Sechs Kommunikationsgesten und das spielende Ich

Die ‹Sprachoffenbarungen› aus Rudolf Steiners ‹Schauspielkurs› helfen, unsere Kommunikationsmuster besser zu verstehen. Dietrich von Bonin hat diese zu sechs Sprachgesten ausgearbeitet, als Werkzeuge für ein spielendes Ich.


Schon das Kleinkind bezeugt sein Interesse an Dingen der Außenwelt durch deutende Gesten, die sich im Laufe seiner Entwicklung im Spannungsfeld zwischen extravertierter Wirksamkeit und introvertierter Distanz immer weiter differenzieren, ihr Gegenbild verlangen und sich als Urbild nonverbaler Kommunikation erweisen. Lässt sich in der weiten Landschaft intentionaler Gefühlsbeziehungen zur menschlichen und außermenschlichen Umwelt ein Muster, eine Ordnung erkennen, die zum Verständnis gelingender oder scheiternder Kommunikation, zum Einordnen und zur Therapie psychischer Störungen beitragen könnte?

In großen Polaritäten stehen sich drei weltzugewandte, extravertierte Gesten (‹Bewirken›, ‹Suchen›, ‹Zuwen­den›) und drei selbstorientierte, introvertierte Gesten (‹Zentrieren›, ‹Wegwerfen›, ‹Distanzieren›) gegenüber. Für sich genommen lässt sich zudem in jeder Geste wiederum eine Polarität im Verhältnis zwischen innen und außen erkennen, die bei gründlichem Studium zum Verständnis psychischer Störungen beiträgt und zu rationellen Therapieansätzen führen kann.1

Wenden wir uns zunächst den ursprünglichen Ausführungen Rudolf Steiners zu. Er bezeichnete diese Gesten als «Sprachoffenbarungen» oder «Nuancen» und beschrieb sie in drei Manifestationen als Qualität, Geste und Stimmqualität. Die sechs «Nuancen» erscheinen im täglichen Umgang selten in reiner Form, sondern in zahllosen Varianten gemischt, ganz wie die Grundfarben Gelb, Blau, Rot in ihren Mischverhältnissen die Farbigkeit der Welt hervorbringen. Gleichzeitig liegt in der Vermischung und einseitigen Dominanz eines Gebietes oder einer Polarität eine wichtige Ursache zwischenmenschlicher Konflikte und schlussendlich psycho-pathologischer Erscheinungen. Die ursprüngliche Reihenfolge der Gesten ist nicht zufällig. Sie schildert einen Weg, der in drei welt- und selbstbezogenen Gegensätzen hin- und herschwingt und von der willenshaften Polarität ‹Bewirken› und ‹Zentrieren› zum emotionalen ‹Suchen› und ‹Wegwerfen› führt und im reifen Weltbezug aus ‹Zuwenden› und ‹Distanzieren› endet.2

Wir erkennen sie im täglichen Leben, wenn die starke Dominanz einer Geste die gegenüberliegende Qualität herausfordert. Will beispielsweise mein Gegenüber eine Beobachtung teilen oder mich zum Handeln auffordern, so überlege ich, ob ich der Aufforderung entsprechen möchte, und zentriere mich zunächst. Anhaltende Suchbewegungen stecken an, reizen und lösen wegwerfende Gesten aus. Echtes ‹Zuwenden› ist nur möglich in gesundem Wechsel mit Distanznahme. Wir beschreiben die Gesten anschließend in der Reihenfolge Rudolf Steiners mit neuen Bezeichnungen.3

Bewirken und Zentrieren

Diese Polarität ist willens- und körpernah, das Gefühlsleben tat- und leiborientiert. ‹Bewirken› umfasst hier nicht nur die deutende Geste, sondern alles intentionale Handeln vom Ich zur Welt und als Wirkung von Wahrnehmungen auf mich. Der Griff zum Autoschlüssel, der Schlag mit der Axt und der absichtsvolle Gang zum Mittagessen – alle gehören in diese große Kategorie. Als Eindruck von außen wirkt die Welt auf uns ein und wir nehmen Bezug. Die Bemerkung: «Schau, ein Buntspecht», macht meine Begleitung aufmerksam und lenkt den erfreuten gemeinsamen Blick mit ihrer deutenden Geste. Aber auch die Umwelt wirkt ein und verlangt innere Stellungnahme. Der Lärm eines Baggers oder blendendes Licht bewirken zu viel. Um resilient zu sein, muss die Situation handhabbar bleiben; ich muss ausweichen können oder die Störquelle beseitigen. Übermächtige Wirkungen von außen erzeugen Unbehagen und Angst bis hin zur Phobie.

