Aus Erkenntnis wächst Heilung

Jeder weiß, dass man aus Pflanzen Heilstoffe gewinnen kann. Wichtiger ist aber die tiefe Erkenntnis über die Pflanze. Aus ihr entstehen Arzneien, die Mensch und Erde heilsam verbinden. Vesna Forštnerič Lesjak und Albert Schmidli sind Forschende, die sich für die anthroposophische Pharmazie begeistern und dieser durch ihre Initiativen Kraft verleihen. Sie sprachen auf der Jahrestagung der Medizinischen Sektion in einem gemeinsamen Beitrag über die Wirkprinzipien anthroposophischer Pharmazie.


Albert Schmidli Begeisterung ist ein Wirkprinzip der anthroposophischen Pharmazie. Auf 100 Jahre anthroposophische Pharmazie blicken wir voller Dankbarkeit zurück: auf die Leistungen der letzten 100 Jahre, auf die Pioniere und die große und wichtige Arbeit der Herstellbetriebe anthroposophischer Arzneimittel. Stets auch im Bewusstsein, dass die Arbeit dieser Betriebe schlussendlich ein ganzes medizinisches System ermöglicht. Diese Arbeit benötigt immer entsprechende Begeisterung für den medizinischen Impuls Rudolf Steiners. Er hatte den Pharmazeutinnen und Pharmazeuten mitgegeben: «Eine eurer Aufgaben ist es, die Ärzte zu enthusiasimieren.» Damit unser medizinischer Impuls in der Welt wachsen kann, braucht es auch neue Initiativen. Vesna Forštnerič Lesjak hat eine von ihnen, voller Enthusiasmus, begonnen.

Vesna Forštnerič Lesjak Ich möchte einen kurzen Einblick in die Entwicklung einer meiner pharmazeutischen Ideen geben. Wenn wir über Wirkprinzipien reden, liegt mir am Herzen, von der Natur auszugehen. Die Natur enthält alle Möglichkeiten in sich, ist spielerisch und fantasievoll. Ich versuche, meine Arbeit so zu gestalten, dass die pharmazeutischen Prozesse das Ergebnis aus meiner Betrachtung der Naturwesen sind. Das ist nicht immer leicht. Die letzten zwei Jahre waren von Corona geprägt. Im vorigen Sommer sprach ich mit dem Arzt Johannes Wilkens von der Alexander-V.-Humboldt-Klinik. Wir sind befreundet und haben großen Respekt für die Arbeit des anderen. Er fragte mich, ob ich etwas Neues entwickeln kann für seine Covid-19-Lungenpatientinnen und -patienten. Sein Vorschlag war, etwas aus dem Lungenkraut herzustellen. So hat eine Entwicklung begonnen, in der ich zuerst das Lungenkraut besser kennenlernen wollte.

Die Pflanze als Bild ihrer Umgebung

Ich kannte die Pflanze gut, weil eine kroatische Studentin von mir mit den Raublattgewächsen (Boraginaceae), auch Borretschgewächse genannt, ihr Forschungsprojekt gestaltete. Ich möchte ihre Eigenschaften kurz darstellen: Das Lungenkraut (Pulmonaria officinalis) ist eine der ersten Pflanzen im Frühling, die blüht. Sie liebt den Halbschatten, feuchten Boden und ist meist in Laubwäldern und Hecken zu finden. Es ist eine kalkliebende Pflanze. In der Wahl ihres Standortes deutet sich schon ihre Verbundenheit mit dem wässrigen Milieu an, wobei im Wald mit noch unbeblätterten Bäumen Licht auf den feuchten Boden fällt. Ihr typisches Blattmuster mit den abgerundeten weißen Flecken ist wie eine Nachahmung des Einfallens des Lichts auf den dunkleren Waldboden. Die hellen Flecken entstehen, weil einige Zellen im Blatt in Gruppen absterben, sich mit Luft füllen und der zusätzlichen Transpiration, also der Atmung der Pflanze, dienen. So kommt es zu dem Luft-Licht-Effekt auf der wässrigen Blattgrundlage. Mit der Öffnung der ersten Blüten wachsen die Blütenstände immer weiter, richten sich immer weiter aufrecht aus und deuten so auf eine Ich-Qualität hin. Wenn man im Herbst zum Standort kommt, entdeckt man ganz unten an der Pflanze schon die Knospenanlagen. Im Januar entwickeln sie sich stufenweise weiter und bekommen dann schon ihren besonderen rosa-violetten Hauch. Diese Blütenknospen gehören eigentlich zu den Grundblättern vom letzten Jahr, die in dieser Zeit im Frühjahr schon halb verwest am Boden liegen und neben ihnen entwickeln sich viele neue junge Rosetten, die aber ihre Blütenanlagen erst im Herbst anlegen werden. Das zeigt eine merkwürdige Verschiebung im Jahreslauf an; die Blüten werden erst viel später im Herbst angelegt und müssen vor der Öffnung erst durch den kalten Winter hindurch.

