Grußworte

Acht Redakteure und Redakteurinnen und die Druckerei binden dem ‹Goetheanum› zum 100. Geburtstag einen Blumenstrauß.


Dokument Vertrag der Futurum AG
mit der Buchdruckerei Emil Birkhäuser vom 1.8.1921 über den Druck der Wochenschrift ‹Das Goetheanum›, Seite 1 von 3. Quelle: Rudolf-Steiner-Archiv.

Gratulation zum Jubiläum

Zu 100 Jahren Geisteswissenschaft und Medizin möchten wir Ihnen ganz herzlich gratulieren und unsere besondere Hochachtung für dieses beachtliche Arbeits- und Leistungswerk zum Ausdruck bringen.

Der Erfolgsweg Ihres Unternehmens ist Beleg für das unerschütterliche Fundament der gemeinsamen Kraft einer vereinten Zusammenarbeit, wenn sie von Mitarbeitern getragen wird, die gemeinsam an einem Strang ziehen. So haben Sie nun 100 Jahre alle nur denkbaren Herausforderungen souverän gemeistert.

Wir freuen uns auch in Zukunft darauf, diesen Weg gemeinsam mit Ihnen fortzusetzen, denn diese besondere Zusammenarbeit führt zu nachhaltigen Veränderungs- und Entwicklungsprozessen, die das Leben des Einzelnen um wertvolle Erfahrungen bereichern.

Herzlichst Ihre Birkhäuser+GBC AG


Claudius Weise

Ein Element des Ausgleichs

Es gibt Wunder, die man nicht bemerkt. Dazu gehört die schiere Existenz der ‹Wochenschrift›. Heutzutage ist es schwer genug, überhaupt noch ein Printmedium am Leben zu erhalten.

Aber eine anthroposophische Zeitschrift, die (fast) jede Woche erscheint – und das ununterbrochen seit nunmehr 100 Jahren? Als die ‹Wochenschrift› gegründet wurde, waren Zeitungen noch das unangefochtene Leitmedium, morgens, mittags, abends und sogar nachts erschienen täglich aktuelle Ausgaben. Auch Zeitschriften, ob sie nun im Wochen- oder im Monatsrhythmus veröffentlicht wurden, gab es im Überfluss. Es war selbstverständlich, dass die anthroposophische Bewegung hier sichtbar werden wollte, zumal es seit 1908 keine deutschsprachige anthroposophische Zeitschrift mehr gab. Insbesondere das Anliegen, die soziale Dreigliederung bekannt zu machen, befeuerte nach dem Ersten Weltkrieg die Produktivität, und auch das ‹Goetheanum› firmierte zunächst als ‹Internationale Zeitschrift für Anthroposophie und Dreigliederung›, bis man dem veränderten Zeitgeist im Mai 1933 erst die Internationalität und im Oktober 1935 die Dreigliederung zum Opfer brachte.

Die ‹Wochenschrift› hatte es immer etwas leichter und zugleich schwerer als die Konkurrenz, und zwar aus demselben Grund: weil sie die Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft im Rücken hat. Da ist ein Vorstand, der sich auch nicht immer einig ist, aber mit vollem Recht erwartet, dass man gegen ihn keine Opposition macht. Da ist eine Mitgliedschaft, die schon gar nicht auf einen Nenner zu bringen ist, sich aber ebenfalls in ihrer ganzen Breite repräsentiert sehen möchte, weil sie den Laden schließlich finanziert. Und dann gibt es die weitere anthroposophische Bewegung, in der es keineswegs selbstverständlich ist, sich für diese Zeitschrift überhaupt zu interessieren. Bedenkt man nun, dass es dem Zeitgeist längst zuwiderläuft, sich regelmäßig Druckerzeugnisse ins Haus liefern zu lassen, hat man ein ungefähres Bild von den Herausforderungen, welche die Redaktion zu meistern hat.

