Spielen heißt wahrhaftig sein

Gemeinschaften brauchen spielerische Begegnungen nicht als Luxus, sondern für ihre innere Gesundheit. Im Spiel öffnen wir uns, machen uns verletzlich und zugänglich. So entsteht Authentizität, die von Altlasten oder Erwartungen, Hierarchien und Vorstellungen befreit. So holt man die Beziehung in die Gegenwart. Sonja Zausch erzählt von ihrer Gemeinschaftsarbeit mit Menschen mit oder ohne Assistenzbedarf und von ihrem eigenen Lernprozess. Die Fragen stellte Franka Henn.


Dein Weg begann mit einer Ausbildung zur Bäckerin, dann zur Bühnentänzerin und später zur Eurythmistin. Dadurch öffnete sich das Feld der Heilpädagogik oder überhaupt das soziale Feld. Wer hat dich in deinem Leben inspiriert?

Der erste Mensch, der mir einfällt, ist ein Kollege aus der Camphill-Bewegung, den ich erst mit 34 kennengelernt habe, als ich anfing, in der Heilpädagogik tätig zu sein. Durch ihn habe ich gefühlt, dass ich mit Anthroposophie wirklich tiefer gehen will und mich nicht von dem, was mich daran gelegentlich irritiert, abschrecken lasse. Früher hatte ich oft das Gefühl: Oh, ich muss richtig viel wissen, damit ich da mitspielen darf. Aber er vermittelte mir die Stimmung: Dort, wo du bist, bist du am richtigen Ort. Hab dieses Vertrauen, dass es einen Grund hat, dass du da bist.

Trotzdem frage ich mich immer wieder: Bin ich hier richtig oder falsch? Aber es trägt mich, im Grunde meines Herzens zu sagen: Doch, ich darf dazu etwas sagen, denn ich bin jetzt einfach hier. Dasselbe gilt für das Tanzen. Ich habe getanzt und getanzt und getanzt und getanzt und ich hatte nie den Plan, dass ich Tänzerin werde. Pina Bausch, das Wuppertaler Tanztheater, war ein großes Vorbild für mich, weil ich dort einfach eine Ehrlichkeit mit den Themen aus dem Leben erlebt habe. Da wird alles erzählt: Schmerz, Freude, Leid, Blut, Tod, Liebe und Sex.

Ist das für dich ein wichtiges Motiv? Dass wir ganz ‹durchkommen›, mitsamt dem Leben, dem Herzblut, dass wir uns wirklich aussprechen und uns nicht zurückhalten oder ‹weisheitsvoll› abdämpfen?

Ja, ich habe ein großes Anliegen an Authentizität und an das Gefühl, mir nah zu bleiben. Für mich ist Entfremdung ein großes Thema. Vielleicht ist das auch der Punkt, warum ich in dieser Arbeit mit Menschen mit Assistenzbedarf gelandet bin. Was heißt es denn, mich authentisch zeigen zu dürfen, und was passiert, wenn ich mich entfremdet erlebe? Ich tue das auch ganz oft. Dann bin ich im Kopf und habe irgendetwas vor. Dann laufe ich herum und verliere den Kontakt zu diesem inneren, ursprünglichen Impuls und bin nur noch dabei, mit einer Meinung oder Verteidigung unterwegs zu sein. Dabei habe ich doch am Anfang so ein ganz nettes Bild davon gehabt, worum es geht. Dann muss ich im Hirn zurückrudern, um wieder ans Herz zu kommen.

Und wie ruderst du dann zurück? Wie geht dann diese innere Bewegung oder das Authentische wieder los?

Meine Methode ist, was man heute ‹Embodiment› nennt, also Wiederanschluss an den eigenen Körper, durch Atmung. Eine Übung, die ich sehr gerne mache und die ich jedem Menschen empfehlen kann, ist, in eine Körpermeditation zu gehen und zu spüren: Wie fühlt sich die Innenfläche meiner Haut an? Dadurch kann ich mich wieder verorten, und das ist nicht selbstbezogen oder egoistisch. Es geht darum, den inneren Kontakt zu sich zu fühlen. Ich habe das Gefühl, wir kommen so langsam dahin, dass der Körper auch in der Anthroposophie mehr Beachtung findet. Es gibt in der Eurythmie diesen Slogan: ‹Mein Körper ist mein Instrument.› Aber der Körper ist eben noch mehr. Er ist auch meine emotionale und seelische Ausgangsposition.

