Erinnern an die Zukunft

Die Zeitschrift ‹Stil – Goetheanismus in Kunst und Wissenschaft› der drei künstlerischen Sektionen am Goetheanum widmet sich in ihrer Michaeli-Ausgabe dem Echo der antiken Mysterien und fragt nach deren heutigen Perspektiven. Die Beiträge stammen aus einer Vortragsreihe vom Frühjahr. Co-Herausgeberin Christiane Haid eröffnet die reiche Sammlung mit einem Erlebnisbericht von Samothrake.


Anfang der 1990er-Jahre besuchte ich zum ersten Mal die nordgriechische Insel Samothrake. Wir setzten von Alexandroupolis mit einem Boot über. Eindrucksvoll erhoben sich die scharfen Konturen des mächtigen Berges Fengari aus dem Meer. Das Zusammenspiel der Landschaft mit der Stelle, an der sich das Heiligtum in den zum Meer hin abfallenden Hang hineinschmiegte, war beeindruckend – nüchterne Strenge in hellstem Licht und durchdringender Wärme. Wir erkundeten die Ruinenreste, doch sie blieben mir fremd. An einem Morgen entschlossen wir uns, vor Sonnenaufgang den Berg ein Stück weit zu ersteigen, um das Auftauchen der Sonne aus dem Meer zu sehen. Etwa auf halber Höhe trafen wir auf einen schmalen Ziegenpfad, ein Umdrehen gab es jetzt nicht mehr. In die Magie des Berges geraten, waren wir ohne Karte und ohne Kenntniss der Wege unterwegs. Den Berg und die Richtungen konnte man nur noch fühlend erfassen. Langsam wurden mir dann der Berg und seine Schlünde – wir fanden unterwegs Kadaver von abgestürzten Ziegen, die uns erschreckten – wie zu einer Art zweiter Leiblichkeit, als hätte sich mein Körpergefühl über die ganze Erde ausgebreitet. Zwischendurch gab es Momente der Angst, ob wir auf dem rechten Weg seien, ob das Wasser und unsere Kräfte reichen würden. Die gleißende Mittagshitze forderte einiges an Einsatz. Am Ende trafen wir zwar erschöpft, aber froh und durstig in dem einzigen Restaurant in der Chora ein. Als der Wirt hörte, woher wir kamen, rügte er unsere Leichtsinnigkeit, ohne Führer diese gefährliche Tour gemacht zu haben. Was zurückblieb, war ein Staunen über den bewältigten Weg. Es schien mir im Nachklang, als ob diese Wanderung uns mehr von Samothrake nahegebracht hatte, als wir durch die Ruinen allein hätten erfahren können. Eine Art ungesuchter Prüfung hatte uns mit der elementaren Welt von Samothrake verbunden und jeden individuell an die Grenzen der Existenz geführt und uns ermutigt, diese zu überwinden.


Zeitschrift ‹Stil› Goetheanum-Verlag
Kontakt abo.stil@goetheanum.ch

Bild Samothrake mit der typischen Wolkenbildung über dem Fengari. Foto: Wolfgang Held

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