Denken wird Sein

Wenn wir uns bewusst mit einer geistigen Wesenheit verbinden, entflammt unser alltägliches Sein oder es wird zur Intuition.


Anthroposophie ist aus drei Arten kontemplativen Übens hervorgegangen. Diese entfalten sich am Horizont des gewöhnlichen Bewusstseins, das sie ergänzen. Die drei Arten des Übens sind imaginativ, inspirativ und intuitiv. Unser gewöhnliches Bewusstsein und Verständnis stellt einen vierten Bereich dar: das Ergänzte. Innerhalb dieser vier Bereiche besteht ein besonderes Verhältnis zwischen der aktiven Seite des gewöhnlichen Bewusstseins und dem intuitiven Üben.

Das Untersuchen des Erkenntnisvorganges für das gewöhnliche Bewusstsein zeigt, dass zwei Tätigkeiten es mitkonstituieren: der Bewusstseinsinhalt und die bewusste Person zeichnen sich am deutlichsten ab. Wendet man sich ihnen als zwei sich gegenseitig ausschließende Elemente zu, so verdunkelt sich die feine zeitliche Verbindung zwischen ihnen. Indem wir dem nachgehen, können wir unser Wahrnehmen dieser Verbindung aus dem Räumlichen, in dem sich die Dinge immer in kleinerem oder größerem Abstand voneinander befinden und sich gegenseitig ausschließen, ins Zeitliche verschieben, wo sie ineinander übergehen. Im Zeitlichen besteht unser Bewusstseinsinhalt zum Teil aus Interpretationen, die wir als Erweiterungen unserer Selbst wahrnehmen. Auf der anderen Seite führt uns unsere Selbstsuche hin zu greifbaren Weltelementen. Wir können das Trennende als räumlich und das Verwebende als zeitlich beschreiben. Das Erstere tendiert zu den Teilen hin, das Letztere zur Ganzheit.

Die Matrix des Getrenntseins

Das Räumliche ist ein Quell des Erwachens. Durch das Räumliche kommen wir zwar zu Bewusstsein, erfahren aber auch das Vergebliche jeglicher Versuche, das Selbst zu ergreifen. Wir finden hier Selbst-Bewusstsein, können es aber nicht fassen. Wenn wir ‹ich› sagen, verlassen wir uns auf unser gelebtes Vertrauen in den Grund unseres Seins. Das Selbst erscheint im Umriss, wie ein ausgeprägter Schatten, dessen Wesen im Kontrast zwischen Hell und Dunkel wurzelt. Von diesem passiven Standpunkt betrachtet, zeigt sich das Dasein als eine aus separaten Dingen gewobene Matrix. Es ist wie eine Reflexion, als präsentierte es sich im Spiegel des Bewusstseins. Das Selbst wird jedoch nie präsentiert; beim Versuch, es zu beobachten, erleben wir es immer als aufnehmend. Merkwürdigerweise kann es weder ein- noch ausgeschlossen werden.

Frühling – Herbst, Gabriela Karpuch, 2021

Der Versuch, das Ineinanderweben auf dieser Ebene zu beleuchten, es zum Aufflammen zu bringen, ist vergeblich. Auch wenn die Tätigkeit des Selbst unleugbar dazu führt, dass sich die Dinge verbinden, so bleibt es doch ungreifbar. Beim Versuch, das Licht des Selbst einzufangen, bleibt das Netz leer. Auf gewisse Weise erleben wir das Selbst als Nichts in einer Welt von Dingen. Die gewöhnliche Grundlage der deutenden Tätigkeit des Selbst, die alle Dinge trägt, löst sich nach jedem Schritt auf und lässt stur das Gedeutete in nacktem Zustand zurück. Man kann auf die Weltlandschaft schauen, aber nicht, wenn man Teil davon ist; und der Teil, der einem auf dem zurückgelegten Weg zukam, verschwindet, wenn man zurückblickt. Man ist sich nicht sicher, woher man kam, und der Druck der sich scheinbar selbsterhaltenden Welt der Dinge deutet darauf hin, dass das Lebensziel dem eigenen Einfluss entzogen ist. Hier liegt etwas Tragisches. Das eigene Verständnis, auf das man sich verlässt, steht irgendwie im Widerspruch zu diesem Leben. Das eigene Leben artikuliert sich als Rätsel. Man wird zur Sphinx.

