Bis zur Industrialisierung hin war das Bauen von Hand der Normalfall. Alles wurde einzeln von Hand hergestellt. Dadurch war man körperlich mit der Welt verbunden.
Die Handarbeit bewirkte eine lebendige Einheit: der Mensch mit seinen Tieren und seinen Feldern, die Handwerker mit ihren Werkzeugen mit Stein und Holz.
Dann wurde die Demut, die in dieser Handarbeit liegt, durch Ungeduld verdrängt, durch Forschergeister und Eroberer, die nun die Mechanisierung aller Vorgänge vorantrieben, sodass in erstaunlich kurzer Zeit, beinahe über Nacht, im 19. Jahrhundert die Welt sich vollständig verwandelte. Am Anfang waren noch die allermeisten Menschen auf dem Feld tätig und die wenigsten konnten lesen, und am Ende konnten die meisten lesen und die wenigsten waren noch auf dem Feld. Die Tätigkeit rutschte von den Händen in den Kopf, und dort war man beschäftigt – je nach Neigung als Ingenieur in der Planung all der verschiedenen Maschinerien oder als Pilot in der Steuerung all dieser Apparate. Dieses Pilotenselbstbewusstsein ist das eigentlich Typische einer Industriegesellschaft. Der Traum, per Knopfdruck die Welt zu bewegen, zu kontrollieren. Mit einem winzigen Joystick einen 100-Tonnen-Bagger oder einen Airbus A380 zu steuern oder ein Mähdrescherungetüm, in dem ein einziger Maschinenpilot die Arbeit von 100 Bauern übernimmt. Und an diesem Beispiel sieht man auch gut, warum das Lebendige bedroht ist. Denn dieser Mähdrescher als typische Industriemaschine braucht einheitlich gewachsenes, exakt gleich hohes, gleich reifes Korn. Die Maschine erzwingt die Monokultur, und das bedroht das Lebendige. Das ist nur ein Beispiel, wie sich überall das Lebendige den toten Strukturen des Mechanischen anpassen musste.
In diese Bedrohungslage des Lebendigen durch die Mechanisierung kam vor 100 Jahren die Anthroposophie und stellte den Entwicklungsgedanken ins Zentrum. Es entstanden viele Impulse, die auf allen möglichen Lebens- und Schaffensgebieten daran arbeiteten, wie nun das Lebendige über diese Mechanisierung hinweggerettet werden kann. Diese Impulse sind ja in der Welt angekommen. Es gibt ein neues Bewusstsein für das Lebendige. Zum Beispiel im Sozialen, in Organisationen und Firmen, wo man sich nicht mehr hierarchisch, sondern dynamisch und dezentral organisieren will – oder in der Fridays-For-Future-Bewegung.
Jetzt, 100 Jahre später, steht die Welt an einem ganz anderen Punkt, wieder am Fuß einer großen Revolution, der digitalen Revolution, die mindestens so tiefgreifende Veränderungen mit sich bringt wie die industrielle – aber ganz andere. Die Ebene, die jetzt mechanisiert wird, ist nicht mehr die physische Handarbeit, sondern die Ebene des Sinnes-Nerven-Pols. Diese Veränderungen werden vielleicht viel weniger sichtbar, aber doch für uns Menschen viel tiefgreifender sein. Wir stehen hier erst ganz am Anfang, ich würde sagen, vergleichbar mit der Industrialisierung um das Jahr 1850. Bis jetzt wurde noch nicht viel Neues entwickelt, außer dass wir alles, was wir bisher taten, nun mit dem Computer tun: Briefe schreiben, Flüge buchen, Zahlungen machen, Anzeigen für Wohnungen aufgeben. Es sind dieselben Vorgänge, nur dass sie mit dem Computer schneller und raffinierter ablaufen. Aber wir sind immer noch diejenigen, die am Steuerhebel sitzen. Unser Pilotenselbstbewusstsein ist sozusagen noch intakt.
