Über die Pflege von Kranken und Gesunden in der Coronapandemie.
Isolation und Gemeinschaft
In der gegenwärtigen Covid-19-Pandemie werden weltweit Menschen voneinander isoliert. ‹Social Distancing› wird zur Tugend. Dabei sind Isolation und Einsamkeit eine Quelle verschiedener körperlicher und seelischer Krankheiten. Soziale Bindungen haben einen hohen schützenden und präventiven Effekt auf die Gesundheit. Eine groß angelegte Metastudie zeigt, dass das Mortalitätsrisiko unter mangelhaften Sozialkontakten stärker ansteigt als durch Rauchen oder Übergewicht.(1) Angesichts dieser Befunde erscheint die ‹Nebenwirkung› der Isolation gerade auf alte Menschen beachtenswert. Auf vielen Intensivstationen werden in Zeiten der Pandemie – aus den unterschiedlichsten Gründen – keine Angehörigen zugelassen. Mit fatalen Auswirkungen auf die Genesungsperspektive und auf den Sterbeprozess. Welche Ausbildung und welchen Stellenschlüssel braucht es für das therapeutische Team, um Zeiten der Besinnung und der inneren Begleitung im Blick zu behalten und gemeinsam mit Angehörigen und Seelsorgern auszugestalten? Wie kann der Blick von den Monitoren, den Laborwerten und lebensstützenden Maschinen hin auf den inneren Weg des Kranken und die ihm Zugehörigen gerichtet werden? Wann werden Intensivstationen von Hightech-Einrichtungen zu Orten, die ausgeleuchtet sind vom Bewusstsein der Schwelle zwischen Leben und Tod?
Der seit Jahrzehnten bestehende Mangel an Pflegekräften sowie die Scham, für die eigenen persönlichsten Bedürfnisse einen andern Menschen in Anspruch nehmen zu müssen, hat die Akzeptanz für den Einsatz von Robotern in der Pflege in den letzten Jahren gesteigert.(2) Sie sollen, so die Hersteller, den menschlichen Kontakt nicht ersetzen, sondern Pflegerinnen und Pfleger entlasten, damit mehr Zeit für ‹anspruchsvollere› Tätigkeiten zur Verfügung steht. Zweifellos können durch den Einsatz einer ausgeklügelten Prothetik, raffinierter technischer Hilfsmittel und umfänglichster Kommunikationstechnologie bedeutsamste Möglichkeiten sozialer Teilhabe und persönlicher Autonomie verwirklicht werden. Wenn das Hilfsmittel selbst zum primären Gegenstand der Interaktion wird, wenn also der Mensch nicht über den Computer mit anderen Menschen kommuniziert, sondern mit der Maschine selbst, wird diese zu seinem Spiegel. Die Illusion von künstlicher Intelligenz oder vom Roboter als Partner statt als Werkzeug schafft eine Parallelwelt neben jener von eigentlichen sozialen Beziehungen.
Ausgangsverbote, Homeoffice, Homeschooling oder der Verlust von Arbeitsplätzen erzeugen in Familien und Lebensgemeinschaften Enge und Dichte. Damit ist hingewiesen auf das Problem zu großer Nähe, auf die Unmöglichkeit, sich in den eigenen körperlichen und seelischen Raum zurückziehen zu können. Gerade in prekären sozialen Verhältnissen (Flucht, Vertreibung, Unterbringung in Massenunterkünften, unzureichender Wohnraum) steigen die Krankheitsanfälligkeit, das Aggressionspotenzial und die Gewaltbereitschaft. Der positiven Form der Nähe steht eine übergriffige, die Grenzen des anderen nicht respektierende Nähe gegenüber. Familiäre Gewalt, aber auch sexuelle Nötigung und Missbrauch sind Angriffe auf die Integrität des Kindes oder des Partners bzw. der Partnerin. Die noch heute grassierende HIV-Pandemie zeigt, wie gerade mit der Sexualität die Selbstauflösung der Immunität verbunden sein kann.