Die Coronapandemie hat diese Aufgabe nicht leichter gemacht, weil die Spaltung der Gesellschaft auch durch die anthroposophische Bewegung geht. Es spricht aber für die gegenwärtige Redaktion, dass sie diese Krise als Chance genutzt hat, um den Wert eines Organs wie der ‹Wochenschrift› unter Beweis zu stellen. Gewohnt, in einer hoch individualisierten, zu weltanschaulichen Grabenkämpfen neigenden Bewegung ein Element des Ausgleichs und der Vermittlung zu bilden, hat sie in den letzten Monaten mit unverwechselbar anthroposophischer Stimme gesprochen, ohne sektiererisch zu sein, und immer wieder gehaltvolle Artikel veröffentlicht, die Anregung und Orientierung bieten. Im Zeitalter der Polarisierung ist nichts so spannend wie Mäßigung und Vernunft. Die gestiegene Zahl der Abonnemente spricht für sich – und so wünsche ich den Kolleginnen und Kollegen weiterhin gutes Gelingen im Umgang mit diesem so kostbaren wie schwierigen Erbe!

Claudius Weise ist Redakteur der Monatszeitschrift ‹Die Drei›.


Ruth Ewertowski

Gefühl der Beheimatung

Das ‹Goetheanum› gehört einfach dazu: Einmal in der Woche muss es auf dem Schreibtisch liegen, bildschirmfrei, in Papier.

Auch wenn ich es mal nur durchblättere, um den einen Artikel zu finden, um den es für mich geht, so gibt es mir doch regelmäßig ein gewisses Gefühl der Beheimatung. Und damit es nicht zu gemütlich wird, finde ich dann auch immer wieder mal einen Beitrag, der mir ‹gegen den Strich› geht. Das ist gut so.

Des Öfteren wundere ich mich über die Großzügigkeit, mit der ein Text auf einer Seite verteilt wird: Das ist ästhetisch und gefällt mir. Zugleich denke ich aber: Platzverschwendung. Das gab es in früheren Jahren so nicht, aber das ist gewiss kein Argument. Trotzdem komme ich ins Schwanken: Können wir uns das leisten? Gibt es vielleicht zu wenige ‹brauchbare› Artikel? Oder ist es gerade gut, hier den Atem walten zu lassen, der uns aus dem Ökonomischen befreit?

Einem Geburtstagskind wünscht man Gesundheit und ein langes Leben. Beides gehört zusammen. Ich wünsche dem ‹Goetheanum› vielleicht einen Hauch mehr kritischen Geist, insbesondere den eigenen Eigenheiten gegenüber – damit meine ich ‹die Szene› oder ‹unsere Kreise›. Selbstkritik und wohl auch der Humor gehören zur viel beschworenen Bewusstseinsseele. Was mit ihr genau gemeint ist, lässt sich schwerer sagen als tun. Wenn’s gelingt, dann können wir uns noch viele Jahre über das ‹Goetheanum› freuen.

Ruth Ewertowski ist Redakteurin der Monatsschrift ‹Die Christengemeinschaft›.


Jens Heisterkamp

Welch schöner Name

Wahrscheinlich bin ich nicht der Einzige, der das so empfindet, aber das Schönste an der Dornacher Wochenschrift ist für mich der Name.

Sie heißt ja nicht etwa ‹Anthroposophische Allgemeine›, sie wurde auch nicht ‹Anthroposophische Rundschau› genannt, sondern eben: ‹Das Goetheanum›. Es ist für ein Organ mit repräsentativem Charakter nicht selbstverständlich, dass Anthroposophie im Namen gar nicht vorkommt. Der Bezug auf Goethe im Namen signalisiert: Die dahinterstehenden Menschen wollen mehr als nur für eine spezielle Gruppierung sprechen, sie verstehen sich mitten in der besten, anerkannten geistigen Tradition, sie beziehen sich auf einen bedeutenden Kulturträger, an den sie mit ihrer Arbeit anknüpfen möchten. Das gilt natürlich ebenfalls für die gleichnamige Einrichtung im schweizerischen Dornach, die eben nicht etwa ‹Weltzentrum für Anthroposophie› genannt wurde, sondern mit ihrem Namen einer vorangegangenen Geistesgröße ihre Reverenz erweist – und sie mit einer neuen Nuance versieht. ‹Das Goetheanum› – darin zeigt sich die Wertschätzung für das, was geworden ist, wie auch die Richtung, wohin der eigene Beitrag gehen könnte. Es ist eine Geste des Anknüpfens und der Verpflichtung.