Man erkennt, wie der Kelch schon fertig gewachsen ist, dann kommen die rosa Blüten langsam durch. Man sieht dann diesen besonderen Wickel, der typisch für die Borretschgewächse ist. Es ist eine spiralige, fast tierische Einwicklung der Blüten. Sie entwickeln sich aus der Spirale stufenweise heraus. Jede Blüte ist zuerst rosa gefärbt.

Dann kommen die Bienen und andere Insekten, die sie bestäuben. Sie bringen eine astralische Berührung dazu. Wenn die Blüten bestäubt werden, ändert sich der pH-Wert der Blüte und sie wird blauviolett. Es geschieht eine Lichtumwandlung in den Pflanzenblüten. Wir finden ein ähnliches Geschehen im menschlichen Kreislaufsystem. Wenn sich das Blut mit Sauerstoff in der Lunge anreichert und dann wieder das Kohlendioxid in die Lunge abgibt, kommt es zu pH-Wert-Änderungen und -Schwankungen. Das Blut selbst wirkt wie ein Puffer.

Wenn man alle Sinne bei der Pflanzenbetrachtung verwendet, kann man fast mit geschlossenen Augen das Lungenkraut im Wald erkennen. Die vegetativen Teile sind mit rauen, borstigen Haaren bedeckt. Das ist der Kieselprozess an der Oberfläche der Pflanze. Bei einer Lungenentzündung braucht man auch die strukturierende Kraft des Kiesels sowie Gerbstoffe als Träger der antientzündlichen Prozesse, die man auch im Lungenkraut findet. Kostet man dann die vegetativen Teile, entdeckt man zum rauen Äußeren der Pflanze einen großen Gegensatz in ihrem Inneren: sie ist schleimig. Schleime sind Substanzen, die das Wasser zusammenhalten. In dem Schleim wurde die besondere Substanz Allantoin gefunden, die in der Tierwelt zu finden ist, z. B. im Schleim von Schnecken, der starke Regenerationskräfte hat und beim Kosten auch schaumig ist, was Saponine als Substanzen verursachen. Sie entfalten Prozesse, in denen das Luftige sich für kurze Zeit ins Wässrige einschließt. Das ist genau der Prozess in der Lunge, bei dem die Luft ins Blut in der Einatmung aufgenommen wird.

Wenn man an die funktionelle Dreigliedrigkeit der Pflanze denkt und diese ernst nimmt, korreliert im Großen das Blatt mit dem rhythmischen System des Menschen. Dann kommen die Blüten dazu, die mit dem Stoffwechselpol des Menschen in Beziehung stehen. Sie tragen beim Lungenkraut diesen besonderen Lichtumwandlungsprozess in sich. Bei dieser pharmazeutischen Idee war es mir darum wichtig, die beblätterten Blütenstände zu nutzen und nicht die Grundblätter, die traditionell in der Volksheilkunde genommen werden. Im Lungenkraut haben wir ein Bild der gesunden Lunge im Zusammenhang mit dem Kreislaufsystem. Wo es wächst, erscheint es wie eine Gruppe von Pflanzen. Will man eine aus dieser Gruppe ausgraben, stellt man fest, dass es sich meistens nur um eine einzige, große und verzweigte Pflanze handelt. Sie bildet unterirdisch ein größeres Rizomwerk mit vertikal in die Erde wachsenden Wurzeln.