Es muss den Raum geben zum Annehmen, in dem ich mich zeigen darf mit meiner Verletzlichkeit und mit meiner Ungeschicktheit.

Das ist auch gesellschaftlich sehr relevant, denn die Schwierigkeit ist überall, in sich selbst hineinzuspüren, bei sich zu bleiben, einen authentischen Ausdruck in dem Moment mit den Menschen oder Situationen, die da sind, entstehen zu lassen. Die Offenheit und die gleichzeitige Aktivität, die das erfordert, was die Grundlage für ein gutes Zusammenleben wäre, fordert jeden Menschen heraus, den ich kenne. Gleichzeitig hängt dieser Anforderung an sich selbst immer noch etwas ‹Softes› an, das gern abgetan oder belächelt wird. Wie gehst du mit solcher Abwertung um, wenn du auf Tagungen Übungen anleitest oder in Leitungsgremien sitzt?

Ich muss wirklich wissen, was ich erreichen will. Das muss ich zuerst ganz tief prüfen. Ansonsten halte ich lieber die Klappe. Bei uns in Deutschland begleite ich Prozesse zur Entstehung des inklusiven Gemeinwesens. Wir haben eine ‹Zukunftswerkstatt› veranstaltet und wir haben die Stakeholder der Kommune gemeinsam mit den Menschen mit Assistenzbedarf eingeladen. Eine kleine Gruppe von 20 Menschen. Wir haben rote Herzluftballons mitgebracht und die Teilnehmenden mussten paarweise, immer ein Mensch mit und ohne Assistenzbedarf, diesen Luftballon zwischen sich haltend, durch den Raum gehen. Einmal den Ballon zwischen sich am Bauch, einmal am Rücken, einmal am Kopf haltend. Man kann sagen, das sei für Kindergeburtstage. Man kann aber auch hinterher fragen, was habe ich erlebt, gefühlt und vom anderen kennengelernt? Was war das für eine Beziehungsqualität und wofür brauche ich sie? Wir haben da eine Methode oder eine Möglichkeit, in die Leichtigkeit und miteinander ins Gespräch zu kommen.

Dieses Spiel blieb das zentrale Erlebnis des Treffens, auch im Nachhinein. Weil erlebt wurde, was uns das Künstlerische potenziell erlaubt. Aber ich muss wissen, warum ich eine solche Übung mitbringe und was ich mit ihr möchte, inwiefern sie dem Ziel des Treffens dient, sonst wird es abgetan oder als ‹kleine Lockerung› missverstanden.

Ist das auch für dich die Brücke vom Tanz- und Eurythmieschaffen zur Heilpädagogik?

Mich trägt bis heute die Idee, dass Bildungsprozesse, die ich auf der künstlerischen Ebene mache, eigentlich alle der Selbsterfahrung dienen. Wie ich diese Prozesse so gestalten kann, dass sie dem beruflichen Alltag dienen, wurde dann eigentlich mein Thema. So bin ich in die Berufsbildung eingestiegen. Auch wenn ich in der Sozialtherapie mit den Menschen mit Assistenzbedarf Eurythmie gemacht habe, habe ich das nie therapeutisch oder pädagogisch betrachtet, sondern immer als eine Selbstentwicklung. Wie entwickeln wir uns in solch einer Übung gemeinsam, damit ich nachher meine eigentliche Arbeit mit einer anderen Qualität wieder ergreifen kann? Wirksamkeit ist ein wichtiger Punkt.

Wir schwingen uns ein in den gemeinsamen Prozess, weg von der Leistungs- und Ergebnisorientierung.

Das ist einerseits auch das Spannende am Bewegen: die Wirkung. Das ist das Leben: Alles bewegt sich auf jeder Ebene die ganze Zeit, und das bedeutet immer eine Wirkung. Andererseits liegt in der Bewegung immer Motivation: Was bringt mich innerlich zu einer Handlung? Kannst du vielleicht sagen, welche Qualitäten oder Skills es sind, die du in den Selbstentwicklungsprozessen in Gemeinschaften herausforderst oder förderst?