Der Name – ein Glücksfall; traditionsbewusst, aber auch modern, anspruchsvoll und weltoffen. Was für ein Auftrag, ihn Woche für Woche mit Leben füllen zu dürfen!

Jens Heisterkamp ist Chefredakteur der Monatszeitschrift ‹Info3›.


Konstanze Brefin-Alt

Dass ihr im Wind das Boot haltet

Seit 1983 mit der Wochenschrift ‹Das Goetheanum› zunächst direkt, als Mitarbeiterin in der Redaktion, und ab 1990 indirekt, durch die Zusammenarbeit der ‹Schweizer Mitteilungen› mit der Wochenschrift verbunden, überschaue ich fast vier Jahrzehnte der Jubilarin.

Ich erinnere mich noch an so manches Gespräch mit Friedrich Hiebel (1903–1989), der, nachdem er 1963 Leiter der Sektion für Schöne Wissenschaften geworden war, 1966 auch die Herausgabe und Redaktion der Wochenschrift ‹Das Goetheanum› übernahm und bis zu seinem Tod Herausgeber blieb. Ein Jahr bevor ich an die ‹Wochenschrift› kam, hatte er für die Redaktion Martin Barkhoff (*1951) und Manfred Krüger (1938–2019) gewonnen. Zwei Persönlichkeiten, die unterschiedlicher nicht hätten sein können: der eine Flamme für alles, was noch nicht verstanden ist oder scheint, der andere der Denker in seinem Studierzimmer – sie hatten es nicht nur einfach miteinander.

Warum ich das erwähne? Friedrich Hiebel hatte mit diesen beiden einen möglichst breiten Bogen gespannt, in dem thematisch und standortmäßig viel Raum entstand, sodass alle oder zumindest viele verschiedene Strömungen sich vertreten fühlen konnten. Dieses kompetitive Moment wirkte sich manchmal weit über die ‹Wochenschrift› aus und die von ihnen aufgeworfenen Themen wurden tatsächlich sich aufeinander beziehend in den verschiedenen anthroposophischen Zeitschriften und Foren behandelt, diskutiert, erstritten. Gleichzeitig entwickelte sich ungewollt eine lähmende Konkurrenz: Die Redaktion fand sich immer stärker in Opposition zum damaligen ersten Vorsitzenden der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft, Manfred Schmidt-Brabant. Was 1995 dazu führte, dass die Redaktion in die ganze Welt zersprengt wurde.

In einer Nacht-und-Nebel-Aktion bildete sich eine neue Redaktion, die die ‹Wochenschrift› in ruhige Gewässer führte. Nun zeigte sich, dass mit jeder Redaktion, die das Ruder übernahm, jedes Mal eine andere Gruppe, ein anderes Umfeld, eine andere Strömung tragend wurde. Das wirkte sich einerseits auf die Leserzahlen aus, aber interessanterweise auch auf die Konkurrenz mit den anderen anthroposophischen Periodika; schließlich sind die Redaktorinnen und Redaktoren auch ganz bewusst regelmäßig im Austausch. Und im ersten Jahrzehnt nach dem Jahrtausendwechsel hatten alle ihre Leserschaft gefunden und sich eingerichtet. Der geistige Wettstreit spielte noch in den regelmäßigen Treffen der Redaktionen, aber kaum mehr in den Zeitschriften selbst.

Deshalb wünsche ich der Wochenschrift ‹Das Goetheanum› eine Intensivierung des redaktionellen Spannungsbogens, befeuernde innere Konkurrenz, die weit in das anthroposophische Umfeld strahlt und dort eine wagnismutige Gesprächskultur belebt – in der Hoffnung selbstverständlich, dass ihr im steifen Wind das Boot halten könnt.

Konstanze Brefin-Alt ist Redakteurin des Monatsblattes ‹Anthroposophie – Mitteilungen aus dem anthroposophischen Leben in der Schweiz›.


