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Stereotypen 1

Ich war mit einem von mir geschätzten Verlagsmenschen essen. Wir sprachen über dies und das, und dann sagte er nachdenklich, dass er den ursprünglichen Impuls, mich in ein Gremium zu berufen, nach Lektüre eines Skripts auf Eis gelegt habe, da ihm dieses so nach innen gekehrt erschienen sei. Nun ist es zumal heute nichts Besonderes, dass es Literatur mit melancholischem Grundton gibt, der ganze ‹Faust› beginnt mit einer großen Depression, und gerade bei dem feinen Geist, der mir gegenübersaß, dachte ich, dass wenige auf mich seit je so melancholisch gewirkt haben wie er. Doch frappierend war die In-eins-Setzung von Text und Autor.

Die Bewusstseinsseele, um gleich mal das Besteck auszupacken, unterscheidet in Moralfragen zwischen Tat und Täter. Sie kann eine Tat verurteilen und für das Wesen offenbleiben, sie trennt zwischen ihm und der Erscheinung wie auch zwischen Individualität und Persönlichkeit. Im Geistigen muss sich nicht ausschließen, was irdisch getrennt auftritt. Ein naiver Literaturbegriff verbeißt sich entweder in die Erscheinung – und verwechselt auf der Suche nach Imaginationen die Kunst mit deren Image – oder er hängt an der Idee, wie etwas künstlerisch sein müsse, um die Idee zu bestätigen. Wir verwechseln die Literatur mit dem Leben, wo wir es nicht sollten, und wir unterlassen es, beide miteinander zu verbinden, wo wir es dürften. Das Goetheanum etwa ist nach einem Dichter benannt, in dessen ‹Römischen Elegien› diverse Gottheiten vor dem Beischlaf einige nötige Handgriffe tun. Es würde mich wirklich deprimieren, würde nun eine Hügelkette im Pfälzischen nach mir benannt, aber es zeigt, wie relativ unsere Urteile sind.

Auf dem Klappentext der ersten Ausgabe von Fernando Pessoas ‹Buch der Unruhe› steht, es sei ein Buch von «existenzieller Traurigkeit». Positiv gemeint. Für manche muss man mindestens Handke, notfalls Pessoa und auf jeden Fall Goethe sein, um traurige Texte oder erotische Lyrik (ist oft das Gleiche) verfassen zu dürfen. Ach, wir sind doch alle ein unbekanntes Land! Es gilt sich einzulassen auf das Fremde, man muss das Typische sich aussprechen lassen, ohne es gleich zu bewerten und spekulative Betroffenheit als Textinterpretation anzusehen. Übersetzen heißt nicht Indizienketten flechten. Schreiben als solches ist Übersetzen.

Und um indirekt auf den Autor des ‹West-Östlichen Divans› zurückzukommen, der bekanntlich im Staatsdienst tätig war: Auch Russland verstehen heißt immer noch, es aus Russland heraus verstehen. Dass ein Ex-Kanzler dort in einem Gremium sitzt, kann vieles bedeuten.

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