Die Pandemie zeigt: Die Gesundheit des Einzelnen, der Gemeinschaft und der Erde hängen zusammen. Die Zerstörung von Flusslandschaften wie am Jangtse, die industrialisierte Massentierhaltung von Haus- und Pelztieren, Entwaldung und Monokulturen, die gestörte Wärmeorganisation der Erde rufen: Wir müssen unser Leben ändern und nachhaltig gestalten. Dabei sollten Medizinerinnen und Mediziner und landwirtschaftlich Tätige zusammenarbeiten.
Unsere Medizin ist in historisch beispielloser Weise in der Lage, Krankheit zu erfassen und zu bekämpfen. Sie erweist sich aber weder begrifflich noch praktisch als fähig, Gesundheit zu erfassen und nachhaltig zu pflegen. Krieg führen ist etwas anderes, als Frieden zu schaffen. Nachhaltigkeit ist kein Begriff der Kriegsführung, wohl aber der Friedensordnung!
‹One Health› – ‹eine Gesundheit› von Mensch und Erde
So einzigartig die Gesundheit jedes Einzelnen ist, so untrennbar ist sie von der Gesundheit aller und von einem friedlichen Zusammenleben abhängig. ‹One Health›, ‹eine Gesundheit›, ist unteilbar wie der Frieden und schließt – in weitem Sinne aufgefasst1 – alle Lebewesen ein. Auch für ein Huhn können wir unterscheiden, ob es gesund in der Sonne Körner pickt oder in einer Hühnerbatterie vegetiert. Wir lernen jetzt, dass wir nicht gesund leben, wenn unser Leben sich auf Herrschaft gründet, wenn wir blind sind für die Pflege der Atmosphäre und für ihre Beziehung zur Sonne.
Heute beginnen viele, die Erde und deren lebendiges Herz, die Sonne, wieder als ein Lebewesen zu entdecken, als Teil eines kosmischen Organismus, wie dies frühen Kulturen selbstverständlich war. Hier geht es um eine übergreifende Gesundheit, ‹planetary health›, und ihre Quelle im Weltenherz der Sonne. Warum aber bedrohen wir selbst die Gesundheit künftiger Generationen und das Leben der Erde? Warum war es bis jetzt egal, dass die Medizin selbst die Erdatmosphäre belastet und in Deutschland für fünf Prozent aller klimaschädlichen Emissionen verantwortlich ist? Wie sind gerade Medizin und Landwirtschaft in eine Konfrontation mit Krankheit und Natur hineingeraten? Die Ursache liegt im Drang nach Freiheit! Er ist das Movens seit Anbruch der Moderne. Wir wollen anders sehen: Der Goldgrund auf den Bildern weicht dem perspektivisch-irdischen Raum. Wir wollen anders leben: Das Leben in der Anonymität der Stadt schenkt Freiheit vom Gruppengefühl des Dorfes und der Familie, ‹Stadtluft macht frei›. Dieser Drang zur eigenen Persönlichkeit ruft auf, alles abzustoßen, was nicht ‹Ich› ist. Diesen Weg der Emanzipation und Entfremdung ist auch die Landwirtschaft gegangen. Sie löste sich dadurch aus der Partnerschaft mit der Natur, hin zu einer tief negativen Umweltbilanz. Auf der anderen Seite steht, dass die industrialisierte Landwirtschaft heute Nahrungsmittel für 7 Milliarden Menschen produziert und der Hunger von 800 Millionen Menschen darauf beruht, dass die Nahrungsmittel nicht dort sind, wo die Menschen sind. Die Ursachen sind Kriege, ein Verteilungs- und Verschwendungsproblem und kein Produktionsproblem. Die Strategie, den Hunger zu bewältigen, ist eine treibende Kraft, mit der die Schädigung der Erde durch die industrialisierte Landwirtschaft bisher gerechtfertigt wurde. Doch ein solcher Weg, der seine Grundlage zerstört, ist nicht nachhaltig. Blicken wir deshalb noch einmal zurück.