Das schließt an den Anfang an. Wie darf ich mich als Mensch authentisch zeigen? Der Körper ist eben gnadenlos. Er verstellt sich nicht. Wenn ich mit einer gewissen Körperlichkeit ausgestattet bin, muss ich mit ihr leben. Ich kann ein bisschen abnehmen, ich kann ein bisschen zunehmen, ich kann ein bisschen Muskeln draufpacken. Das heißt, der Körper ist immer eine Begegnung mit etwas ganz Purem. Ich würde sagen, ich bringe Menschen eigentlich in sehr verletzliche Situationen. Das braucht viel Achtsamkeit während der Übungen. Ich muss immer daran denken: Wir gehen hier ganz kleine Schritte, denn mir ist bewusst: Das, was ich hier von euch wünsche, wirkt auf der Ebene der Verletzlichkeit. Es muss den Raum zum Annehmen geben, in dem ich mich zeigen darf mit meiner Verletzlichkeit und mit meiner Ungeschicktheit. Ein klassisches Beispiel: Ich arbeite auch manchmal mit Menschen aus der Führungsetage und da treffe ich auf viele geschickte und kluge Männer. Dann machen wir irgendetwas mit links und rechts und auf einmal hört ihre Geschicklichkeit auf. Dafür brauchen wir Wertschätzung, auch dieser sichtbaren Irritation gegenüber. Denn heutzutage scheint es schwierig, wenn man sich verunsichern lässt. Ich bin echt demütig, wenn ich es schaffe, dass ein Raum für Verletzlichkeit und Unsicherheit entsteht.

Du hast 2017 mit drei anderen Autorinnen ein Praxisbuch über Eurythmie in der Erwachsenenbildung geschrieben: ‹Spielraum für Unerwartetes›. Sind Unsicherheit und Verletzlichkeit die zentralen Motive?

Da war ich noch nicht so weit. Ich habe einen Teil über die Arbeit mit Menschen mit Assistenzbedarf und Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen geschrieben. Ich habe mit Klientinnen und Klienten, Mitarbeitenden und Gruppen gearbeitet. Und für das Buch habe ich einen Methodik-Didaktik-Teil aufgebaut. Aber wie bin ich an den Punkt von Verletzlichkeit und Unsicherheit gekommen? Dafür muss ich mich bei den Menschen mit Assistenzbedarf bedanken.

Zu der Zeit dachte ich auch noch, dass man für jeden und jede das Richtige finden muss und dass am Ende alles zusammenkommt. Jetzt würde ich sagen, wir müssen alle im Prozess mitnehmen. Das Tolle ist, dass wir dadurch alle langsamer werden, ruhiger, achtsamer. Wir schwingen uns ein in den gemeinsamen Prozess, und am Schluss tut das eigentlich allen ziemlich gut. Siehe Luftballonspiel. Weg von der Leistungs- und Ergebnisorientierung. Das merke ich auch in meiner praktischen Arbeitsvorbereitung mit Gemeinschaften. Wenn jemand zu mir sagt: Wir haben nur eine halbe Stunde Zeit, können Sie für eine halbe Stunde etwas anbieten? Dann sage ich: Ja, wir machen etwas in der halben Stunde und dort, wo wir nach der halben Stunde sind, reflektieren wir. Ich denke nicht mehr: Oje, was können wir in der halben Stunde machen und wo wollen wir dann sein? Den Prozess bestimmen die Beteiligten, nicht ich. Und das ist schon noch mal ein großer Paradigmenwechsel, wenn der oder die Anleitende sagt: Findet mal raus, was euer gemeinsames Tempo ist. Das ist nicht so einfach.

Anfang Oktober findet die internationale Tagung für Heilpädagogik und Sozialtherapie ‹Gesundheit auf all deinen Wegen› in Dornach statt, die ihr auch mit dem Untertitel ‹Verletzlichkeit – Liebe – Gleichgewicht› versehen habt. Sie wurde in ganz vielen beweglichen und bewegten Formaten gestaltet. Unter anderem wird es auch einen cineastischen Beitrag geben, von dem du noch kurz erzählen wolltest.