Ein goetheanistischer Weg zu neuen Heilmitteln

Es gibt mehrere Möglichkeiten, das Lungenkraut weiterzuverarbeiten. Ich wusste, dass die Borretschgewächse bei den wässrigen Ansätzen oft problematisch sind. Sie enthalten viel Schleim und können leicht verfaulen. Ich habe mich zuerst für ein ethanolisches Digestio entschieden. Das heißt, ich habe im Frühling geerntete beblätterte Blütenstände genommen, sie zerkleinert und mit niedrigprozentigem Ethanol digerieren lassen – also den Ansatz auf 37 Grad erwärmen lassen –, was zum rhythmischen System des Menschen passt. Später wurde es nach den Vorschriften noch zusätzlich mazeriert1 und dann weiterpotenziert und in Tropfenform dem Arzt übergeben, sodass er dann verschiedene Potenzen bis D12 ausprobieren konnte.

Aus Neugier habe ich noch eine Asche vorbereitet, weil ich sehen wollte, was für Qualitäten und Mengen sich in der Asche entfalten würden. In der Anthroposophischen Medizin wissen wir, dass Asche generell eine starke Beziehung zur Lunge hat. So ist langsam eine weitere Idee gereift: Das Lungenkraut zeigt als Bild eine starke Beziehung zur Lunge und zum ganzen Organismus, wenn man an die gefleckten Blätter denkt und die Blüten, die eine Lichtumwandlung durchmachen. Ich wollte das im pharmazeutischen Prozess besser nachahmen können und ergänzen. Ich bin vom Bild des menschlichen Blutes ausgegangen, von der Weinrebe (Vitis vinifera) und wollte den Christusimpuls noch stärker pharmazeutisch einbringen. Ich habe zuerst im Oktober Trauben geerntet, den Saft ausgepresst, ihn vorsichtig fermentieren lassen. Es ist eine wohlriechende, sehr süß schmeckende Urtinktur entstanden, mit einem pH-Wert von 3,0 und einer tiefvioletten Farbe. Ich habe diese Tinktur als Grundlage für das Lungenkraut genutzt, wieder frische Blütenstände geerntet und in der Urtinktur angesetzt. Eine weitere Fermentation hat sofort stattgefunden. Der Ansatz hat seine Farbe stufenweise vom Violett ins Hellrot geändert – eine Parallele zu der Umwandlung von dunklerem, sauerstoffarmem, venösem Blut zum hellroten, mit Sauerstoff angereicherten, arteriellen Blut. Der pH-Wert dieses Ansatzes erhöhte sich auf 3,4. Ich wollte auch die Asche dem Ansatz zurückgeben. Die Veraschung dauerte länger. Wir haben sie am Ostersonntag durchgeführt, um die Auferstehungskräfte in die Asche noch stärker einzuprägen. Der Ascheprozess erinnert ohnehin an den mythologischen Vogel Phönix, der aus der Asche aufersteht. Die Asche habe ich der Urtinktur zugegeben und mit biodynamischem Weinessig weiter potenziert. Dadurch kam es zu einer Senkung des pH-Wertes auf 2,8. So ist ein Rhythmus mit dem pH-Wert entstanden, ein Pendeln, wie es auch im Blut vor sich geht. Weinessig ist eine interessante Grundlage zum Potenzieren, weil das Entstehen des Essigs eigentlich ein Sterbevorgang ist. Er trug in der Vergangenheit den Namen ‹Vinum morum›. Im Neuen Testament wurde beschrieben, wie Jesus Christus am Kreuz einen Schwamm mit Essig von einem römischen Soldaten bekam. In der Römischen Zeit war Essig ein sehr beliebter Durstlöscher. Das war eine Geste der Menschlichkeit. Jesus Christus behielt noch kurz sein Bewusstsein, um seine letzten Worte auszusprechen: «Es ist vollbracht.» So versuche ich als Pharmazeutin aus den Sachen heraus zu arbeiten und Imaginationen praktisch anzuwenden. Die Natur ist ‹die Quelle› für die pharmazeutische Arbeit und neue Ideen darin. Die Wirkprinzipien stammen aus der Natur und dem Kosmos. Mein Zugang zu ihnen ist der goetheanistische Schulungsweg.