Mist und Klee bringen eine neue Zeit
Das ‹ora et labora› durchklingt das Mittelalter, es entstehen die Kulturlandschaften Europas. Ackerbau, Viehhaltung, Obstbau und Gartenbau, die in den vorchristlichen Kulturen separat von verschiedenen Ethnien entwickelt und gehandhabt worden sind, vereinen sich. Der christliche Impuls in den Herzen und im Glauben der Menschen schafft eine neue Mitte, die umgesetzt in der Hände Arbeit eine Neuschöpfung mit den alten Elementen ermöglichte: den landwirtschaftlichen Organismus. Mit der Kirche in der Mitte, umgeben von den Häusern, wo auch die Haustiere Platz fanden, dann die Gärten, etwas weiter draußen die Obstwiesen und die Feldgemarkung mit der Dreifelderwirtschaft, das Ganze umrahmt vom Wald, so sah das landwirtschaftliche Leben aus.
Der Einschlag der Renaissance in den Künsten, der Aufstieg der Städte, die Gründung der ersten Universitäten, all das, was den Anfang der Moderne markiert, war für die Landbevölkerung kaum relevant. Dort ging das Leben seinen Gang. Mit Stallfütterung, Mistdüngung und Kleeanbau wurden im 18. Jahrhundert erste Schritte in Richtung einer weniger gläubigen, rationellen Landwirtschaft gemacht. Der eigentliche Schritt in die Moderne kommt mit Justus Liebig in den 1840er-Jahren: Er bringt die Chemie in die Landwirtschaft, klärt auf, wie Stickstoff, Phosphor und Kali das Wachstum der Pflanzen als Nährstoffe bestimmen. Der Stickstoff ist in der Regel der limitierende Faktor. Es galt also neue Stickstoffquellen zu finden. Fritz Haber und Carl Bosch gelingt es, den Luftstickstoff industriell in Ammoniak zu binden. Doch der Erste Weltkrieg beginnt und die Armeen brauchen den Stickstoff für die Bomben und Granaten. Bei Kriegsende stellt die chemische Industrie auf Stickstoffdünger um und findet in der Landwirtschaft einen fast unbegrenzten Absatzmarkt. Die Schuldlosigkeit der Bauern ist vorbei, sie werden Teil des industriellen Systems. Der synthetische Stickstoff ist es, der wesentlich zur Industrialisierung der Landwirtschaft führt. Die Pflanzen kommen durch mineralische Düngung ins physiologische Ungleichgewicht, ihre Krankheiten werden mit Pestiziden bekämpft, die im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg entwickelt wurden. Am Ende des kalten Krieges treibt die Gentechnik den Landbau noch weiter in die Technokratie.
In den Jahren, als diese neue Landwirtschaft mit dem industriell erzeugten Stickstoff Fahrt aufnahm, gab es Menschen, die wach waren. Sie stellten fest, dass die Qualität der Produkte schwand, auch das Saatgut verlor an Kraft. Sie gelangten an Rudolf Steiner mit der Frage, ob er für die Landwirte einen Fachkurs geben könne. Daraus ist der Landwirtschaftliche Kurs entstanden. Man kann darin einen ‹welthistorischen› Augenblick sehen, in dieser Pfingsttagung in Koberwitz 1924. Es hätte jedenfalls nicht früher sein können und auch nicht später. Rudolf Steiner gelingt dabei der Durchbruch zum Geistigen in der Handhabung der Stoffe und Kräfte in der praktischen Landwirtschaft, und er spricht in die Herzen und Hände der Anwesenden. Sie verstehen nicht viel, aber sie sind in ihrer Existenz getroffen. Daraus entstand eine Art befeuernder Mythos, ‹der Koberwitzer Impuls›, dem bis heute weltweit etwa 10 000 Betriebe folgen. Was im konventionellen Landbau ein Schlachtfeld wurde, wird hier zur Friedenswerkstatt.