Im ‹Zentrieren› nehme ich die selbstbezogene Position ein und beurteile gerne nach einer Handlung das Ergebnis. Bauvorhaben gelingen nur auftragsgemäß, wenn die Arbeitenden zwischen ihren Aktionen die Pläne betrachten oder die Senkrechte einer Mauer zurücktretend beurteilen. In solchen Fällen gehen fast alle Menschen zu differenzierten Berührungen des eigenen Körpers über. Der Berührungsort lässt mein Gegenüber an inneren Vorgängen teilnehmen und wird bei intensiver Synchronie unbewusst übernommen. Wir spüren: «Es ist Zeit zum Mittagessen» und unterbrechen die Arbeit. Menschen, die in gesundem Gleichgewicht zwischen ‹Bewirken› und ‹Zentrieren› leben, sind gesund, aber nicht unbedingt kommunikativ; sie wirken in Beruf und Alltag produktiv und sind häufig skeptisch gegenüber Beratung und Therapie. Erst wenn das Gleichgewicht längerfristig gestört ist, wie durch Überforderung am Arbeitsplatz, wacht am körperlichen Leiden der Drang zur Änderung auf und die Bereitschaft, Hilfe in Anspruch zu nehmen. So liegt eine Gefahr dieser Polarität in seelischer Verarmung und Routine, während sie günstig und notwendig ist, um Projekte zu verwirklichen und Erfolg zu haben.

Suchen und Wegwerfen

Im großen Feld von ‹Suchen› und ‹Wegwerfen› drücken sich unsere Emotionen als Wünschen, Suchen, Begehren, Wut, Hass, Ekel oder Ekstase aus. Solche Gefühle nehmen ihren Träger, ihre Trägerin stark ein. Hier spielen sich auch die meisten Konflikte ab. Provokation als Spielart des ‹Suchens› erzeugt wegwerfende Aggression, die zu seelischen und körperlichen Verletzungen führt. Diese rufen wiederum das ‹Suchen› in Form von Verzweiflung und Anteilnahme der Umgebung hervor, bis sich das Spiel wiederholt. Sind Menschen oder Menschengruppen im Pingpong dieser Gegensätze gefangen, so kann eine Lösung nur aus den beiden anderen Polaritäten entstehen. Bei Konflikten zwischen Kindern schreiten Erziehungsberechtigte mit ‹wirksamen› Interventionen ein, im günstigen Fall gefolgt von gemeinsamem ‹Zentrieren› und schlussendlich gegenseitiger ‹Zuwendung› oder auch ‹Distanznahme›.

Die häufigsten Konflikte dieser Art spielen sich zwischen Paaren ab. Das Vorherrschen von ‹Suchen› und ‹Wegwerfen› in Beziehungen hat zwei Seiten: ‹Suchen› erzeugt die größte Offenheit, führt aber auch leicht in tiefste Hilflosigkeit. Der Wechsel zwischen suchendem Begehren und ‹Wegwerfen› gibt Beziehungen grelle Farbigkeit und Dramatik – wie sie vielen Serien, Filmen und Theaterstücken zugrunde liegt – führt aber gleichzeitig zur Ambivalenz. Die Betroffenen wissen nicht, was sie wirklich wollen. So ist diese Polarität die Grundlage stärkster Bindung zwischen Menschen und blockiert andererseits – negativ gefärbt – jede weitere Entwicklung. Durch die starke unbewusste Bindung bringen wir uns in immer größere Abhängigkeit, die ganze Biografien überschattet. Ausagiertes ‹Suchen› und ‹Wegwerfen› überträgt sich sofort auf andere und ruft unmittelbar große Beteiligung im Umfeld hervor, es steckt an. Parteinahme und Massenhysterie mit allen schrecklichen Folgen resultieren als das tragische Lernfeld der Empfindungsseele und reißen das Ich aus dem Zentrum seiner sechs Möglichkeiten. Solche tragisch reduzierte Dynamik spielt sich leider auch ab zwischen Völkern und Nationen und äußert sich in Krieg bis zur Erschöpfung oder gegenseitigen Vernichtung. Auch im Großen ist innerhalb der Polarität keine Lösung möglich. Was aber wären wir Menschen ohne Suchen und Wegwerfen? Effizienz und unreife Achtsamkeit nähmen überhand, tauchten wir nicht immer wieder in das Bad heftiger Gefühle, die herausfordern, einnehmen und uns erst zum Mensch unter Menschen machen.

