Wie die Wirtschaft, hat auch die Wissenschaft weltumspannende Züge angenommen und befindet sich im Umbruch. Was bedeuten die globalen Entwicklungen für die Wissenschaft im deutschsprachigen Raum? Fünf Ebenen aus der Perspektive der Soziologie.
Der Wissenschaftsbereich in Zentraleuropa befindet sich im Umbruch – in vielen Sektoren und auf allen Ebenen zugleich. Wohin kann sich die Wissenschaft, wie sie heute unter dem Stichwort ‹glocal› (Kunstwort aus global und local) auch im deutschen Sprachraum nötig wird, unter dem Druck von Globalisierungsthemen entwickeln? Fünf Felder sind zur Beantwortung dieser Frage in den kommenden Jahren notwendig.
Erstens Der Strukturwandel der Wissenschaft. Bereits 1994 verkündete der britische Wissenssoziologe Michael Gibbons in seinem Buch ‹The New Production of Knowledge›: «An die Stelle der Universität als zentralem Ort der Wissensproduktion treten vielfältige und in sich sehr heterogene Erhebungskontexte – Industrielaboratorien, Thinktanks, Beratungsfirmen. […] Die Rolle wissenschaftlicher Disziplinen schwindet, und an ihre Stelle treten zeitlich begrenzte transdisziplinäre Forschungshybride.» Diese Konstellation ist inzwischen zum Normalzustand geworden. Das Verhältnis zwischen Lehre und Forschung spiegelt heute manches von Gibbons’ Vorhersage wider. Die Institution Universität scheint eher zur Lehr- und Transfereinrichtung zu werden. Spitzenforschung findet auch im deutschen Sprachraum immer stärker in transdisziplinären Forschungseinrichtungen statt. Wissensproduktion wird immer bereichs- und fakultätsübergreifender, multidimensionaler, ganzheitlicher, problem- und umsetzungsorientierter, flexibler und schneller und weniger bürokratisch als an Universitäten.
Zweiter Veränderungstrend die wissenschaftlichen Arbeitsformen. Stichworte wie ‹smart work›, ortsunabhängiges, ergebnisorientiertes, intelligentes Arbeiten vorrangig mittels Internet, ‹offener Campus›, Gemeinschaftsorientierung oder Arbeitstransversalität, hohe Durchlässigkeit zwischen Arbeitsplätzen, horizontal wie vertikal, signalisieren, dass der klassische akademische Einzelarbeitsplatz der Vergangenheit angehört. Der Einzelne wird dadurch noch individueller und gleichzeitig stärker zum Teil einer Gruppe, weil Transversalität und community eng voneinander abhängen.
Drittens vollzieht sich heute eine umfassende Verschiebung der Gegenstände und Inhalte sozialer Wissenschaft, weil sich das Verhältnis zwischen dem Ganzen und dem Einzelnen ändert. Wenn das Globale immer stärker ins Lokale und Regionale hineinwirkt, dann wird ‹glocal› nach vielen Jahren, in denen es nur ein Slogan war, nun tatsächlich zum Zauberwort einer neuen Mitte, in der sich Wissenschaft ansiedeln kann.Es geht darum, Daten kontextübergreifend so intensiv wie möglich miteinander zu vernetzen, um aus dem daraus möglichen Vergleich heraus Menschen im Zusammenhang ihres individuellen Umfeldes und ihrer sozialen Lebensbedingungen zu verstehen.
Vierter Veränderungstrend: die globale Datenrevolution im engeren Sinn. Ihren grundlegenden, in den kommenden Jahren umwälzenden Einfluss auf die Veränderung von Wissenschaft und Gesellschaft können wir heute erst anfänglich absehen. Es geht in die Richtung: «The Big Science – linking data to understand people in context» (American Academy of Political and Social Science). Christian Fuchsberger, Informatik-Ingenieur: «Es ist mein Anliegen, dass jeder Forscher weltweit auf meine Daten zugreifen kann, um die Genetik und Medizin grundsätzlich voranzutreiben.» Ein Beispiel: Eine seltene Krankheit wird geheilt, weil ich nun weltweit in kürzester Zeit automatisch Millionen von Vergleichsdaten einschließlich erfolglosen und erfolgreichen Heilungsversuchen und Verlaufsgeschichten erfassen und vergleichen kann – eine Arbeit, die der vernetzte ‹intelligente› Computer in Stunden erledigt, während ein Mensch dafür mit herkömmlichen Verfahren Jahrzehnte brauchen würde.
Fünftens Die neue Hinwendung der Wissenschaft zur Gesellschaft. Heutige Sozialwissenschaft wendet sich, ob sie das will oder nicht, gerade im ‹glocalen› Bereich stärker als bisher konkreten Gesellschaftsprozessen zu. Und sie bewirkt dabei unweigerlich eine Stärkung der kritischen Mitte ‹postmoderner› Gesellschaften in Zeiten ihrer – politischen, ökonomischen, kulturellen und zum Teil auch religiösen – Polarisierung. Wie es der Präsident von Eurac Research Bozen, Roland Psenner, im Mai 2017 ausdrückte: «Wissenschaft und Forschung kommt eine Schlüsselrolle zu, wenn es darum geht, ein Gleichgewicht zwischen Wachstum und Lebensqualität zu finden.»
Zum Wohlergehen der Gesellschaft mittels Wissenschaft wird die Unterscheidung zwischen falschen und echten Fakten, die Stärkung des gesunden Menschenverstands gegen Menschenfänger und falsche Propheten und die Konsolidierung informierter Diskussion beitragen. So kann eine kritische Öffentlichkeit aufrechterhalten werden gegen jene, die uns von der Mitte an die Ränder zeitgenössischer Gemeinschaft locken wollen. Wissenschaft kann gar nicht anders, als die vernünftige Mitte zu stärken. Das ist ihre Natur, weil sie ein Problem aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten muss, um es wie eine Skulptur dreidimensional und ganzheitlich erfassen zu können. Deshalb ist die Mitte geradezu das Abenteuer der Wissenschaft.
Beitrag entnommen aus dem Aufsatz ‹Die Zukunft der Sozialwissenschaft› im Rundbrief ‹Sozialimpulse› 1/2018 Hrsg. Initiative Netzwerk Dreigliederung, Stuttgart, netzwerk@sozialimpulse.de
Bild: Nina Gautier