Die therapeutische Beziehung
Die Beziehung zwischen Patient und Therapeut bewegt sich fortwährend an der Grenze zwischen ‹werktätiger Liebe›, wie Rudolf Steiner (3) gelegentlich die unprätentiöse und selbstverständliche therapeutische Dienstleistung bezeichnet hat, und einem verletzenden Übergriff. Jede invasive therapeutische Maßnahme ist in diesem Sinn schon eine Grenzverletzung. Und sie setzt zu Recht immer einen hinreichenden Grund und das informierte Einverständnis des Patienten voraus. Letztlich liegt auch bei der Übertragung nosokomialer Infektionen immer eine unbeabsichtigte Grenzverletzung vor. Die Reinigung der Hände ist dann keine ‹Desinfektion›, sondern eine äußere und innere Vorbereitung vor dem Eintritt in den Lebensraum eines anderen. Und die erneute Reinigung nach dem Abschied ist ein bewusstes Sich-Lösen aus der Verbindung, ein Freiwerden für eine neue Begegnung. Wäre dies nicht eine geeignete Meditation während der halben Minute, die eine übliche Händedesinfektion laut Herstellervorschrift dauern muss?
Bewusstsein und Gemeinschaft
Die Szenarien des Krieges, der Überwachung und Kontrolle prägen weitgehend auch das heutige medizinische Denken. Allerdings könnte sich auch die Erkenntnis immer mehr durchsetzen, dass alle Systeme des Lebens miteinander in Beziehung stehen. Gerade die Mikrobiologie hat auf die Bedeutung kooperierender Bakterien und Viren für das menschliche Immunsystem hingewiesen. Bildung und sozialer Status haben größte Auswirkungen auf die Gesundheit. Die Qualität der Ernährung beeinflusst nicht nur die individuelle Gesundheit, sondern auch die landwirtschaftliche Produktion, die Flächennutzung, die Gewässer- und die Luftqualität und nicht zuletzt das Klima. Die Mobilität des Einzelnen ermöglicht weltweite Kontakte und Freundschaften, sie ist auch Bedingung für Flucht und Migration, Klimaerwärmung und Luftverschmutzung. Konsum ist nicht nur Quelle des Wohlstandes. Er bedeutet auch Ressourcenverbrauch auf Kosten nachfolgender Generationen und schon heute ist der Konsum der einen die Quelle der Armut für die anderen. Es gilt gezielt individuelle und soziale Entwicklungen zu ermöglichen, anstatt Konkurrenz und Auslese voranzutreiben!
Mit der Covid-19-Pandemie werden die ökologischen, sozialen und ökonomischen Wunden und Krankheiten der Menschheit offenbar. Sie bestehen schon lange. Viele Menschen sehnen sich nicht zurück zur Normalität vor dem Dezember 2019. Sie sind bereit für eine ernsthafte Transformation der Kultur. Es waren die Kinder, die nicht zur Schule gingen – freitags. Sie sind gemeinsam auf die Straße gegangen. Nun dürfen sie nicht in die Schule und nicht gemeinsam auf die Straße. Dem Weltklima hat es gutgetan. Aber Isolation ist ein hoher Preis. Vielleicht ein Sammeln der Kräfte. Besinnung im Mut.
(1) J. Holt-Lunstad, T. B. Smith, J. B. Layton, Social Relationships and Mortality Risk: A Meta-analytic Review. plos Medicine 7(7), 2010, e1000316. https://doi.org/10.1371/journal.pmed.1000316 2015
(2) Deutscher Ethikrat, Robotik für gute Pflege. 10. März 2020
(3) Beispielsweise Rudolf Steiner, Wie erwirbt man sich ein Verständnis für die geistige Welt. GA 154, Vortrag vom 5. Mai 1914, S. 47, oder Christus und die menschliche Seele, GA 155, Vortrag vom 29. Mai 1912, S. 104.
Titelbild: Rudolf Steiner, ‹Mutter und Kind›, 1924, Aquarell auf Papier, 101 × 67 cm, Kunstsammlung am Goetheanum