Über Wahrheit und ihren Ersatz

Im November wählen die USA ihren neuen Präsidenten oder ihre Präsidentin. In diesem Kontext stellt John Bloom die Frage nach einer ‹Kultur der Unwahrheit›, die droht, Norm zu werden.


Die nationale Politik der Vereinigten Staaten zu verstehen, ist verrückt und fesselnd zugleich. Es gibt so viele Ebenen von Fakten und Fiktion. Das alles überschattende Spektakel des Wahlkampfs scheint fast unerträglich durchschaubar um Macht, Geld, die Herrschaft der Persönlichkeit, die nationale Identität, die Rolle der Regierung und den Verlust jeglicher Nuancen in den Beziehungen der USA mit dem Rest unserer verflochtenen Welt zu kreisen. Für mich persönlich als Unternehmensinhaber, Treuhänder in Vorständen steuerbefreiter Wohltätigkeitsorganisationen, Steuerzahler, Sozialhilfeempfänger, Berater von Organisationen und Großvater ist es von enormer Bedeutung, was bei diesem Spektakel herauskommen wird. Das dringende Bedürfnis, im Kontext dieser ‹Verrücktheiten› einen Glanz von Wahrheit zu finden, erfordert individuelle Beharrlichkeit, Offenheit für die Wahrnehmungen anderer und einen gemeinsam geschaffenen moralischen Kompass, um sich im sozialen Feld der postwahrheitlichen USA zurechtzufinden.

Die Freiheit wird als Banner im Großteil der politischen Rhetorik benutzt. Aber Wahrheit und Freiheit sind untrennbar miteinander verbunden. Eine Stelle aus dem Johannesevangelium (8:32) klingt für mich immer wieder an: «Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.» Wenn die Wahrheit frei machen soll, was bewirkt dann eine Unwahrheit? Was sind die Folgen von wiederholten und unwidersprochenen Unwahrheiten? Im Johannesevangelium (8:34) heißt es weiter: «Jeder, der eine Sünde begeht, ist ein Sklave der Sünde.» Eine Unwahrheit schafft eine Art von Gefangenschaft – das genaue Gegenteil von Freiheit.

Rudolf Steiner hat in seiner Dreigliederung des sozialen Organismus (1917) eine Grundlage dafür formuliert. In dessen Folge würde eine Sozialethik entstehen, die von ethischen Individuen mitgestaltet wird. Ein solcher Rahmen verortet jeden von uns unausweichlich in der Dreigliederung und dient als Fahrplan für die verantwortungsvolle Wiederherstellung eines sozialen Feldes, das heute im Wesentlichen von jeder moralischen Grundlage abgekoppelt scheint und mit systemischer Unwahrheit arbeitet. Wie können wir eine Geisteshaltung, einen moralischen Kompass kultivieren, der unser Handeln und unsere Gesellschaft in eine Rechtschaffenheit, Fairness und Genügsamkeit lenkt – Freiheit im Geiste, Gleichheit in der Verteilung von Gerechtigkeit und mitfühlende Wechselbeziehungen in der Wirtschaft?

