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Die Sinneslehre als Zeitimpuls

Das Wesen der Sinne ist ein Rätsel, das uns zu den Quellen des Menschseins führt. Rudolf Steiner gelang es zeitlebens nicht, seine Darstellung der Sinneslehre zu vollenden, auf die er die Anthroposophie neu gründen wollte. Im März widmet die Sektion für Schöne Wissenschaften der von Steiner umrissenen Sinneslehre eine Studientagung, um die impulsierenden Kräfte dieser Forschung für die Wissenschaft, den individuellen Schulungsweg und für die Lebenspraxis freizulegen.


Eine Wissenschaft der Sinne
Selbstverständlich hat die moderne Wissenschaft auf dem Forschungsgebiet der menschlichen Wahrnehmung und der von Tieren viel geleistet. Erstaunliches sogar. Umso mehr ist es verwunderlich, wie schlecht man eigentlich immer noch die Grundfunktionen der Sinne versteht. Das instrumentelle Modell der von außen kommenden Reize, ihrer Weiterleitung in den Sinnesnerven, ihrer Verarbeitung im Gehirn und zuletzt dem inneren Erlebnis beherrscht noch immer das Bild der Sinne und macht (obwohl physisch zwar begründet) die Sinne auf eine Weise unverständlich, dass man sich wundert, wie eine an den Sinnen orientierte materialistisch gefärbte Anthropologie die eigenen Erkenntnisquellen so schlecht kennt. Das kommt der ‹Selbstvergessenheit› des Denkens in der Philosophie gleich. Rudolf Steiner hat von Anfang an derart für die Berechtigung der Sinneswelt gekämpft, dass irgendeine unterstellte Feindschaft zur naturalistischen Anthropologie absurd wäre. Wir sollten unsere Sinne im Lebensbereich, psychisch und geistig erst neu verstehen und ergreifen lernen. Dazu ist die Sinneswissenschaft Rudolf Steiners als Ansatz einer neuen Sinneskultur da. Das Verstehen der Sinneswelt ist hier die Voraussetzung der richtigen Selbstbetätigung unseres Ichs. Ich und Sinne gehören zueinander. Wir werden geistig in die Sinneswelt versetzt, damit wir an den Sinnen geschult uns durch sie entwickeln. Sie nicht verstehen heißt wohl, sich in ihre Wirkungen verstricken ohne geistigen Durchblick.

“Ich und Sinne gehören zueinander. Wir werden geistig in die Sinneswelt versetzt, damit wir an den Sinnen geschult uns durch sie entwickeln.”

Schulungsweg
Deswegen ist die Entwicklung der Sinne – die noch immer nur langsam unterschwellig fortschreitet – eine wichtige Aufgabe der Erziehung und für den Menschen überhaupt. Zu entwickeln ist ein freudiger Zugang zu den Sinnen, der uns die Menschlichkeit nicht überspringen lässt, zugunsten einer abstrakt-theoretischen Geisteslehre. Die Sinne gilt es aber auch zu meistern. Namentlich die Ausbildung der sogenannten ‹zehnblätterigen Lotusblume› setzt ihre Beherrschung voraus. Dieses geistige Sinnesorgan erschließt beispielsweise die Farbenaura. Und dieser Sinn «tritt fast sogleich auf, wenn der Mensch wirklich die Eindrücke seiner Sinne ganz und gar so in seiner Gewalt hat, dass sie nur mehr seiner Aufmerksamkeit oder Unaufmerksamkeit unterworfen sind. Nur solange die Macht der äußeren Sinne diesen seelischen Sinn in Dämpfung und Dumpfheit erhält, bleibt er unwirksam.» Das Ich soll wie ein König über die Sinne herrschen. Gleichwie man kein König sein kann, ohne es zu wissen (Denken), kann man nicht als ein König über seine Diener und Untertanen herrschen, wenn man sie nicht kennt (Sinne). Besonders wenn man nicht erkennt, wie die Sinne wirken. Den Leib und seine Sinne ergreifen und sich zu eigen machen, ist eine gesunde und notwendige Durchgangsstufe zur Belebung und Beherrschung der geistigen Sinne, wodurch das Ich sich in die geistige Welt bewusst hineinstellt. Wie kann man da eine wenn auch nur elementare geistig orientierte Sinneslehre entbehren? Der anthroposophische Schulungsweg setzt die Sinneslehre voraus, und dadurch unterscheidet er sich von rein mentalen Einweihungswegen.

