Religion kann sowohl Bekräftigung der Menschlichkeit wie Zündstoff für Fanatismus bedeuten. Differenzen unter Völkern zu erkennen, ist noch kein Nationalismus. Eine Betrachtung über die Notwendigkeit, Geister voneinander zu unterscheiden.
Schon im Alten Testament ist von Völkerengeln die Rede. So spricht in hellenistischer Zeit ein (Erz-)Engel zu Daniel: «Weißt du, warum ich zu dir gekommen bin? Gleich muss ich zurückkehren, um mit dem Schutzengel Persiens zu kämpfen, und wenn ich von ihm los bin, so ist schon der Schutzengel von Griechenland zum Kampf herbeigekommen. Aber ich will dir doch zu wissen tun, was in dem Buche der Wahrheit aufgezeichnet ist, obschon mir niemand gegen jene beisteht als euer Schutzengel Michael, der mir zur Seite tritt, um mich zu unterstützen und mir Schutz zu gewähren.»(1) Da geben offenbar geistige Wesen den Völkern Richtung und Eigenart, und Kämpfe scheinen himmelsgewollt.
Im christlichen Mittelalter war kein Staatsgebilde ohne einen Patron rechtsfähig. Gab es keinen König oder sonstigen Autokraten, musste ein Heiliger, ein Engel oder die Jungfrau Maria die Identität markieren. Wenn also zum Beispiel eine Hansestadt einer anderen den Krieg erklären wollte, dann tat das formell ihr Schutzheiliger. Da mochte man noch glauben, im Namen Gottes Kriege zu führen, auch wenn der Gegner ein gleiches ‹Gott mit uns› für sich beanspruchte. Dass dies heute eine Blasphemie wäre, spürt jeder denkende Mensch. Aber lassen sich Kriege ohne hintergründige Triebkräfte denken? Dies führt zu der Frage, ob es immer die edelsten Wesenheiten sind, die Nationen in Wallung bringen.
Als Rudolf Steiner 1911 in Oslo den Volksseelenzyklus (2) hielt, kam er zum rechten Zeitpunkt. Damals hat sich Norwegen vom Königreich Schweden ohne militanten Nationalismus getrennt. Gut, dass der Zyklus jetzt neu und kommentiert erschienen ist! So lässt sich säuberlicher unterscheiden, wie und warum (nämlich zunächst unter dem Wirken des Zeitgeistes) sich ein Volk bildet (Rudolf Steiner verweist auf die Eigenständigkeit der Portugiesen, die sich von den Spaniern trennen, und der Niederländer, die sich aus dem Deutschen Verband lösen). Wer diesen Zyklus genau aufnimmt, wird sich jeder Höherstufung oder Abwertung von Völkern verweigern. Nationalismus hat bei Steiner keinen Platz, auch wenn seine Wortwahl heute gelegentlich ‹übersetzungsbedürftig› sein mag. Dies leistet die Neuherausgabe sehr gut, auch wenn sie – naturgemäß – nicht erörtern kann, wie die Anthroposophen in späteren Jahren damit umgegangen sind.
Von 1990 an erschienen Joachim von Königslöws Aufsätze über den Balkankrieg. (3) In ihnen zeichnet er die Deckungsähnlichkeit der innerjugoslawischen Konfliktgrenzen mit den religiösen Bruchstellen (römisch-katholisch – orthodox – muslimisch) nach. Die Aufsätze sind immer noch lesenswert und legen die religiösen Wurzeln von Hass und Blindheit bloß. Es kann kein Engelwerk gewesen sein, wie da Menschen immer noch aus chauvinistischen Vorbehalten zu Kriegsverbrechern wurden.
Doch wie viele ‹aufgeklärte› Moslems, Katholiken oder Angehörige der Ostkirche gibt es, die liebevoll und friedensgeneigt sind! Wer mit ihnen ins Gespräch kommt, der spürt, dass diese friedvolle Liebe kein bloßes Lippenbekenntnis bleibt: Die Religion macht sie nicht zu Fanatikern. Sie wollen keinen Hass, sondern höchstens die Bereicherung in der Begegnung religionsgeprägter Kulturen. So beantwortet sich die Frage: Wenn es einen geistigen Hintergrund für Hass und Krieg gibt, darf man das dann den Volksengeln anrechnen – oder gibt es als deren finsteres Gegenbild Nationaldämonen? Ideologien, religiöse oder konfessionelle Unterschiede, die zu einem gruppenhaften Auftrumpfen und der Dämonisierung der jeweils anderen verleiten, können schwerlich guten Wesen dienen.
Wenn das so ist, dann liegt es noch näher, bewusst zu wählen, wes Geistes Kind man sein will. Denn wie wir unserer Religion folgen, entscheidet auch über Krieg oder Frieden, Vorurteil oder freilassende Neugier. Dies ist heute nicht weniger drängend als zu Zeiten des Balkankrieges. Es ist nicht gleichgültig für die Volksseelen, wie sie Rudolf Steiner beschreibt: Unsere Haltung bewirkt, dass wir ihnen einen Wirkensraum ermöglichen, anstatt den Hassgeistern das Feld zu überlassen.
(1) Daniel 10,20–11,1, Übersetzung Kautzsch
(2) Rudolf Steiner: Die Mission einzelner Volksseelen im Zusammenhange mit der germanisch-nordischen Mythologie. ga 121. 6., überarbeitete und erweiterte Auflage, Dornach 2017
(3) In: ‹Die Drei›, u. a. 1990, 178 ff. u. 848 ff.; 1991, 464 ff.; 1992, 800 ff.; 1993, 362 ff. u. 447 ff.; 1994, 28 ff.
Bild Europa, Willem Blaeu, 1664, BNF
Tagung ‹Wohin Europa?› 18.–21. Mai 2018, Pfingsttagung mit Nodar Belkania, Tamar Beraia, Eckart Förster, Severin Fraser, Gerald Häfner, Christiane Haid, Frank Hörtreiter, Thomas Jorberg, Constanza Kaliks, Stephan Kirste, Paul Mackay, Markus Osterrieder, Benedikt Zweifel.
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