Albert Schmidli Jede Pflanze wird auch Ausdruck, Imagination, ihres Umkreises. Ich möchte Sie mitnehmen auf zwei Exkursionen in Chile: Wir starten in Arica, einer Stadt am Rande der Atakamawüste, am Ufer des Pazifik, am Fuß der Hochebene, des Altiplano, der Hochanden. Den Weg nach Putre, dieser kleinen Siedlung, welche sich 3600 Meter über dem Meer befindet, überwinden wir, Kokablätter und Asche gegen die Höhenkrankheit kauend, an einem Tag. Von Putre aus werden wir die ganze Woche auf ca. 4500 Meter hochsteigen, um in dieser Höhe eine einzigartige Pflanze, die Yaretta (Azorella compacta), zu studieren. In der Nacht und am frühen Morgen ist es bitterkalt. Nicht nur die Rücken der Alpakas sind mit Raureif überzogen, auch die Yaretta, welche die Nacht offen dem unendlichen Sternenhimmel gegenüber verbracht hat, trägt Raureif. In dieser kargen Hochwüste erscheint sie als seltsam anmutende, hellgrüne, immergrüne runde Polster ausbildende Pflanze von bis zu 1,5 Meter Höhe und bis zu 30 Quadratmetern Umfang. Sie wächst radial und bildet an den Astenden die ganze Pflanze überziehende, ca. 12 Millimeter große Blattrosetten aus. Sie ist extrem langsamwüchsig, radial ca. 1,4 Millimeter pro Jahr. Dabei lässt sich ein Alter von bis zu 3000 Jahren ablesen. Im Innern der Pflanze sammelt sich eine große Menge an abgestorbenem organischem Material, welches der Pflanze als Feuchtigkeitsdepot und zur Kühlug dient. Sie macht nicht nur die kalten Nächte auf dem Altiplano mit, sondern auch die Nachmittage in der prallen Höhensonne voll grellem Licht. Sie überwindet das Tote und dringt immer wieder neu in den ätherischen Raum vor. Ein Lebensprozess der Atmung, der kosmischen Atmung findet dort statt.

Die Pflanze ist tief verbunden mit der Erde. Sie bildet eine starke, hölzerne Pfahlwurzel aus, die duftet und erstaunlich süß schmeckt. Die ganze Pflanze ist bis in die Wurzel hinein von einem leicht bitteren, duftenden Harz mit hohem Wärmegehalt durchzogen, das an den Händen klebt, wenn man sie berührt.

Die Pflanze zeigt uns einerseits, ihre Fähigkeit, mit dem Wässrigen umzugehen, und andererseits eine unglaubliche Temperaturautonomie. Im abgestorbenen Material speichert sie Wasser und umgibt sich mit Harz als Wärmemantel. Die 2 Millimeter großen, blassgelben Doldenblüten erscheinen stets der Sonne zugewandt nach Osten. In diese Richtung bewegt sich auch das ganze Pflanzenwachstum, hinter sich neuen Humus, fruchtbare Erde für neue Pflanzenwesen auf dieser Höhe hinterlassend. Die Yaretta erscheint wie eine Vermittlerin, eine Art Membran zwischen Kosmos und Erde. Sie schafft es, sich zu autonomisieren, sich abzugrenzen, und zugleich offen zur Umgebung zu bleiben, eine Harmonie zwischen abbauenden und aufbauenden Kräften vermittelnd, auch die Fähigkeit zur kosmischen Atmung vermittelnd.