Zuwenden und Distanzieren

Diese Polarität findet sich vor allem bei ausgeglichenen Menschen; man muss sie im Leben erringen und sie bildet die Grundhaltung der Lebensreife als Frucht genügenden Auslebens und Umwandelns der beiden anderen Polaritäten. Solche Menschen stehen im Gleichgewicht mit sich und anderen. Sie strahlen aus in ihren Umkreis, denn sie haben mehr für sich geschaffen, als sie benötigen und geben es weiter. Im ‹Distanzieren› gelingt die Abgrenzung von der Umwelt, ohne verletzend auf die Mitmenschen zu wirken. Beide Gebärden setzen ein hohes Maß an Selbstkontakt voraus: Der empathisch agierende Mensch verliert sich nicht im anderen. ‹Distanzieren› wird möglich, wenn man rechtzeitig die Grenzen der eigenen Belastbarkeit erlebt. Liegt dieser Selbstkontakt (noch) nicht vor, kann ‹Zuwenden› in Kontrollzwang und ‹Distanzieren› in permanenter Reflexion enden. Unwillkommene Zuwendung erzeugt im Gegenüber das Bedürfnis nach Distanz. Andererseits entsteht nur aus einem gewissen Gefühl des Getrenntseins, einer Distanz, das Bedürfnis, Zuwendung zu schenken oder zu empfangen.

Ab und zu tritt diese Polarität wie eine ‹Frühgeburt› vor allem bei kognitiv veranlagten Menschen auf. Solche Personen neigen zu ständiger Reflexion und gegenseitiger Kontrolle und verkennen die ins Unbewusste verdrängten anderen Gesten. Wer alle Gesten körperlich und seelisch vom Ich aus zu leben und zu handhaben versteht, kann als selbstkompetent gelten.

Bezug zur Biografie

Drei Hauptphasen des Erwachsenenlebens erscheinen dominiert von je einer Polarität als Grundfärbung, ohne dass die anderen fehlen dürfen. ‹Suchen› und ‹Wegwerfen› beherrschen während der Pubertät und im jungen Erwachsenenalter die Gefühlswelt. Einerseits gilt es, zur Selbstfindung das Elternhaus, die Lehrerschaft, die Freunde und das Land zeitweise hinter sich zu lassen und in diesem Sinne ‹wegzuwerfen›. Andererseits ist das Neue noch unbekannt und löst großes, ständiges ‹Suchen› aus: ‹Wer gehört wirklich zu mir?› ‹Welcher Beruf befriedigt mich und passt in meine Lebensumstände?› ‹Wo werde ich wohnen?› Das Pendeln in dieser Polarität ist anstrengend, aber notwendig zur inneren Entwicklung. Es nimmt über den Astralleib das Nervensystem besonders in Anspruch, was nur in der Jugend gesund auszuhalten ist, und hilft, die eigenen körperlichen und psychischen Grenzen auszuloten und einschätzen zu lernen.

Der darauffolgende, meist längste Lebensabschnitt erscheint vom Erwerbsleben, von Familie und Notwendigkeiten geprägt. Er ist nur durch einen klaren inneren Schwerpunkt auf der Willenspolarität von ‹Bewirken› und ‹Zentrieren› erfolgreich zu meistern. Typisch verlagert sich bei vielen Menschen in dieser Zeit das ‹Suchen› und ‹Wegwerfen› aus der persönlichen Biografie ins Miterleben von Kultur und Kunst. Im Theater, in Filmen und Serien folgt man aus dem Sessel gern dem Ringen anderer Menschen, schwingt mit, ist aber froh, diesen Lebensabschnitt hinter sich zu haben. Jede Krise wirft zurück ins ‹Suchen› und ‹Wegwerfen›, erneuert die Jugendlichkeit, muss aber für ein gelingendes Leben am Ende zu bewältigen sein (‹Bewirken›) und auf neue Weise ins Zentrum, in die eigene Mitte führen.

