem Menschen ihr Potenzial entfalten können. Angefangen habe ich als Sozialeurythmistin für Bauern, Bäuerinnen und Mitarbeitende und als Dozentin für Bewegungskunst an der Universität Heliopolis. Später war ich an der Umgestaltung des Bildungsangebots für 1300 Mitarbeitende beteiligt, das den Namen ‹Wirtschaft der Liebe› trägt. Außerdem bin ich Prozessbegleiterin des Programms für junge und weibliche Führungskräfte. Nachdem ich mit Menschen unterschiedlicher Herkunft gearbeitet hatte, entschied ich mich für ein Studium der Heileurythmie und der Biografieberatung zur Unterstützung der psychischen und physischen Gesundheit von Menschen. Deshalb sitze ich jetzt meistens mit Menschen zusammen, die eine ganz eigene Geschichte mitbringen und biete einen Raum der ‹geweihten› Gastfreundschaft.1
Wie hast du den Weg zur Anthroposophie gefunden?
Ich müsste lange erzählen, um das zu beantworten. Ich bin in Korea aufgewachsen und habe dort gelebt, bis ich 23 war. Der Großteil meiner Erinnerungen aus Korea ist ein wenig dunkel und deprimierend. Ich war zu Hause einem gewalttätigen Umfeld ausgesetzt – einem starken Patriarchat. Ich erlebte eine Hierarchie von oben nach unten zwischen Lehrenden und Schülern und auch zwischen älteren und jüngeren Schülerinnen mit Mobbing und Gewalt. Und ich habe unter dem allgemeinen Bildungssystem gelitten. Als ich in der Sekundarschule war, hatten wir zum Beispiel die ‹Null-Stunde› – nicht die erste Stunde –, die um sieben Uhr morgens begann. Wir beendeten die Schule um elf Uhr nachts und lernten weiter in einer privaten Akademie bis ein oder zwei Uhr morgens! Ich dachte: Da stimmt was nicht!, aber alle sagten, das sei normal und das sei das System, dem ich zu folgen hätte. Ich wollte aber einen weniger üblichen Weg einschlagen, nämlich Kunst studieren. Schon bald nach meinem Eintritt in die Universität war ich von der ähnlichen Lernstruktur sehr enttäuscht. Zu einem brennenden Thema wurden mir die Fragen: Kann ich glücklich und entspannt sein? Können wir eine andere Gesellschaft schaffen, in der sich Menschen zufrieden und harmonisch fühlen?
Daraufhin entschied ich mich, Korea 15 Jahre lang zu verlassen, um verschiedene Gemeinschaften in der Welt zu erkunden und zu lernen, wie man eine gesunde Gemeinschaft aufbaut. Viele Leute haben mich gefragt, warum ich mich für 15 Jahre entschieden habe. Ich wollte mir einfach genügend Zeit nehmen, um den ständigen Druck des Lebens in meiner Kindheit zu kompensieren. Also verließ ich Korea, als ich 23 Jahre alt war. Die erste Gemeinde, in der ich landete, war Harduf in Israel. Damals wusste ich noch nichts über Waldorfpädagogik, ökologischen Landbau oder jegliche Art von Spiritualität. Ich sah Menschen, die die meiste Zeit lächelten, entspannt waren, barfuß gingen, und Kinder, die Karotten aßen, die sie direkt vom Boden pflückten. Ich war überrascht von der Stimmung in der Gemeinschaft. Ich spürte die Harmonie, von der ich träumte, und die Menschen sahen mir in die Augen! Es gab Schulen, Landwirtschaft, eine Initiative für Menschen mit Lernbehinderungen und ein Rehabilitationszentrum, Waisenhäuser und Erwachsenenbildungsprogramme. Alles befand sich in dieser Gemeinschaft. Sie hatten ein grundlegendes Studienjahr der Anthroposophie, das auf Hebräisch stattfand. Sie sagten mir: «Es ist Karma, dass du hier bist!» Sie nahmen mich in den Kurs auf, obwohl ich nicht wusste, was Anthroposophie ist, und sechs meiner Klassenkameraden übersetzten für mich ein ganzes Jahr lang. Auf diese Weise verließ ich Korea und lernte die Anthroposophie kennen.
Wie hast du deinen Weg nach Sekem gefunden?