Ja, ich möchte noch auf die Autorin Pascale Karlin hinweisen. Sie ist Schweizerin, lebt im Jura und ist Anfang 50. Sie ist mit Autismus geboren und hat eine beeindruckende Entwicklung gemacht und darüber zwei Bücher beim Info3-Verlag veröffentlicht. In ihrem zweiten Buch erzählt sie die Geschichte, wie sie in ein Kloster geht und dort einen Mönch an der Tür trifft. Sie möchte gerne in dieses Kirchengebäude gehen, aber der Mönch sagt ihr, sie könne nicht hinein, weil darin ein Vogel sei. Sie fragt, was die Mönche denn mit dem Vogel machen würden. Er sagt, sie versuchten ihn mit dem Besen rauszuholen. Sie entgegnet ihm, dass man ihn mit dem Besen nicht rauskriegen könne, dass man doch mit ihm sprechen müsse. Und sie geht in die Kirche und nimmt diesen Vogel irgendwie in ihren Innenraum hinein und der Vogel fliegt raus. Sie war so enttäuscht, dass der Mönch nicht wusste, dass man mit dem Vogel sprechen kann, denn wer mit Gott spricht, muss doch auch wissen, wie man mit einem Vogel spricht.

Dieses Bild finde ich so brillant, weil es eben zeigt, wie Menschen etwas verscheuchen möchten. Das gibt es auch in der konventionellen ‹Behindertenhilfe›. In der konventionellen Denkweise will man etwas ‹wegkriegen›, weil man ein normatives Verständnis von etwas hat, anstatt in die Beziehung zu gehen. Pascale Karlin kommt auch zu unserer Tagung und wird dort eine Arbeitsgruppe leiten. Sie hat vor Kurzem den Film ‹Lebendiger Dialog› gedreht, den sie selbst alleine spricht, und ihr Sohn hat es gefilmt. Es geht um dieses Innenleben von Autismus. Sie selbst ist die ganze Zeit vor der Kamera. Diesen Film werden wir an der Tagung zeigen.

Der Anthroposophic Council for Inclusive Social Development führt alle zwei Jahre eine große internationale Tagung durch, und dabei wollten wir die interdisziplinären Felder, mit denen wir arbeiten, stärker beleuchten. Zuerst hatten wir vor vier Jahren die Sozialwissenschaften, dann vor zwei Jahren die Bildungswissenschaften und jetzt das Thema Gesundheit. Mit ‹Liebe›, ‹Verletzlichkeit› und ‹Gleichgewicht› haben wir drei Begriffe zur gesundheitlichen Entwicklung in den Raum gestellt. Mit ihnen wollen wir uns der Frage nach der individuellen, der gemeinschaftlichen, aber auch der Erdengesundheit widmen.

Das Hauptmotiv, das ich in diesem Gespräch wahrgenommen habe, ist, sich an der Wahrnehmung zu orientieren – handeln zu wollen, ohne etwas erreichen zu wollen. Ist das richtig?

Ich möchte noch das Wort ‹Bedürfnis› dazubringen. Nicht nur die Wahrnehmung zählt, sondern auch das Hinhören. Was ist denn das Bedürfnis der Menschen, die wir einbeziehen möchten? Und was ist die Fähigkeit des anderen Menschen? So kommen wir sofort ins Gemeinsame, komme ich sofort weg von mir. Also, Wahrnehmung auch hin zu den Bedürfnissen.


Podcast Das Gespräch ausführlicher zum Nachhören als Podcast auf der Seite des Goetheanums und den meisten Plattformen.

Veranstaltung Die internationale Tagung für Heilpädagogik und Sozialtherapie ‹Gesundheit auf all deinen Wegen – Verletzlichkeit, Liebe, Gleichgewicht› findet in Dornach vom 5. bis 9. Oktober statt, organisiert und getragen von dem Anthroposophic Council for Inclusive Social Development, der international für die Beratung und Netzwerkarbeit tätig ist.

Bilder Die Harmonie der komplementär Farben, Sonja Crone.

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