Matthias Maurer

Eine kurze Geschichte

Was kann man dem Goetheanum in seiner tiefen Bedeutung, sei es als Bau oder Kulturstätte, sei es als Hochschule oder Zeitschrift, als adäquaten Geburtstagsgruß kredenzen? – Eine kurze Geschichte. Sie ist nicht erfunden, sie ist bisher nur erzählt worden, weist aber vielleicht in die Zukunft:

Ich traf den damaligen Leiter der Pädagogischen Sektion, Heinz Zimmermann, wie es der Zufall wieder einmal wollte, im Zug auf einer Rückreise. Wir kamen ins Gespräch, und launig sprechen konnte man mit ihm. Er fragte mich: «Was soll aus dem Goetheanum werden?» Ich antwortete: «Eine Hochschule!» Er schaute mich fragend an. «Eine anthroposophische Hochschule!», wiederholte ich. Er schaute mich nun etwas zweifelnd an. «Eine internationale freie anthroposophische Universität, akkreditiert und mit möglichst allen Fakultäten», präzisierte ich. Es schien ihm etwas zu dämmern. Ja, man würde ja schon dies und das machen, nun ja, es sind Anfänge … Ich sagte: «Das Goetheanum ist keine Gelegenheitsfortbildungsstätte für Geistkonsumenten, kein Museum oder Tempel, sondern ein Begegnungsort, der eigentlich rund um die Uhr aus allen Nähten platzen müsste, voller Menschen aus aller Welt, die hier Jura, Medizin, Landwirtschaft, Kunst, Architektur, Pädagogik, Natur- und Sozialwissenschaften usw., ja, und Anthroposophie studieren können. Am besten mit akademischem Abschluss und Promotionsmöglichkeit. Anthroposophische Professoren gibt es genug und vielleicht auch einige, die hier als Pensionisten gerne Lehraufträge übernähmen. Ein internationaler Campus, eine geistige Produktionsstätte. Es muss Leben in die Bude!» Zimmermann lachte sein bekanntes Lachen und bemerkte: «Haben wir nicht schon solche Hochschulen?» – «Nein, solche haben wir meines Erachtens nicht. Ich meine eine Hochschule, in der die Anthroposophie nicht als Appendix, Erweiterung oder Nebenprodukt rangiert, sondern dezidiert zentraler Ausgangspunkt von Lehre und Forschung ist …, dazu hätten wir doch als Anthroposophen alle Freiheit, oder?»

Mit 100, das haben wir schon bei ‹waldorf100› bemerkt, kassiert man ja – zumindest wenn man einem Gedanken Rudolf Steiners folgen mag – eine geistige Hypothek, die gegenwärtig durch die Corona-Herausforderung auf dem Prüfstand steht: den Ursprungsimpuls in sich mindestens wieder so zu entfachen, wie er vor 100 Jahren zündete, sonst würde der ‹Geist› nach und nach verduften. Damit sind weder die muffige Fortschreibung von Traditionen à la «Der Doktor hat gesagt …» noch äußerliche Geschäftigkeit oder medialer Rummel gemeint, sondern eine spirituelle Bewegung, die erfahren hat und weiß, nicht glauben muss, dass Anthroposophie eine Wissenschaft ist, die man mit ‹gesundem Menschenverstand› denken kann. Eine Bewegung, die weiß, dass äußere Anerkennung, Kosmetik und Anbiederei nie das Ziel sein können. Die wache und kritische Verständigung des anthroposophischen Bewusstseins mit sich selbst und der Welt: Das ist die Aufgabe des Goetheanum.

Matthias Maurer ist Redakteur der Monatszeitschrift ‹Erziehungskunst›.


Ulrich Meier

Vom Ergebnis zum Quell des Erkennens

Ich habe eine besondere Liebe zu den Aufsätzen Rudolf Steiners entwickelt, die in der ersten Zeit des ‹Goetheanum› erschienen sind.

Aus und nach der unerschöpflichen Fülle vorgetragener Anthroposophie schafft der Redakteur, Buchautor und Sprachschöpfer Steiner hier noch einmal neu, was sich in der besonderen Form des gedruckten Buchstabens verbreiten lässt. Manche Aufsätze erscheinen in Serie, wie der von mir lange jährlich vorgenommene ‹Der Kampf Michaels mit dem Drachen›, dessen methodischer Aufbau mir beispielhaft erscheint.