Gesund sein, um kämpfen zu können
Zur Medizin: Auch hier ist oft der Krieg Vater von technischer Entwicklung. Noch im Krimkrieg 1855 starben aufseiten der Westmächte fünfmal mehr Soldaten an Infektionen als an Kugeln. Erst die chemische Desinfektion seit ca. 1910 ermöglichte es, 1914 Soldaten in einen jahrelangen Stellungskrieg zu schicken, in dem sich Millionen junge Menschen töten mussten. Hinzu kam der Erfolg der seit 1915 systematisch eingesetzten Tetanusimpfung für die Rettung vieler Verwundeter vor dem Wundstarrkrampf. Impfpflicht kommt aus dem Militär, denn «die Verbreitung übertragbarer Krankheiten könne die Einsatzbereitschaft militärischer Verbände erheblich schwächen», wie es in einem aktuellen deutschen Urteil für einen Soldaten heißt, der sich nicht impfen lassen wollte. 1346 bis 1353 starb in Europa ein Drittel der Bevölkerung in nur sieben Jahren an der Pest. Die Seuche ist das Äquivalent der Hungersnot, und das sitzt unbewusst bis heute als Angst in den Seelen. Mit der Neuzeit entwickelte sich eine mechanisch-materielle Sicht- und Handlungsweise im Umgang mit der Erde wie mit dem menschlichen Körper. Deren göttliche Dimension wurde verdrängt. Das Hauptziel in der naturwissenschaftlich geprägten Medizin wurde es, Störungen der menschlichen Physiologie erkennen und kontrollieren, Verletzungen und Krankheiten in möglichst reproduzierbar-technischer Weise beseitigen zu können und schließlich auch die Fortpflanzung menschlicher Kontrolle bis hin zu gentechnologischen Eingriffen zu unterwerfen. Daraus wächst die Freiheit, aber auch die Entfremdung von der Natur.
Wie in der Landwirtschaft entwickelten sich auch andere Strömungen. Die Homöopathie wurde durch die Erfolge ihres Begründers, Samuel Hahnemann, bei Epidemien weltberühmt. 1813 starben in der von der Völkerschlacht bei Leipzig ausgehenden Typhusepidemie 50 Prozent aller Patienten, von den 183 Typhuspatienten Hahnemanns nur einer. Und im Zuständigkeitsbereich der von ihm angeleiteten Ärzte bei der europäischen Choleraepidemie 1831 mit 200 000 Toten starben nur ein Zehntel der Patienten wie damals sonst üblich. Integrativ und innovativ verband er seuchenmedizinische und hygienische Aspekte mit substanziellen und homöopathischen Medikamenten. Zugleich förderte er die individuelle Wahrnehmung des Patienten. Er lehrte, dass man der Patientinnen und Patienten nicht unterbrechen, seine Erzählung notieren und für jeden eine individuelle Krankenakte anlegen soll. Letztere führte er damit in die Medizingeschichte ein.
Rudolf Steiner geht wie Hahnemann von der Selbstwirksamkeit eines lebendigen und beseelten Organismus aus, die für Resilienz und Heilung wichtig ist – ein Kontrast zum heutigen Erreger- und Seuchenbegriff, der die Widerstandskräfte des Menschen vernachlässigt. Um die Gesundungskräfte der Patientinnen und Patienten in der Medizin leiblich, seelisch und geistig zu fördern, entwickeln Rudolf Steiner und Ita Wegman einen multiprofessionellen Ansatz, bei dem Ärztinnen, Pharmazeuten, Pflegende und Therapeuten zusammenarbeiten und bei dem die Individualität des Patienten oder der Patientin im Mittelpunkt steht. Dabei verschließen Steiner und Wegman ihre Augen nicht vor der sozialen Seite der Gesundheit, wie schon die Entwicklung des Präparates ‹Waldon› für unterernährte Schüler und Schülerinnen nach dem Ersten Weltkrieg zeigt.
