Im Auge des Schönen

Ich finde das Schöne, wo ich berührbar bin und weil ich berührbar bin.


«And beauty lies exhausted in the streets», heißt es in einem Song von Nick Cave. Heimatlos, unbeachtet, abgehetzt, erschöpft und müde liegt die Schönheit am Straßenrand und fühlt sich womöglich selbst nicht mehr. Ja, so geht es mir auch manchmal in den Wirrnissen und Stauungen der Zeit. Eine Stumpfheit und Enge hat sich dann schleichend meiner bemächtigt und ich bringe nur schwerlich die Kraft auf, meinen Blick zu heben. Dabei ist das Schöne die ureigene Heimat der menschlichen Seele. Und die menschliche Seele gibt dem Schönen Obdach. Wenn ich aus schönen Augen blicke, fügt sich das Leben in seine ihm innewohnende Harmonie, selbst im Ausdruck des Hässlichen. Das Schöne stimmt mich weich und sanftmütig, weitet mein Herz, schenkt mir Milde, lässt mich bis in den Bauch und bis in den Himmel hinein atmen. Im Schönen strahlt etwas ineinander.

Zwischen Körper und Geist, zwischen Sinnlichkeit und Sinnhaftigkeit bewege ich mich durch die Welt. Schön wird das, wenn die Erdenschwere mich trägt, ohne mich zu binden, und wenn meine Luftspiele oder die Sehnsucht nach Heil mir nicht meine Füße entwurzeln. Schönheit ist, wenn ich schwebe mit einem Körper, der mir den Duft von Lindenblüten zuträgt und das Lächeln einer alten Dame, den Salzgeschmack des Meeres und die befriedende Geste des Autofahrers, dem ich gerade die Vorfahrt genommen habe, aus Versehen natürlich. Schönheit ist, wenn ich schwebe mit einem Geist, der diese Bilder entschlüsseln und verbinden kann zu einer Poesie des Lebendigen, der den Schleier meiner Annahmen lüftet und das Licht meiner Ewigkeit durchs Herz hindurch in mein jetziges Sein bringt, wenn ich anwesend bin in der Weite dieser Welt, und davon weiß.

In die Einzigartigkeit des Moments eintauchen

Michelangelos Figuren in der Medici-Kapelle werden für mich deshalb immer schön sein, weil ich sie zusammen mit einem Freund betrachtet habe und wir gemeinsam mit ihnen ein langes Gespräch darüber führten, was Schönheit sei. Ich suche und finde das Schöne meistens im Geschehen zwischen mir und der Welt. Die Situation in Addis im Auto mit meinem 75-jährigen Gast Heinz und meinem äthiopischen Freund Sami, im Radio ‹I just called to say I love you› von Stevie Wonder, zählt zu meinen schönsten Erlebnissen. Als hätten wir alle Zeit der Welt, und die Nachmittagssonne im Herzen sangen wir drei so verschiedenen Menschen mit. Heinz auf der Rückbank sagte nur: «Spanien 1985 am Strand, und ich war so verliebt!» Für mich war die Blindheit des Sängers ein Symbol für die Innerlichkeit des Wahrnehmens der Schönheit. Und Sami, wie immer, lächelte irgendwie wissend-genießend, während er uns mit der Ruhe eines Büffels durch den Verkehr manövrierte. Als wären drei Biografien für einen kurzen Moment zusammengeschmolzen in der Liebe zum Leben.

Die wahrgenommene Einmaligkeit einer Situation, ihre Unwiederbringlichkeit und Nichtwiederholbarkeit macht sie kostbar. Schön wird sie noch durch etwas anderes: eine ganz bestimmte Art von Gegenwärtigkeit, die mehr aus dem Fühlen wahrnimmt, nicht so stark fokussiert, eher lauschend sich betätigt. Sie entsteht im Zusammenspiel von Leichte und Schwere, mit genügend Raum für all jenes, was sich nicht herbeizwingen lässt, was keine Lösungen braucht, was geschehen lassen kann und sich in der Geste des Schenkens ausdrückt. Im Schönen beschenkt der Mensch sich vielleicht gar selbst, weil er sich darin auf eine bestimmte Art und Weise seiner selbst bewusst wird. Ich bin ein anwesendes, beteiligtes, lebendiges Wesen, und bin mir darüber bewusst. Ohne meine konkrete, also individuelle Anwesenheit wäre die Situation, der Text, die Landschaft, das Lied, das Bild, der andere etwas anderes, nämlich das Zusammenspiel mit einer anderen Individualität. Ich bin es jeweils konkret, die mitspielt und beobachtet, was geschieht, und weiterspielt. Ich bin Teil von einem Ereignis, das sich gerade und auch durch mich vollzieht, ohne dass ich das sich Ereignende festschreiben möchte. Dass daraus eine Einmaligkeit entsteht, ein Moment auf dieser Erde, von einem Herzen gefühlt, ist für mich eine unglaublich schöne Tatsache. Wo ich solches in der Welt finde, finde ich das Schöne.

Flüchtige Zeugnisse unseres Werdens

Das Schöne ist also nichts Äußeres für mich, obwohl es sich auch darin ausdrücken kann. Ich suche es nicht als einen Maßstab von Dingen. Ich finde es, wo ich berührbar bin und weil ich berührbar bin. Ich finde es, wo ich jenem, was mich berührt, etwas von mir selbst entgegengebe. Frei, weil es sonst kaputtgeht. Im Schönen berühren sich diese beiden, berühren sich Licht und Leben und bezeugen im flüchtigen Glanz das Beständige. Aus solchen Prozessen entstehen Kunstwerke und soziale Plastiken, und vor allem schöne Menschen. Oder anders gesagt: Durch das Auge des Schönen werfe ich mein Licht auf diese Welt und bekomme mich selbst aus dem Kosmos zurück, inklusive einer Liebe, die mich dich wach sehen lässt und dich sein lässt, wie du bist.

Können wir also nicht einfach nur schön sein, um zu überleben? Ja und nein. Die Schönheit braucht die Hand, die sich ihr reicht, wenn sie erschöpft in der Gosse liegt. Das Schöne selbst muss wahrgenommen sein, um seine Wirksamkeit an mir zu entfalten. Und schön ist auch der Wille, sich der Erschöpfung entgegenzustellen, sich seiner Angst zu widersetzen, ohne totalitär zu werden, sich im Sprechen des anderen zu erkennen und das Unperfekte zu lieben. Wir sind schön, weil wir Menschen sind. Menschen, die in ihren Versuchen, das Schöne, das Gute, das Wahre in die Welt zu bringen, auch scheitern. Deswegen will ich eine Menschenliebende bleiben.


Malerei von Ulrich Schulz, ‹Schön Sein Wollen›, 2015. Spachtel. Leinwand, Leim, Asche, Marmor, Halbedelsteinpulver, Pigmente.

Print Friendly, PDF & Email

Letzte Kommentare