Nach Harduf zog ich ans Emerson College in England, um eine andere Gemeinschaft zu erleben und Eurythmie zu studieren. Ich begegnete Annemarie Ehrlich, die kam, um uns in die Sozialeurythmie einzuführen. Sie inspirierte mich derart, dass ich wusste, dass die Sozialeurythmie mein beruflicher Weg sein würde. Als ich mein Studium abgeschlossen hatte, suchte ich nach einem Unternehmen, das mich als Sozialeurythmistin auf Vollzeitbasis einstellen konnte; leider gab es keins. Ich erinnerte mich daran, dass Annemarie uns erzählt hatte, sie sei nach Sekem gegangen, um zu unterrichten. Später lernte ich Helmy Abouleish kennen, was mich veranlasste, ein Praktikum in Sekem zu absolvieren. Dort traf ich Ibrahim Abouleish, der mich in ihrer Gemeinschaft begrüßte. So bin ich 2018 nach Sekem gezogen.
Deine 15 Jahre sind bald vorbei. Erwägst du eine Rückkehr nach Korea?
Ich habe darüber nachgedacht, was in den letzten 14 Jahren geschehen ist, was Anthroposophie für mich bedeutet und wo ich in meinem Leben stehe. Eine Sache, die ich gelernt habe, ist, mich dem Hinhören zu öffnen. Ich muss mich nicht auf ein Ziel festlegen und mich dafür unter Druck setzen, sondern ich vertraue darauf, dass, wenn etwas kommen soll, es zu mir kommen wird. Ich werde hinhören. Ich weiß nicht, was es sein wird – vielleicht lande ich ja in Ägypten, England, der Schweiz, Uruguay, Korea oder Nepal! Ich werde irgendwie eine kleine Tätigkeit in Korea beginnen, vielleicht einen Workshop, und dann sehen, was passiert.
Bitte erzähl uns über dein Therapieteam in Sekem.
Unser Therapieteam heißt RiFQa, فقة, was auf Arabisch Zärtlichkeit, Sanftheit und Begleitung bedeutet. Wir sind Teil des interaktiven Gesundheitszentrums von Sekem, das vor zwei Jahren gegründet wurde und einem der Ziele der Sekem-Vision für 2057 dienen soll: der Bereitstellung integrativer Gesundheitsdienste für die gesamte ägyptische Gesellschaft. Wir sind fünf Therapeuten und Therapeutinnen, die zusammenarbeiten: Petra Rosenkranz und Radwa Shedeed mit Kunsttherapie, Sohila Mohamed mit Ernährung und allgemeinem Gesundheitscoaching, Andreas Lenzen mit Krankenpflege und Rhythmischer Massage und ich mit Heileurythmie in Kombination mit Biografiearbeit. Einige von uns sind seit über 20 Jahren in diesem Bereich tätig, andere, wie ich, studieren und arbeiten als neue Therapierende. Wir sind vor einem Jahr zusammengekommen und haben uns gemeinsam über verschiedene Fragen ausgetauscht: warum wir uns für den Beruf der Therapierenden entschieden haben, welchen Herausforderungen wir in der Gesundheitsversorgung begegnen, wie wir anders als auf herkömmliche Weise arbeiten möchten, wie wir eine ganzheitliche Gesundheitsversorgung für unterschiedliche sozioökonomische Verhältnisse und insbesondere für Menschen aus marginalisierten Gemeinschaften schaffen können.
In den letzten sechs Monaten hatten wir eine Prototyp-Phase. Es war ein Lernen durch Begegnung mit der Realität. Da 90 Prozent unserer Patienten und Patientinnen weder aus dem anthroposophischen noch aus dem alternativen Umfeld kamen, mussten wir einen Weg finden, ihnen entgegenzukommen, indem wir unserer Methodik und unserem Engagement vertrauten, einen Raum für Heilung zu schaffen. Wir haben viel Zeit damit verbracht, eine Beziehung zu den Patientinnen und Patienten aufzubauen, um ihre wirklichen Probleme zu verstehen, damit wir herausfinden konnten, was die Ursache für ihre Krankheiten sein könnte, um einen therapeutischen Heilungsplan auf Grundlage ihrer Individualität zu erstellen. Für viele von ihnen war es sehr selten, jemanden zu treffen, der ihnen authentisch zuhörte – jemanden, der sie nicht beurteilte, jemanden, der sie ermutigte und von Hoffnung sprach, und jemanden, dem sie vertrauen konnten. Dafür liebe ich unseren Namen RiFQa – es geht nicht darum, von oben herab eine Therapie zu verabreichen, sondern einen Raum zu schaffen, der einen Heilungsprozess begleitet. Uns als Therapeuten oder Therapeutinnen zu bezeichnen, ist vielleicht falsch – es geht eher um das Bereitstellen von Räumen, in denen man seinem wahren Selbst begegnen kann. Man könnte es als höhere Selbstfürsorge bezeichnen.
Titelbild Nicolas Prestifilippo
Footnotes
- Sehe auch: The Goetheanum Weekly: Sacred Hospitality