Was Pocken und Covid unterscheidet
Nirgends durchdringen sich Resilienz, Hygiene, Lebensverhältnisse, Ökologie und Kosmologie so wie bei einer Pandemie. 400 Millionen Menschen starben im 20. Jahrhundert an Pocken. 1874 wurde in Deutschland die Impfpflicht für Kinder gegen Pocken eingeführt. Rudolf Steiner ließ sich 1917 in Berlin freiwillig impfen – eine durchaus gefährliche Impfung, und er selbst hatte wochenlang mit den Nebenwirkungen zu tun. Welch ein Triumph der Medizin, eine so schwere Krankheit wie die Pocken durch eine – nebenwirkungsreiche – Impfung 1980 auszurotten. Coronaviren aber lassen sich nicht ausgerottet zu haben, Corona-Impfungen verhindern nicht die Weitergabe des Virus. Es wird für das Zusammenleben mit solchen Viren entscheidend sein, ob sich ab früher Kindheit eine natürlich erworbene Immunität entwickeln kann, die nachhaltiger ist als eine Impfimmunität. 1920 träumte die technologische Medizin davon, alle Bakterien im Menschen vernichten zu können. Mit den seit ca. 1935 entwickelten Antibiotika entwickelte die Medizin ihre wirkmächtigsten Arzneimittel, um eine Zeit lang die meisten bakteriellen Infektionskrankheiten besiegen zu können. Erst diese Mittel ermöglichten die Massentierhaltung, in der heute in Deutschland zwei- bis dreimal mehr Antibiotika als beim Menschen eingesetzt werden. Gerade dort entwickeln sich Antibiotikaresistenzen, und das Ärzteblatt veröffentlichte jüngst eine Studie, wie solches Fleisch mit multiresistenten Bakterien belastet ist.2
Ein Schock war dann das Auftreten der nicht mehr bakteriell, sondern viral und oft sexuell übertragenen Erkrankung HIV, eines Virus, das aufgrund von Umweltzerstörungen von Schimpansen und Gorillas auf den Menschen übergegangen ist. Abholzung ließ in Afrika neue tödliche Seuchen wie Ebola und Marburgvirus von Fledertieren (Flughunden) auf den Menschen übergehen. Coronavirus-empfängliche Pelztiere werden in China wie in Europa in furchtbarer Weise gehalten und getötet. Experimentell wurde die Übergangsfähigkeit von Fledermaus-Coronaviren auf den Menschen in Wuhan in mehreren Labors untersucht und dabei verstärkt. Die Flusslandschaft des Jangtse zwischen Dreischluchtendamm und Wuhan wurde tiefgreifend verändert. In diesem Umfeld brach 2019 Covid-19 aus. (2020 folgte dort eine Hochwasserkatastrophe). Immer mehr Menschen erkennen: Die Zerstörung der planetaren Gesundheit, der Gesundheit von Tieren, Pflanzen und Böden gefährdet die Nachhaltigkeit menschlicher Gesundheit und löst entsprechend starke Ängste aus.
Das Paradox von der Lebenserwartung und ihrer natürlichen Grundlage
Während gegenwärtig 820 Millionen Menschen an Hunger leiden, sind bereits rund 40 Prozent der Menschheit übergewichtig und rund 70 Prozent aller Todesfälle gehen heute auf nicht übertragbare chronische Erkrankungen (NCD, non communicable diseases) zurück, am häufigsten auf Erkrankungen von Herz und Lungen, der Mitte des Menschen. In Indien erwartet man, dass die Anzahl der Menschen, die ihren Zuckerhaushalt nicht mehr selbst regulieren können, bis 2045 auf 134 Millionen steigt. Fehlernährung, Bewegungsmangel und Genussmittel wie Tabak und Alkohol sind die Hauptursachen. Allgemein gilt, dass nachhaltige Gesundheit stark von Bildung und Kultur abhängt. Das trifft auch global auf die Frage des Bevölkerungswachstums zu! Ita Wegman und Rudolf Steiner widmeten ihr Buch zur Begründung Anthroposophischer Medizin3 den Erkrankungen aus dem Stoffwechsel. Dabei lesen wir 211-mal den Begriff der ‹Ich-Organisation›. In der Tat entscheidet der immer freier werdende Mensch mit seinem Lebensstil zunehmend selbst über ein gesundes oder gestörtes Gleichgewicht seines Organismus. Für die persönliche wie die planetare Gesundheit gilt: Das Entscheidende hängt heute von unserem Selbst, unserem Ich ab. Nur ich kann meinen Lebensstil ändern, nur wir können unsere Tätigkeit klimafreundlich gestalten.
Nie war die Lebenserwartung der Menschen so hoch wie heute. In einem Report der Rockefeller Foundation – Lancet Commission on Planetary Health von 20154 fasst man diese Entwicklung als das Paradox von verbesserter Gesundheit und gleichzeitiger Zerstörung ihrer natürlichen Grundlagen zusammen. So verdecke die verbesserte Ernährungssituation eine Zeit lang die Zerstörung der natürlichen nachhaltigen Ernährungsgrundlagen.