Geistige und politische Freiheit

In der politischen Sprache der USA ist die Freiheit – das Wort, das Konzept und das Ethos – ein zentrales Schlachtfeld für Macht und Kontrolle der Regierung, aber auch für die Herzen und Köpfe der Bürgerinnen und Bürger. Geistige Freiheit und politische Freiheit sind miteinander vermischt, falsch charakterisiert und missverstanden worden. Freiheit, ob geistig oder politisch, ist kostbar und schwer zu erringen, sei es durch einen individuellen Weg oder eine politische Revolution. Außerdem ist es nicht einfach, über die persönliche Freiheit hinaus in einen sozialen Raum zu gelangen, der die innere Freiheit des anderen anerkennt und ermöglicht, Vereinbarungen auf der Grundlage echter Gleichheit von Mensch zu Mensch zu treffen. Als Kultur sind wir in unserer gesellschaftspolitischen Praxis weit von der Gleichheit entfernt, auch wenn das Konzept in unseren Idealen enthalten ist. Die Ungleichheit bei der Ausübung von Rechten bleibt bestehen. Ideologie, Geld und die damit verbundene Macht haben dies bewirkt. Solange das Eigeninteresse die treibende Kraft der Wirtschaft bleibt, leben wir mit einer weiteren Unwahrheit, die sich in dem Gedanken ausdrückt: ‹Ich muss arbeiten, um meine eigenen Bedürfnisse zu befriedigen.› In einer Anzeige für ein Wirtschaftsstudium in der ‹New York Times› hieß es: «Verdienen Sie, was Sie wert sind!» In dieser Aussage stecken die Annahmen, dass wir für uns selbst arbeiten, dass unser Wert als Mensch daran gemessen wird, was wir verdienen, und dass Bildung eine Ware ist. Die gesamte kommerzielle Werbung propagiert die Illusion, dass die Konsumwelt in erster Linie auf die Befriedigung persönlicher Wünsche und Bedürfnisse ausgerichtet ist. Realität ist, dass wir arbeiten, um die Bedürfnisse anderer zu befriedigen, und dass durch diese Arbeit unsere Bedürfnisse befriedigt werden – es ist eine soziale Imagination, in der wirkliche Wechselseitigkeit sichtbar wird.

Abgrund der Unwahrheiten

Unser gegenwärtiges Paradigma beruht auf Unwahrheiten – kulturell, rechtlich und wirtschaftlich. Über Medien und kulturelle Kanäle wird ‹Lüge› als Glaubenssystem oder Ideologie verbreitet, die dann bestimmt, was wir wahrnehmen oder glauben wahrzunehmen. Überzeugungen überschatten Fakten und Beweise und setzen das freie Wissen außer Kraft. Das alte Sprichwort: ‹Ich werde es glauben, wenn ich es sehe›, gilt nicht mehr. Stattdessen heißt es: ‹Ich sehe es, wenn ich es glaube.›

Die Aufgabe besteht darin, den Abgrund der Unwahrheit zu verstehen, den Abgrund zwischen der moralischen Wahrheit und den eigennützigen Erzählungen, die durch Medien verstärkt und von einem Teil der Bevölkerung übernommen wurden. Wie können wir uns also in einer Welt zurechtfinden, in der Aussagen, die nicht der Wahrheit entsprechen, zu Narrativen verwoben als Glaubenssätze übernommen und öffentlich befürwortet werden?

Die Kluft hat sich vertieft, da die Medien zu einer Waffe geworden sind. Die derzeitige Verwendung von Begriffen wie: ‹Staat im Staate› (engl.: deep state), ‹deepfakes› und ‹gaslighting› sind Konstrukte, die darauf abzielen, uns an unserem Wissen zweifeln zu lassen und festzustellen, dass nur bestimmte Leute mehr wissen. Diese und andere Techniken bilden die Grundlage für die Behauptung, dass wir jetzt Opfer des ‹Staates im Staate› sind und gerettet werden müssen – und einen selbst ernannten Retter brauchen.

Täuschung des Wahrnehmungssystems

Die gegenwärtige Situation in den Vereinigten Staaten und die Art und Weise, wie Narrative mit solcher Leichtigkeit erzeugt und verbreitet werden können, ist das Ergebnis technologischer Darstellungssysteme. Sie haben sich in den USA und in der westlichen Kultur über eine lange Zeit entwickelt. Europäische Renaissancekünstler bescherten uns die Zwei- und Dreipunktperspektive und die Darstellung im Dienste der optischen Täuschung der Wirklichkeit. Dieses Darstellungserfordernis entwickelte sich mit dem Aufkommen der Fotografie, des Films und der sogenannten virtuellen Realität weiter – und wurde mit jedem Schritt weiter von der physischen Quelle abgekoppelt. Dahinter steht die Vorstellung, dass das menschliche Wahrnehmungssystem mit einer so überzeugenden Illusion der Realität stimuliert werden kann, dass man ohne Training nicht in der Lage ist, das Reale vom Scheinbild zu unterscheiden.