Internationale Forschung an neuen Heilmitteln

Wem kann das Heilpotenzial der Yaretta dienen? Zum Beispiel Menschen, denen es schwerfällt, Gedanken (Lichtsphäre) zum Willen, zur Wärme zu erheben (Willensschwäche), und jenen, denen es schwerfällt, Licht in wandelbare Struktur zu transformieren (z. B. Osteoporose). Wir denken vor allem an den Moment, wenn etwas, das im Physischen dem Zugriff der von der Ich-Organisation geführten Lebenskräfte entfällt und Absterbeprozessen unterliegt, in einen neuen erfüllten ätherischen Raum eintritt, zum Beispiel: fibröse Lungenerkrankungen, Lungenemphyseme, überhaupt sklerotische kalte Erkrankungen, auch Krebs. Auch hilfreich bei der atopischen Dermatitis, Psoriasis, (wo dem exzessiven Stoffwechsel, der in die Nerven-Sinnes-System-Seite eingedrungen ist, wieder Struktur verliehen wird). Hepatische Depressionen, Stimmungsstörungen und Zwangsvorstellungen (Wärme-Licht-Problematik) gehören zum Bild. Die Yaretta wurde als alkoholisches Mazerat* erfolgreich in einer von uns hergestellten D6-Potenz begleitend bei Diabetes Typ 2 eingesetzt. Dabei senkt sich der Blutzuckerspiegel. Die Yaretta zeigt uns, wie man Licht in Wärme verwandelt und stets neues Leben strukturiert entfaltet.

Der Pharmazeut Christian Rodriguez hat in Limache, Chile, zusammen mit ein paar Ärztinnen und Ärzten ein kleines Labor aufgebaut, wo sie angeregt durch die Erfahrungen aus unseren Exkursionen neue anthroposophische Arzneimittel aus dem Heilmittelschatz Südamerikas herstellen. Dazu gehören auch Präparate aus der Latue publiflora, die uns auf einer weiteren Exkursion begegnete.

Begegnung mit dem Wissen der alten Völker

Wir machen einen Sprung in den Süden Chiles. Maximaltemperaur 25 Grad, minimal 4 Grad, aber viele Regentage. Wir sind im Land der Mapuche. ‹Mapu› heißt Erde, ‹Che› der Mensch. Also: Menschen der Erde. Ich werde auf den ökosozialen Umkreis eingehen, auf den die Pflanze eine Antwort gibt. Die Mapuche sind das einzige indigene Volk Amerikas, dem es gelungen ist, über Jahrhunderte hinweg der Kolonialisierung zu widerstehen. Sie hatten bis zur Ankunft der Conquistadores eine besondere gesellschaftliche Struktur, die frei von jeglicher Herrschaft war. Sie kannten keine festen territorialen Grenzen und keine Barriere zwischen den gesellschaftlichen Schichten. Ordnung wurde hergestellt, indem man Verbindungen frei eingegangen ist. Die Mapuche verfechten bis heute noch diese gelebte Form des Anarchismus, der über Jahrhunderte funktioniert hat: kein Landbesitz, keine Herrschaft über den anderen. Natürlich kannten sie temporäre Kriegshäuptlinge. Und selbstverständlich ‹Machis›, die Priesterärztinnen. Es ist interessant, dass die Machis anhand ihres Gesangs erkannt werden und dann eine spezifische spirituelle Ausbildung genießen. ‹Machi› bedeutet: ‹die über Brücken geht›. Natürlich besitzen sie Einfluss, nicht aber Mittel, um Macht zu erlangen. Die Mapuche verehren eine Sonnengottheit, die Mutter, Vater, Sohn und Schwester zugleich ist, sowie eine Schwester der Sonne, die heilend wirkt, und sie besitzen das Wissen um eine durchgeistigte Natur. Aber jedem Mapuche ist es frei gelassen, das anzuerkennen oder nicht. Die Mapuche kämpften viel um ihre Freiheit. Zuerst gegen die Inkas. Dann gegen die Spanier, die 1641 einsahen, dass sie die Mapuche nicht besiegen können. So kam es 1641 mittels eines Friedensvertrag zur Anerkennung einer unabhängigen Mapuche-Nation südlich des Flusses Bio Bio. 1825 wurde die Mapuche-Nation auch vom inzwischen unabhängigen Chile anerkannt. Aber schon 1861 wurde sie gewaltsam Chile einverleibt. Man nahm ihnen das Land und sie wurden in kleinen Reservaten interniert, in denen sie verarmten. Es erfolgte eine massive Besiedelung des ehemaligen Mapuche-Landes durch Menschen, die aus Europa einwanderten. 1934 wurde der letzte größere Mapuche-Aufstand niedergeschlagen. 1970 wurde Salvador Allende Präsident von Chile und wollte den Mapuche ein besseres Leben ermöglichen. Er enteignete die Großgrundbesitzer, gab den Mapuche das Land zurück und wollte sogar ein zweisprachiges Schulsystem einführen. Doch am 11. September 1973 führte Pinochet seinen blutigen Putsch durch und nahm den Mapuche das Land erneut weg. Er gab es den Großgrundbesitzern und Holzfirmen wieder und schaffte sogar das Gemeineigentum ab, welches die Mapuche noch hatten. In der Verfassung, die noch auf Pinochet zurückgeht, werden die Mapuche nicht erwähnt. 2008 kam es zu einem neuen großen Aufstand der Mapuche, als sie sich gegen das Abholzen der tausend Jahre alten Araukarienwälder wehrten. Der Widerstand wurde niedergeschlagen. Seither kommt es immer wieder zu Angriffen der Mapuche, auch mit Brandschatzung auf Siedlungen und Transportfahrzeugen der Holzfirmen. Wer den Mapuche begegnet, bemerkt, wie kollektiv traumatisiert sie durch diese Unterdrückung und Gewalterfahrungen sind.

