1991 war es in der Schweiz ein erster kollektiver Aufschrei. Am 16. Juni waren Hunderttausende auf der Straße, um erneut Gleichberechtigung zu fordern. Dabei geht es nicht um persönliche Interessen, sondern um die Sehnsucht, in einer menschlichen Gesellschaft zu leben.
In der jüngsten Studie zur Familienfreundlichkeit listet das UNO-Kinderhilfswerk UNICEF die Schweiz auf dem letzten Platz in Europa. Untersucht wurde dabei das Angebot an Kinderbetreuung, das Maß an bezahltem Mutter- und Vaterschaftsurlaub etc. Die Schweiz, das Land mit dem höchsten wirtschaftlichen Lebensstandard Europas, tut am wenigsten für Familie und Gleichstellung. Der Termin für den Frauenstreik, zu dem Gewerkschaften und Frauenverbände aufriefen, hätte deshalb kaum besser sein können. Laut den Organisatorinnen haben mehr als 500 000 Menschen an schweizweiten Kundgebungen teilgenommen. Nach 1991 und 2011 war es der dritte Frauenstreik in dem Land, das sonst wenige Streiks kennt. ‹Lohn, Zeit, Respekt› ist die Kurzformel der Forderungen, denn noch immer hinkt die Bezahlung auch bei gleicher Arbeit fast 20 Prozent hinter den männlichen Löhnen hinterher. Gleichzeitig arbeiten Frauen wegen der Doppelbelastung von Beruf und Familie häufig mehr als Männer. Und schließlich sind sie körperlich und seelisch herabwürdigendem Verhalten ausgesetzt. Deshalb begann der Streik symbolisch um 15.34 am Freitag, weil ab dieser Zeit nummerisch Frauen täglich umsonst arbeiten. Die Gewerkschaften listen ausführlicher zehn Forderungen auf. So arbeiten in der Schweiz 60 Prozent der Frauen und nur 16 Prozent der Männer in Teilzeit, was häufig zu schwierigen Lebenslagen führt. Die Renten sind bei Frauen in der Schweiz 37 Prozent tiefer als die von Männern. Auf den Plakaten waren es aber weniger diese mess- und zählbaren Nachteile als vielmehr eine allgemeine Benachteiligung. Caroline Döhn, Personalchefin am Goetheanum, hatte für den Freitag eine Veranstaltung am Goetheanum organisiert und dann am Nachmittag an der Demonstration in Basel teilgenommen. Mitarbeitende des Goetheanum schilderten Biografien von Künstlerinnen wie von der Malerin Sophie Taeuber-Arp oder der Bildhauerin Edith Maryon. Ältere Mitarbeitende schilderten, dass sie vor 30 Jahren in vielen Betrieben in der Schweiz unterschreiben mussten, nicht über die Höhe des eigenen Gehalts zu sprechen. So war jede Willkür möglich. In Basel sei es, so Caroline Döhn, ein eindrucksvolles Bild gewesen. Menschen aller Alterstufen und jeden Berufs, Frauen wie Männer, seien auf der Straße gewesen, denn tatsächlich gehe die Gleichberechtigung alle an. Dass man als Vater bei der Geburt des Kindes nur drei Tage frei bekomme und womöglich noch schräg angeschaut würde, wenn man diese Tage nutze, zeige, dass auch Männer unter der familienfeindlichen Politik leiden. Dann beschreibt Caroline Döhn den eigentlichen Wert der großen schweizweiten Demonstration: Es gehe um eine umfassende Besinnung. Wie wollen wir miteinander leben? Dabei zählten nicht die eigenen Interessen, nicht der eigene Vorteil, sondern es gehe um mehr, es gehe um die Kultur des menschlichen Zusammenlebens. Der Wunsch, als ganze Gesellschaft hier einen Schritt zu machen, sei auf der Demonstration so stark spürbar gewesen, dass nicht wenige so ergriffen waren, dass ihnen die Tränen in den Augen standen.
Caroline Döhn ergänzt, dass viele, sie selbst eingeschlossen, auch aus Dankbarkeit auf die Straße gegangen seien. Es sind gerade ewas mehr als hundert Jahre vergangen, als sich in England Emily Davison beim Pferderennen vor das Pferd des Königs stürzte, um so für die Frauenfrage Aufmerksamkeit zu erreichen. Sie starb wenige Tage später. Diesen Frauen sei man es schuldig, nun die so hoffentlich bald letzten Schritte für eine Gleichberechtigung der Geschlechter zu gehen. Überwältigend sei auch die Solidiarität an der Kundgebung gewesen. Oft sei man in der Benachteiligung alleine, hier auf den mit Spruchbändern und lila Luftballons gefüllten Straßen war zu spüren, dass es eine gesellschaftliche Gemeinschaft gibt, die gegen das Unrecht, unter dem Einzelne womöglich selbst gar nicht zu leiden haben, auf die Straße gehen. So wurde auf manchen Plakaten die Lage der Migrantinnen angemahnt. Döhn: «Wir vergessen leicht, unter welch unmenschlichen Bedingungen selbst in einem so reichen Land wie der Schweiz manche Frauen zu arbeiten haben: Viele Hotels vergeben die Reinigung an Subunternehmen. Ausschließlich Frauen sind in diesen schlecht bezahlten Jobs tätig. Zwölf Minuten hätten sie Zeit, ein Zimmer nach der Abreise für einen neuen Gast zu reinigen. Und sie wissen oft nicht, ob sie übermorgen noch ihren Job haben werden – harte Gegenwart und ungewisse Zukunft.» Ist das nicht moderne Sklaverei, fragt Caroline Döhn. Das erinnert mich an die Schilderung von Linda Thomas, die in vielen Unternehmen Vorträge über Reinigung und Putzen hält. Bei einem Großunternehmen habe sie den Managern ins Gewissen geredet: «Wenn ihr heute nachmittag euer Büro verlässt, dann tretet nicht den Papierkorb noch tiefer unter den Tisch, sondern holt ihn hervor und stellt ihn am besten auf den Tisch. Das wird den Rücken der Reinungsfrau schonen und ihr Würde geben.»
Foto: Caroline Döhn