Zu diesem bildbasierten Rahmen kommt der eher linguistische Rahmen der KI hinzu, die in gewissem Maße die Gesamtheit der Geschichte des menschlichen Denkens und Ausdrucks ist, digitalisiert, recycelt, neu kombiniert, upcycelt und herunterladbar. Wenn die bildlichen und sprachlichen Systeme sich vereinen, können die menschlichen Sinne in einer Echtzeit-Echtraum-Modalität in die Irre geführt werden. Das ist das Simulacrum. Die Genialität ist unbestreitbar, aber diese ‹Ersatz-Erfahrung› ist alles andere als neutral. Ein Teil des Bewusstseins, das die eigene Urheberschaft der Erfahrung in Echtzeit anerkennt, wird in die Schwebe versetzt.

Die Unwahrheit besteht hier darin, dass der Schein das Äquivalent zu dem ist, was dargestellt wird. Ersetzt das Substitut das Wesentliche, wird die Unwahrheit zur Norm. Dies ist die Wendung, durch die wir uns selbst versklaven – die Sünde, auf die sich das Johannesevangelium bezieht. Mit dem Aufkommen dieses Substitutes wird die Wahrheit formbar, wird zur Nachwahrheit.

Ohne Agenda

Perspektivische Systeme bedeuteten einen Fortschritt im westlichen menschlichen Bewusstsein. Dieser Impuls wurde in Techniken zur Konditionierung unseres Wahrnehmungssystems und zur Formung eines Selbstbewusstseins vereinnahmt, entsprechend der Agenda oder dem ‹Programm›, der Absicht eines anderen. Wir leben mit der virtuellen Realität und den Produkten der KI als faszinierenden Erfahrungswerten und kulturellen Unwahrheiten. Die sozialen Medien haben es leicht gemacht, die gemeinsamen ethischen und moralischen Grenzen zu überschreiten. Ein Gespräch über all dies ist schwierig, weil die Sprache der Erfahrung und des ethischen Rahmens in der Kluft zwischen Evidenz und Glauben stecken bleibt.

Braucht es eine geistige Welt?

Ein großzügiger Materialist oder eine Skeptikerin könnte zumindest zugestehen, dass so etwas wie die geistige Welt möglich ist, da es keine Beweise für das Gegenteil gibt. Eine weniger großzügige und eher gegnerische Sichtweise würde jedes Gerede über die geistige Welt als Erfindung oder, schlimmer noch, als Lüge abtun. Dies ist das härteste aller materialistischen Urteile und entspringt Glaubenssystemen, welche Macht aus Angst zentralisieren, den Zugang zum Geistigen nur bestimmten Menschen zugestehen und die Macht über die geistige Welt durch Doktrinen erhalten wollen. Wer Ihnen also sagt, dass Sie nicht selbst denken oder Ihre eigenen Erfahrungen machen können, der will Wahrheit und Freiheit im tiefsten Sinne des Wortes nicht verstehen.

Während die politischen Schlachtrufe ertönen, werden Milliarden von Dollar ausgegeben, um die Herzen und Köpfe der Menschen zu überzeugen. Wahrheit und Freiheit brauchen liebevolle Pflege, um den Ansturm zu überstehen. Sie sind die Grundlage für einen moralischen Kompass. Die Brücke zwischen politischer Realität und individueller Überzeugung ist die Fähigkeit zu Beziehungen, die über das Unwahre hinausgehen, die die innere Freiheit des anderen anerkennen und die im Bewusstsein unserer tatsächlichen wirtschaftlichen Abhängigkeit auf neue und tragfähige Vereinbarungen hinarbeiten. Wärme ist eine Gegenkraft zu Spaltung und Trennung. Die Realität ist, dass wir uns gegenseitig brauchen werden, unabhängig von unserer Politik oder unseren Wahrheiten. Das haben wir eigentlich immer getan.


Bild Jasper Johns ‹Flag› im Museum of Modern Art New York, Foto: Esther Westerfeld. CC BY 2.0.

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