In diesem Umfeld machte ich mich mit einer Gruppe junger chilenischer Ärzte und Pharmazeutinnen auf die Suche nach der Latue pubiflora. Sie bildet bis zu 2 Meter hohe Sträucher oder Bäume und wächst gerne in der Nähe von Wasserläufen. Wir fanden am ersten Tag einen schönen Bestand und konnten sie fast den ganzen Tag lang studieren. Aber plötzlich erschien wütend Don Carlos Albacano, ein Mapuche. Er bezichtigte uns der Invasion seines Landes und wir sollten es unverzüglich verlassen. Wir versuchten ihn zu beruhigen, entschuldigten uns bei ihm, dass wir nicht gewusst hätten, dass dies privater Besitz sei und wir ihn sonst um Erlaubnis ersucht hätten. Aber er ließ sich nicht beruhigen. Und überhaupt, so Don Carlos, dürften sich nur die Machis der Latue, dem Baum der Zauberer, nähern; er selbst fürchte sich vor der Pflanze. Bei unserem abendlichen Rückblick haben wir ganz bewusst noch gute Gedanken an Don Carlos geschickt. Am nächsten Tag auf dem Weg ins Tal kam er uns winkend entgegen und erklärte, wie froh er sei, dass wir zurückgekommen waren. Ihm hätte sich über Nacht ergeben, dass es für die Latue wichtig sei, dass wir mit ihr arbeiten, und er wolle mithelfen.

Was ist das für eine Pflanze, die Latue pubiflora? Man nennt sie auch ‹die, die tötet›. Sie gehört zur Familie der Nachtschattengewächse, ist aber die einzige Art der Gattung Latua. Sie wächst an Wasserläufen und die ganze Pflanze ist stark verhärtet, mit bis zu 2 Zentimeter langen Stacheln besetzt. Die Blätter stehen an ganz kurzen, 2 Millimeter langen Blattstielen und sind 3 bis 12 Zentimeter lang. Die Blattspreiten sind behaart. Das ganze Jahr blüht die Latue und bildet Früchte. Die 3 bis 4 Zentimeter langen Blüten mit einem bauchigen Durchmesser von 1,5 Zentimeter stehen einzeln und entspringen den Stachelachsen. Sie bilden einen urnenförmigen, Innenraum bildenden magenta- bis purpurroten Blütenkelch. Die Bestäubung erfolgt durch Kolibris. Die Früchte werden bis zu 2 Zentimeter groß, sind eigentlich Beeren, orangegelb bis dunkelbraun schwärzlich. Im Innern der Frucht, befindet sich ein gebogener Embryo, der Keimling.