Blicke ich heute auf die Ergebnisse der Arbeit der Kolleginnen und Kollegen, dann steht mir als Kontinuum zum Anfang der wache Blick in die Zeit vor Augen, die Bemühung um Transparenz innerhalb der Anthroposophischen Bewegung und die Suche nach der Kraft, die aus neuen Initiativen hervorgeht. Das empfinde ich als Fortführung von Steiners Intentionen im Geiste des Anfangs. Eine Ebene oder besser ein Grundton ist jedoch anders: Die aktuellen Hefte wollen weniger Ergebnisse vermitteln als vielmehr Anknüpfungspunkte bieten, die zu eigener Arbeit anregen. Dafür muss nicht mehr darauf geachtet werden, dass die Themen ‹richtig› oder gar ‹vollständig› ausgelotet werden, sondern gerade das Angedeutete, Aphoristische oder nur Fragmentarische kann zum Stilmittel werden, die Lesenden in einen Dialog einzuladen, in dem sie schöpferisch tätig werden können.

Ulrich Meier ist Redakteur der Zeitschrift ‹Die Christengemeinschaft›


Michael Olbrich-Meyer

Was mir das Goetheanum ist

Goetheanum. Das war für mich als Neuling der Ort, wo sich die biodynamische Welt traf, während ich in Deutschland das Büro hüten musste.

Voller Aufmerksamkeit nahm ich die Bienenkorbstimmung der ‹Landwirtschaftlichen Tagung› wahr, wenn mich mein damaliger Geschäftsführer aus der Telefonzelle anrief und schon am Geräuschpegel klar wurde, hier gehen ganz wichtige Dinge vor. Zwei Jahre später durfte auch ich zur Tagung auf den Hügel, im Gepäck stapelweise Arbeit.

Irgendwoher hatte ich die Empfehlung, nicht den direkten Weg zu nehmen, und so umkreiste ich, vom Bahnhof kommend, die Anhöhe und das Bauwerk von unten rechtsherum, vorbei an Häusern mit schrägen Fenstern, vorbei an den Zwergenhüsli und dann auf den Fußweg zum Felsli, um dann aufs Westportal hin einzubiegen: ein Monument in einem Landschaftspark! Beton hin oder her – und drinnen wurde es noch mehr Beton, da weder die Wände verputzt noch die Decke bunt bemalt waren –, das Äußere wie das Innere brachten für mich eine gewisse Strenge des Geistes, der hier herrschte, zum Ausdruck. Für mich erlebbar auch an dem Menschheitsrepräsentanten, der geschlossenen Vorstandsetage, dem Mikrofontabu und einer, sagen wir, eigenwilligen Kunstauffassung. Ich muss ergänzen: Ich kam nicht aus anthroposophischem Milieu, mein Interesse war rein geistig.

Erst langsam begriff ich, dass es sich hier nicht nur um ein Gebäude, nicht nur um eine Bühne handelte, sondern drittens auch um eine Hochschule, deren Kern die Auseinandersetzung mit Meditation, mit meditativen Inhalten ist. Nur wurde weder darüber gesprochen noch geredet, noch war es irgendwie erlebbar – auch nicht in der vierten Form des Goetheanum: der ‹Wochenschrift›. Im Gegenteil, da stritten Vorstände und Gesellschaft um Formales, wie überhaupt die Beschäftigung mit sich selbst auf allen Ebenen einen hohen Stellenwert hatte.

Zeit kommt, Zeit geht und Geist weht, wo und wie er will – heute atmet das Goetheanum, ist durchlässig und weltoffen, international auch vom Publikum her, und es ist nicht nur Steiners Innen- und Weltenschau relevant, und doch wird sein Erbe lebendig und zugänglich gehalten.

Goetheanum, das sind fünftens vor allem die Menschen am Ort und die, die dorthin strömen, um in fachlichen Sektionen oder einfach so ihre spirituellen Impulse beizutragen und erneuert mitzunehmen. Und das Netzwerk, das sich zum Beispiel in der biodynamischen Landwirtschaft mit Dornach als Herz weltweit austauscht, zu dem auch ich gerne gehöre.

Goetheanum, das sind sechstens auch die Forschungen und Publikationen der vergangenen Generationen, die uns einen eigenen wissenschaftlich-methodischen Blick auf die Natur erarbeitet haben.

