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Vom inneren Öffnen des Auges

Neulich hat die älteste erhaltene steinerne Skulptur des Würzburger St.-Kilian-Doms unsere Autorin in den Bann geschlagen. Die Farben des roten Sandsteines, die Formgebärde der Sakralskulptur strahlten eine Reinheit aus, die wie gesundende Harmonie auf die Betrachterin überströmte.


Das aus rotem Sandstein geformte Merowinger Kreuz in der Krypta lag seit dem Jahr 1000 unter dem Bauschutt der ehemaligen Lucia-Krypta begraben. Niemand kann den beeindruckenden Fund historisch genau datieren. (1) Und wenn es keine Liturgie-Reform des vatikanischen Konzils gegeben hätte, wäre die Krypta nicht geleert worden, um das Bodenniveau des Hochchores abzusenken. Vermutet wird, dass die Darstellung von der damaligen Kunst des östlichen Mittelmeeres inspiriert war. (2)

Realpräsenz

Das leicht seitwärts geneigte Antlitz trägt keinerlei persönliche Züge. Um den Mund schwingt ein merkwürdiger Zug zwischen Lächeln und Schmerz. Kopfhaare, Oberlippen- und Kinnbart sind vom Künstler stilisiert aus dem Stein herausgeformt. Der Betrachtende wird von der tiefen Ruhe, die von dem Antlitz ausgeht, sehr angezogen. Es strahlt auf merkwürdige Weise eine wirklich reale Präsenz aus. Das Gesamtkunstwerk besteht nur aus dem Kopf, der körperlos inmitten der Vierung des ansonsten kahlen, nackten Kreuzes angebracht ist.

Was aber hat der unbekannte Bildhauer der ottonischen Epoche zeigen wollen? Warum hat er dieses körperlose Porträt mit seinen ‹mandelförmigen Glotzaugen› (3) so erstellt, dass die Augen die Betrachtenden gar nicht anstarren sollten? Welche Bedeutung haben die geschlossenen Augen? Sind sie ein Hinweis auf den Zustand der Kontemplation, der Innenschau, der meditativen Seelenruhe, des inneren Öffnens der Augen?

Vom Haupt geht eine seltsame Lebendigkeit aus. Es scheint, dass diese sakrale Kunst den Christus selbst darstellt, nach seinem Sieg über den Tod. Die Formsprache zeigt uns die Dreifaltigkeit in den drei Haaranlagen von Stirn, Wangen und Kinn. Das Haupt sowie die Kreuzesbalken bilden die Fünfzahl der Wundmale des Heilandes ab. Beide Formen bezeugen die Herkunft des Christus aus dem Schoße der Dreifaltigkeit, als lichtes Urbild (im Haupte leuchtet Denken … ecce homo) (4), was durch den verhaltenen, wehmütigen Ausdruck des Antlitzes, den ernst-elegischen Ton im Gesichtsausdruck unterstrichen wird. Das waag- und senkrechte Gebälk des Kreuzes zirkelt die Erdenlinie als flachen Boden unterhalb des Hauptes ab. Der Scheitelpunkt befindet sich genau unter dem Haupt. Brauen und Nasenwurzel bilden eine T-Linie, die dem Horizontalbalken folgt. Die Nase selbst sowie der Mund folgen der Vertikalität des Senkrechtbalkens.

Das bin ich

Die Gesamtkomposition erinnert an ein Tao, von dem Rudolf Steiner sagte, dass es uns an die Gottesbezeichnung unserer uralten Vorfahren erinnert. In dem Laut ‹Tao – das bin ich› lebte das eigentliche Wesen, das durch die ganze Natur geht. Später drückte sich dieses Tao in dem Buchstaben T aus, und auf ihm ein Kreis, das Zeichen der alles umfassenden göttlichen Vaternatur. (5)

Die leichte Neigung des Hauptes und der nach innen gerichtete Blick geben seine Durchseelung kund. Der Gedanke an den Ostersieg zeigt sich in dem gotterfüllten Innenblick, dem sorgenvollen Ernst, der das ganze Antlitz überstrahlt. Die offensichtlich erduldeten Schmerzen sind zu kristallisierter Weisheit geworden. (6) Man spürt etwas von der Stimmung des Künstlers, ob die Menschheit das Opfer, das der Gottessohn gebracht hat, verstehen, annehmen und nutzen kann. Aber die fast flache, breit gezogene Mundform auf leicht aufwärts gerichteten, lächelnden Mundwinkeln deutet auf einen dynamischen Vorgang hin. Offensichtlich wird das innerlich Geschaute für den nach innen Schauenden auch als genussvoll erlebt.

Es wird etwas in die Seele des Betrachters gestreut, eine Empfindung, in der sich Schmerz und Seligkeit mischen. Spiritueller Glanz überstrahlt alles. Der Künstler wollte uns vielleicht sagen: Der Augenblick der inneren Ruhe, der inneren ruhigen Selbstschau, erzeugt die Kraft, die jeder findet, der solch innere Ruhe in sich entwickelt. Der Alltagsmensch trägt in seinem Inneren einen höheren Menschen, den nur er selbst in sich erwecken und in sich auferstehen lassen kann.


(1) Stefan Kummer, Kunstgeschichte der Stadt Würzburg 800–1945. München 2011.
(2) Es wird behauptet, dass es ein heidnisches Bildnis sei, das den Sieg des Christentums über die Heiden bildhaft darstellen sollte. Als sogenanntes Gemmenkreuz mit Christus-Medaillon war es in Byzanz weit verbreitet. Siehe auch Kreuzstein.
(3) Stefan Kummer, a. a. O.
(4) Rudolf Steiner, Wahrspruchworte. GA 40, Dornach 2005.
(5) Rudolf Steiner, Zeichen und Symbole des Weihnachtsfestes. GA 96, Dornach 1989.
(6) Rudolf Steiner, Die Erkenntnis des Übersinnlichen in unserer Zeit und deren Bedeutung für das heutige Leben. GA 55, Dornach 1983.

Foto: Lucia Heumann

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