Die ganze Pflanze ist von abbauenden gifterzeugenden astralen Kräften durchzogen. Vor allem Sprosse, Samen, Blätter enthalten verschiedene Tropanalkaloide. Sie wird von den Machi auch benutzt, um sich in Trance zu versetzen, sowie zur Abwehr von krankmachenden Geistern. Es ist erstaunlich, wie stets neue, saftige Triebe, mit großer vegetativer Kraft aus dem vergifteten, verhärteten, dornigen Holz hervorsprießen. Es entstand in uns das Bild der ‹Dornenkrone auf dem Weg nach Golgatha – zur Auferstehung›. Die Aufrichtekraft des erwachenden Bewusstseins. Und als zentrales Thema: Traumata-Überwindung. Wir erkannten eine Wirkung auf das Herz als Zukunftsorgan: gegen verhärtende Tendenzen im rhythmischen System und im Seelischen, gegen Rhythmusstörungen. Wir verarbeiteten die frischen Triebe vor Ort mittels eines rhythmischen Ansatzes mit Rühren und Belichten zu Zeiten der Morgen- und Abendkräfte, den Kräften aus den Sternbildern der Fische und der Jungfrau. Christian Rodriguez hat sie dann weiter potenziert bis zur D30. Es liegen positive Erfahrungen mit D20 bei Menschen mit psychischen Traumata vor.

Wir hatten eine junge Machi mit uns, die alles mitgemacht hat und unsere Arbeit durch ihre Einsichten stark bereichert hat. Natürlich hatte sie anfänglich noch befürchtet, dass wir, wie alle, sehr analytisch vorgehen würden. Am Ende der Woche sagte sie jedoch mit einem Augenzwinkern, dass wir ja noch mehr spinnen würden als sie. Und, sehr berührend, sie wünsche sich, im nächsten Leben als Anthroposophin geboren zu werden.

Wir versuchen auch immer, unsere Wahrnehmungen künstlerisch zu vertiefen. So zeichneten wir die physische Gestalt der Pflanze. Erlebten ihre ätherische Entwicklungsqualität choreografisch-tänzerisch, um uns wirklich damit zu verbinden. Wir probierten, die seelische Geste zu malen und ihr Wesen poetisch-musikalisch auszudrücken. So entstand auch ein wunderbarer Song über die Latue. Ich denke, wir können auf diese Weise nicht nur Arzneimittel herstellen, sondern uns auch heilend in ökosoziale Systeme einbinden und uns mit ihnen verbinden.

Dabei wollen wir nicht die treuesten Mitarbeitenden, die wir haben, vergessen: die Elementarwesen. Rudolf Steiner sprach darüber, was die Folgen sein würden, wenn wir nicht mit ihnen arbeiten: Riesenkräfte, die sich entfalten, Erd-, Wasser-, Luft-, Feuerkatastrophen. Vielleicht arbeiten wir zu wenig mit ihnen. Deshalb möchten Vesna und ich am Ende unseres Beitrags die Meditation aus dem Jungmedizinerkurs vortragen:

Ihr heilenden Geister
Ihr verbindet euch
Dem Sulphursegen
Des Ätherduftes;

Ihr belebet euch
Im Aufstreben Merkurs
Dem Tautropfen
Des Wachsenden
Und Werdenden.

Ihr machet Halt
In dem Erdensalze
Das die Wurzel
Im Boden ernährt.

Ich will mein Seelenwissen
Verbinden dem Feuer
Des Blütenduftes.

Ich will mein Seelenleben
Erregen am glitzernden Tropfen
Des Blättermorgens.

Ich will mein Seelensein
Erstarken an dem Salzerhärtenden
Mit dem die Erde
Sorgsam die Wurzel pflegt.

Rudof Steiner, GA 268, Seelenübungen – Band II,
Mantrische Sprüche (Gesamtausgabe, Band 236, S. 298).


* Mazerieren: Gewinnung von Drogenextrakten durch Ziehenlassen von Pflanzenteilen in Wasser oder Alkohol bei Normaltemperatur.

Links Internationale Assoziation für anthroposophische Pharmazie, Gesellschaft für Anthroposophische Pharmazie in Deutschland; Verband für Anthroposophisch Erweiterte Pharmazie in der Schweiz

Bilder: Severin Geissler und Laura Engeser, ‹Illustrationsmaschine›.

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