International atmend und Menschen inspirierend Wissenschaft mit spirituellen Impulsen vereinen und so Impulse, aber auch innere Kraft für die Einzelnen in die Welt ausstrahlen – die Zeichen dafür stehen gut. Die Pfade dahin sehe ich in der Frage des Nachwuchses und in der Übersetzung ins Zeitgemäße, in der kritischen Betrachtung von Steiners Vermächtnis, um den Kern zu befreien und zu leben. Denn: Die Herzen beginnen, Gedanken zu haben.

Michael Olbrich-Meyer ist Chefredakteur der Zeitschrift ‹Lebendige Erde›.


Jost Schieren

Neue Spiritualität

Goethes Erkenntnishaltung und Bewusstseinsform bildet das Fundament der anthroposophischen Geisteswissenschaft.

Sie beansprucht, in einem strengen Sinne erfahrungsorientiert zu sein, das heißt ihre Erkenntnisse und Einsichten entstammen nicht allein dem Glauben, der Schlussfolgerung oder der affirmativen Überzeugung, sondern zeigen sich allein einem durch Übung sensibilisierten Beobachtungsvermögen und können intuitiv durchdrungen werden. Diese phänomenologische Methode, die sich bei Goethe zunächst auf die natürliche Erscheinungswelt erstreckte, wurde von Rudolf Steiner weiterentwickelt zu einer Bewusstseinsphänomenologie, allerdings nicht im Sinne einer psychologischen Introspektion. Indem Rudolf Steiner in Anlehnung an Johann Gottlieb Fichte den Denkvorgang zum Gegenstand der Beobachtung macht, fallen als spirituelle Erfahrung beobachtendes Subjekt und beobachtetes Objekt zusammen. Ein Denken, das sich tätig selbst ergreift, wird zum Denkblick und erblickt im allmählich lebendiger werdenden Gewebe sich selbst tragender Denkinhalte sich als deren Tätigkeitsquell. Es kann sagen: «Ich empfinde mich denkend eins mit dem Strome des Weltgeschehens.» (Rudolf Steiner: Die Schwelle der geistigen Welt. ga 17, S. 4) Damit wird der Dualismus des vorstellenden Bewusstseins überwunden, das sich im Sinne von Descartes immer nur von den Gegenständen seiner Betrachtung getrennt erfährt. Zugleich hat Rudolf Steiner damit eine neue nachaufklärerische Spiritualität begründet, die nicht allein in demütiger Ergebenheit, und daher vergleichsweise passiv, die spirituell-religiösen Glaubensinhalte auffasst. Bei Rudolf Steiner wird die geistige Welt zu einem Bewusstseinsereignis der denktätigen Seele, die (aus der Subjektperspektive) erzeugt, was sie anschaut, und (aus der Objektperspektive) zugleich von dem Angeschauten erzeugt wird. Jede Einsicht ist Selbstwerdung und Weltwerdung des Subjektes in einem Akt. Damit ist der edle Autonomie- und Freiheitsgedanke, der auch die Aufklärung durchzieht, zugleich von Liebe und Verantwortung gegenüber der Mit- und Umwelt geprägt. Da die Welt der Ort unserer Selbstwerdung ist, sind die Ausdrucksformen des Selbstes Gesten des Dankes und der Verbundenheit mit der Welt.

Das ‹Goetheanum› in all seinen Formen (als künstlerisches Gebäude, als Institution, als Ort der Freien Hochschule, als Sitz der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft und als Zeitschrift) ist im Kern diesem zivilisatorischen Grundimpuls gewidmet, indem es die individuelle Freiheit des Menschen mit der Verantwortung gegenüber der natürlichen und sozialen Mitwelt verbindet. Es gibt damit den traditionellen und zunehmend partikularisierten Feldern von Wissenschaft, Religion und Kunst eine moderne Ausdrucksform. Ein im wissenschaftlichen Sinne erfahrungs-(beobachtungs-)orientiertes Denken erfährt spirituell-religiöse Inhalte in aktiver Erzeugungsform und zeigt in künstlerischen Ausdrucksformen des Dankes die neue Verbundenheit von Welt und Mensch. Dabei durchdringt die neue freiheitsgegründete Spiritualität die Lebensfelder von Landwirtschaft, Medizin und Pädagogik.

Jost Schieren Redakteur der Zeitschrift ‹Anthroposophie›.

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