Nach den ersten 40 Jahren der Digitalisierung folgen nun die nächsten 40 Jahre in dieser Entwicklung, und da wird es jetzt um viel mehr gehen als bisher. Bisher hat man ja nur die alte Analogkamera durch eine Digitalkamera ersetzt und sie ins Handy eingebaut. Aber seit Kurzem vermag der neue Fotoapparat Gesichter zu erkennen und mit anderen Gesichtern zu vergleichen. Jetzt schaut man auf das Display, und das Handy schaltet sich frei. Das ist ein gutes Beispiel, um zu verstehen, worum es geht: Dieses Prinzip der Mustererkennung, des Einordnens und Schlussfolgerns ist ja eine Grundtätigkeit des menschlichen Nervensinnessystems. Wahrnehmen und Muster erkennen, vergleichen und einordnen, schlussfolgern und reagieren. So arbeiten wir im Garten beim Jäten: das Kraut erkennen, vom Unkraut unterscheiden, und dann ausreißen oder stehen lassen. So arbeitet auch der Arzt, der Symptome erkennt, diese richtig einordnet und zur Diagnose kommt und dann die beste Therapie vorschlägt. Das Prinzip ist immer dasselbe: Muster erkennen, einordnen, schlussfolgern. Auch beim Autofahren: Eine Person nähert sich auf dem gelben Streifen – Achtung, Vortritt: Vollbremsung! Genau diese Ebene wird nun automatisiert. Üblicherweise spricht man an dieser Stelle von dem unklaren Begriff der Künstlichen Intelligenz.
Ich glaube, wir können uns noch gar nicht wirklich vorstellen, wie es ist, wenn dann so ein selbstfahrendes Auto daherkommt und diese Steuerungstätigkeiten tatsächlich von Autopiloten übernommen werden. Wir wissen ja, dass ein Auto unbelebt ist, aber als herumfahrendes Fahrzeug nehmen wir es trotzdem als beseelt wahr und regen uns darüber auf, natürlich nicht über die Blechkiste, sondern über ihren Fahrer. Wenn dieser aber eine Maschine ist, worüber sollen wir uns dann aufregen, wenn der da vorne so langsam fährt? Bis jetzt können wir noch relativ gut unterscheiden, ob an der Telefonhotline ein echter Mensch oder ein Computer spricht. Das wird in Zukunft immer schwieriger, denn das rein Sinnliche lässt sich tatsächlich durch Algorithmen erfassen und rekonstruieren.
Das heißt, es wird nun sehr viel Sinnliches geben, das nicht mehr beseelt ist, und vieles, was sich bewegt, wird nicht mehr von Menschen gesteuert sein. Das bedeutet, einerseits geht die Zeit mit unserem Pilotenselbstbewusstsein langsam zu Ende, was uns sicher in eine große Identitätskrise stürzen wird. Vor allem aber glaube ich, dass so ähnlich, wie das Lebendige in der physischen Welt durch die Mechanisierung bedroht wurde, jetzt das Beseelte in der Sinneswelt durch die Digitalisierung bedroht ist. Ich glaube, genauso wie die Anthroposophie in den letzten 100 Jahren viel dazu beigetragen hat, das Lebendige über die Mechanisierung hinüberzuretten, es mit ihr zu versöhnen, so stellt sich jetzt und vielleicht für die nächsten 100 Jahre die Frage, was die Anthroposophie beitragen kann, um das Beseelte der Sinneswelt über die Digitalisierung hinüberzuretten. Ich glaube, die Anthroposophie kann hier etwas beitragen, weil sie einen gesunden, alltagstauglichen Umgang mit dem Übersinnlichen kennt. Das wird das Wichtigste, denn das Übersinnliche werden wir brauchen, um das Beseelte vom Synthetischen in der Sinneswelt unterscheiden zu können. So wie sich die Arbeit durch die Industrialisierung von den Händen in die Köpfe verschoben hat, wird sie sich nun zu den Herzen verschieben, zu einem Sinnesorgan, das außerhalb des digital Erfassbaren liegt.
Nachdruck des Referats auf der Goetheanum Association Tagung am 29.9.2019
Zeichnung: Georg Hasler von Sofia Lismont