Das Leben entfaltende Dasein

Dennoch erleben wir unser Selbst im gewöhnlichen Bewusstsein als Ort spielerischer oder konzentrierter Sinngebung. Wenden wir uns ihm im passiven Modus zu, so verschwindet es. Unser Gesicht wird in den Ozean der Dinge gestoßen, obgleich es dem Strom des Lebens angehört. Wenn wir uns nicht auf den Bewusstseinsinhalt konzentrieren, sondern auf die tätige Sinnwerdung, so wird das Räumliche von der Bewegung des Zeitlichen beleuchtet. Am hellsten erscheint die naheliegende Deutung, die, so spüren wir, vor uns liegt und doch im Schoß der Schöpfung verbleibt. Hier wird der Schatten, der Umriss des Ich, zu lebender Beweglichkeit erweitert. Diese Erweiterung ist nicht nur lebhaft und über-bewusst, sondern von einer ethischen Dynamik erfüllt. Man kann sagen, dass sie auch bei fortdauernder Selbstwahrnehmung von dem Trennenden des Räumlichen unberührt bleibt. Das Zentrum dieser Selbsterfahrung hat weder räumliche noch zeitliche Merkmale, ist aber nicht Sinn-los. Es ist von Gleichzeitigkeit geprägt. ‹Sinn› ist hier kein sehr treffender Begriff, wird er doch in seiner gewöhnlichen, bloßen Bedeutung mit Informativem assoziiert, mit Gesetzmäßigem und Prinzipiellem. So gesehen verhalten sich abstrakte Interpretationen zu diesen ethisch durchdrungenen Orientierungen wie Bewusstseinsinhalte zur passiven Selbstwahrnehmung. Die auf der passiven Ebene entstehende, erlebte Leere der Möglichkeit unserer Teilnahme am Werdenden schwindet, sobald ergriffene moralische Vorstellungen frei und aktiv zu lebensgestaltenden Motiven werden. In der Realisierung ethischer, gedanklich ergriffener Motive findet die lebendige Dimension des gewöhnlichen Bewusstseins ihre Form: Leben entfaltendes Dasein durch sinnvoll-moralisches Handeln. Obwohl dies uns in Zeit und Raum erscheint, ist es in seinem Kern, wo das Selbst beheimatet ist, von einem Sinn durchdrungen, der jenen nicht eigen ist. Es handelt sich hier um die bewusste Vereinigung mit einem geistigen Wesen, oder Intuition.

Diese Beschreibungen von Intuition beziehen sich auf die aktive Seite des gewöhnlichen Bewusstseins. Sie mögen ungewöhnlich und als schwer vereinbar mit dem ‹gewöhnlichen› Bewusstsein erscheinen. Das liegt daran, dass die Kunst des Beobachtens und die Kunst des Denkens und Artikulierens eng zusammenhängen. Man kann Intuition, die dem gewöhnlichen Bewusstsein zugänglich ist, aber oft unterschätzt oder übersehen wird, nicht mit unreflektierten Klischees, banalen Redewendungen und Denkmustern fassen. Das gilt insbesondere für den gegenwärtigen, von räumlichen Vorstellungen dominierten Diskurs.

Das zugänglichste Intuitionserlebnis, das sich auf der aktiven Seite des Tagesbewusstseins entfaltet, entspricht qualitativ dem auf andere geistige Wesenheiten gerichteten, intuitiv-kontemplativen Üben. Damit ist nicht gesagt, dass es ebenso zugänglich ist. Form und Ebene des Erlebens sind die gleichen, aber der Zugang ist in die Ferne gerückt. Doch ermöglicht dieser geistige Vorraum die rechte Erwartungshaltung und ein Verständnis für die Beschaffenheit der intuitiv-spirituellen Wahrnehmung und Erkenntnis. Heute ist dringend der Mut gefordert, auf diese Weise nach einem neuen Verständnis des Daseins zu suchen und den Materialismus infrage zu stellen, der in der Passivität unseres gewöhnlichen Bewusstseins zu Hause ist. Das ist bedeutend für alles, was aus der anthroposophischen Bewegung hervorgeht, auf allen Lebensfeldern.


Aus dem Englischen übersetzt von Margot M. Saar

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