Ist das Ich in der Seele durch viele Lebenserfahrungen ganz angekommen und freier von eigenen Bedürfnissen und äußeren Notwendigkeiten, so öffnet sich die Möglichkeit, das Errungene zu verschenken. Gleichzeitig lehrte das Leben solche Menschen, die eigenen Grenzen zu kennen und sich angemessen zu distanzieren. Zufriedenheit als Errungenschaft prägt im günstigen Fall den ersten Altersabschnitt, was in Begriffen wie ‹Altersweisheit› zum Ausdruck kommt.

Ins Spiel kommen

Lernen wir, uns als bewegende und bewegte Kommunikationspartner in diesen Gesten zu erleben und ihre Projektionen in die Stimme zu hören und anzuwenden, so ergeben sich reiche Spielmöglichkeiten. Jede Geste entspricht einer ganzen Erlebnislandschaft mit vielen Eigenschaften im Zusammenspiel zwischen der eigenen Person und der Umgebung.4 Im täglichen Umgang setzen alle Menschen diese gestischen und stimmlichen Modi unbewusst ein. Wir erleben uns in gelungeneren oder schwierigeren Kommunikationssituationen. Gelingt es, über die spontane, unbewusste, primäre Reaktion hinaus weitere stimmliche oder gestische Handlungsoptionen einzusetzen, so gestalten wir unsere Lebensrolle vom Ich aus mit größerer Freude und Selbstkompetenz.

Kleine Polaritäten

Jede der sechs Gesten entfaltet sich auch in sich selbst agierend oder reagierend im Spannungsverhältnis zwischen innen und außen und unterliegt in beiden Fällen Einflüssen von außerhalb des Ich. Wir sprechen von ‹Erlebnislandschaften›, weil jede archetypische Geste ein großes Gebiet aus zahlreichen Gefühlen und inneren Bildern umfasst. An den Rändern jeder Landschaft liegen Bereiche, die dem Zentrum der Person weniger nahestehen, aber sehr wirksame und dramatische Repräsentationen umfassen können. Solange dies möglich ist, bleibt das Spielfeld offen. Misslingt der Ausgleich über längere Zeit, so beschreiben wir dies als psychische Störung oder Krankheit. Entscheidend ist die Ich-Fähigkeit zur Selbststeuerung. Innere Zustände, die die eine Person in psychiatrische Behandlung brächten, gelten für Menschen mit großer Ich-Kompetenz und psychischer Resilienz als künstlerische Inspirationsquelle, wie zahlreiche Beispiele aus der bildenden und darstellenden Kunst belegen. Möglicherweise geht die Neigung zur Entwicklung einer Psychose und die Fähigkeit, einen kreativen Beruf auszuüben, sogar auf die gleichen genetischen Wurzeln zurück, wie eine große nordische Forschungsarbeit nahelegt.5

Zusammengefasst legte mit dieser aphoristischen Anregung Rudolf Steiner vor 100 Jahren ein Samenkorn, das in den Herzen vieler Schauspielender weiterlebte und heute kräftig knospend seine Wirksamkeit weit über die Bühne hinaus erweist und befruchtend auf das soziale Leben und die Therapie wirkt.


Formen von Ella Lapointe (Instagram: ellapointe), 2024. Vektorisierte Tinte

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Footnotes

  1. Bearbeitung eines Kapitels aus: Dietrich von Bonin, Esther Böttcher, Jan-Gabriel Niedermeier, Franziska Schmidt-von Nell, Therapeutische Sprachgestaltung. Salumed-Verlag, Berlin 2024.
  2. Zur Einführung eignet sich ein kurzes Video zur nonverbalen Ausführung der Gesten. Zum Einloggen: Benutzer: tsbuch; Passwort: ThSp23!
  3. Für die originalen Bezeichnungen Rudolf Steiners von Bonin 2024, siehe Tabelle 1, S. 258 in: siehe 1.
  4. Konkrete Anregungen siehe: von Bonin 2024 (Fußnote 1).
  5. R. Power, S. Steinberg, G. Bjornsdottir et al., Polygenic risk scores for schizophrenia and bipolar disorder predict creativity. Nature Neuroscience 2015; 18 (7). S. 953–955.

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