Lebenspraxis
Ein Verständnis der Sinneslehre fördert auch die Belebung der Lebenspraxis, im Alltäglichen, im Künstlerischen wie im Erziehungsbereich. Eine harmonische Ausbildung und eine gewisse ‹Aristokratie› des Sinneslebens werden in einer materialistischen Auffassung der Sinne als Informationsvermittler, statt Organen, die an unserer Inkarnation und unserem Seelenleben bauen und bilden, nicht gestützt. Man sieht heute bereits, wie viel Farbe aus der Kultur verschwindet und die moderne Technologie ihre Vorliebe für Weiß, Silber und Schwarz in der Haus- und Büroeinrichtung wirken lässt, ebenso die blasseren Modefarben, und dass sogar im Vergleich zu früher die Autos größtenteils die Farbe verloren haben. Dagegen ist es fast epidemisch, wie die jüngere Generation durch ihren Bildschirmblick myopisch (kurzsichtig) wird. In den technologiefreundlichen Metropolen wie Shanghai und Nanjing sind bereits jetzt ungefähr zwei Drittel der 20-Jährigen Brillenträger, und man erwartet steigende Raten von Blindheit im späteren Leben.

Malerei von Christiane Haid – Acryl und Kreide auf Hartfaserplatte 10×10cm,2008 

Malerei von Christiane Haid – Acryl und Kreide auf Hartfaserplatte 10×10cm,2008

Blickt man auf die Bewegung, so wird eine von der Technik abgezwungene Bewegungsarmut vom Sport allein nicht sinnvoll kompensiert, und so verkümmert der innere Bewegungssinn. Um hier noch weitere Sinne in Betracht zu ziehen, ist im Hinblick auf den Geschmackssinn die Wirkung von Zucker, Salz und manchen Zutaten wie Geschmacksverstärkern in Lebensmitteln zu nennen, die Geschmack und Geruchssinn infantilisieren. Kurz, man braucht die praktische Liebe zu den Sinnen für das schöne und gesunde Gestalten des menschlichen Lebens. Die Sinne vitalisieren uns nur, wenn wir die Sinne vitalisieren. In der Goetheanumleitung arbeiten wir wöchentlich an diesem Forschungsansatz. Die Kollegen stellen die einzelnen Kapitel aus ihrer fachspezifischen Perspektive vor, was dann im Gespräch vertieft wird. Beeindruckend ist, wie mit diesem neuen Blick auf den Menschen, durch konkrete Beobachtung die Trennung von Geist und Materie aufgehoben wird.

Schicksal Rudolf Steiners
Damit sprechen wir eine weitere Schicht der Sinneslehre an, ihre weitreichende, schicksalhafte Dimension, auch im Leben Rudolf Steiners selbst. Aus ‹Mein Lebensgang ›(ga 28) kennen wir, wie er im XXII. Kapitel mit seinem Verhältnis zu den Sinnen im Leben aufmerksam umgegangen ist und sich des Umschwungs in der Mitte seines Lebens bewusst war. Es gehörte zu diesem Leben ein voll bewusstes Ergreifen des Leibes und seiner Sinne dazu. Gerade mit dem der Studientagung (siehe rechts) zugrunde liegenden fundamentalen Text zur Sinneslehre ‹Anthroposophie. Ein Fragment› (ga 45) blicken wir gleichsam wie in die Werkstätte Rudolf Steiners hinein und es können uns daran manche Gedanken über weite Schicksalszusammenhänge bis hin zur Aufgabe Europas aufgehen.

Alle Interessierten möchten wir damit aufrufen, sich zum Thema der Sinneslehre am Goetheanum zu treffen!


Studientagung

Vom Sinn der Sinne – Rudolf Steiners Werk: ‹Anthroposophie, ein Fragment›
16. bis 18. März 2018 am Goetheanum

Freitag, 16. März

17 Uhr ‹Die Bedeutung der Sinneslehre für das Verständnis der Anthroposophie› Jaap Sijmons und ‹’Anthroposophie, ein Fragment’ – zum Aufbau des Buches – Beobachtungen zur Gestaltung des Gedankenverlaufs› Christiane Haid

20 Uhr ‹Der Inkarnationsweg des Menschen im Lichte der Sinnesentwicklung› Seija Zimmermann und ‹Die zehn plus zwei Sinne in der Sinneswissenschaft Rudolf Steiners› Detlef Hardorp

Samstag, 17. März

9 Uhr ‹Sinneserlebnisse, Intentionalität und Imagination› Martin Basfeld und ‹Die Lebensprozesse im Physisch-Leiblichen, im Seelischen und im Geistigen› Seija Zimmermann

11 Uhr ‹Das hypothetische Wesen und der umgestülpte Mensch› Detlef Hardorp und ‹Sinneseindruck, Sinnesprozess, Sinnesempfindung und Sinneswahrnehmung. Wesensglieder und Sinnestätigkeit› Martin Basfeld

Sonntag, 18. März

11 Uhr ‹Die Sinneslehre und die Gestalt des Menschen (Kap. X)› und Plenum Jaap Sijmons

Vollständiges Programm: www.goetheanum.org/8694.html


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