Der Bekämpfung von Viren und Bakterien steht die Erkenntnis gegenüber, wie essenziell Gesundheit von einem guten Zusammenleben, von der richtigen Komposition von Bakterien und Viren in unserem Leib abhängt. Der Begriff der ‹Ich-Organisation› in Verdauung und Stoffwechsel wird hier evident, weil jeder Mensch dieses Mikrobiom selbst reguliert und durch seinen Lebensstil verändert – und umgekehrt die Darmflora auf unsere Denkfähigkeit, unsere Gefühle und unsere Entschlüsse zurückwirkt. Diese sind gerade jetzt herausgefordert, um die Brücke vom Ich zum Wir zu schlagen und einzusehen, dass wir unsere Lebensgrundlagen zugunsten von Freiheit, Macht und Besitz zerstören. So charakterisiert unsere Gegenwart ein tiefer Zwiespalt, den wir in uns selbst wie im Sozialen in Gestalt von Furcht und Ängsten, Zweifel und Verzweiflung, Hass und sozialer Spaltung erleben. Covid-Epidemie und -Impffrage verstärken es. Ihre Überwindung kann aus dem Ich heraus erfolgen; sie ist eine Frage an unsere Selbsterkenntnis und unser Handeln.
Gesundheit durch Kreisläufe
In der biologisch-dynamischen Landwirtschaft geschieht es an Hunderten von Orten: Der Weltveränderungswille fließt in den Hof. Die Kraftquelle ist sein Substanzkreislauf – von der Futtererzeugung für die Kuhherde zum Mist und Kompost, der Düngung der Flächen, wovon wieder das Futter für die Tiere kommt. Dieser Kreislauf ermöglicht die Produktion von Milch und Fleisch, von Getreide und Gemüse, wovon der Betrieb lebt und wächst. Der Ertrag nach außen, die Erneuerungskraft nach innen und die Gesundheit dieses Lebensgefüges, des landwirtschaftlichen Organismus, sind verzahnt.
Wir sind mit der Neuzeit in ein Zeitalter eingetreten, das das Ich auf die Spitze stellt. Die Welt, das ‹Nicht-Ich› als Gegenüber, wird zum ‹Es›, zu einem Ding, und jetzt sehen wir, dass das Es, die Welt, zu kollabieren droht. Freier Mensch, toter Planet. Wir stehen, nicht erst heute, im Wechsel von ‹Freiheit von› zu ‹Freiheit für›, von emanzipatorischer zu engagierender Freiheit. Gerade die Klimakrise ist ja ein Ruf aus der Peripherie, von dort, wo wir dachten, da sei gar nichts, da sei niemand. Ich muss mich wandeln in meinem Ich-Bewusstsein, sonst verstehe ich die Klimasprache nicht. Kann sich das Ich weiten, atmosphärisch werden, ohne sich zu verlieren? Der Blick hebt sich vom Boden zur Ähre auf dem Halm, er hebt sich bis zur Krone des Baums, schweift über den Saum der Wipfel bis zu den Höhen der fernen Berggipfel. Weiter hebt sich der Blick zu den Regenwolken, zu den stratosphärischen Wolken, in die Bläue des Himmels mit dem weißen Mond, der hellen Venus im Wechsel mit der Sonne als Tagesgestirn. Und noch höher geht der Blick bis zu Saturn und den Ruhesternen dahinter. Bis dahin kann das Bewusstsein noch gerade mit. Das Ich in der Zwölfheit des Tierkreises kann als innere Geste gerade noch gehalten werden, und anstatt es jetzt ins Unendliche zerstieben zu lassen, kann es sich wenden und Halt finden in der Mitte, der Erde. Diese erscheint jetzt nicht als Nicht-Ich, als Umwelt, sondern sie erscheint in dem Ich als aufgehoben in dem sphärischen Ich-Bewusstsein. Die Erde gehört zu mir. Zu meiner eigenen kulturellen und spirituellen Dimension. Das wissen die alten Schöpfungsmythen aller Kulturen. Aus der Zukunft geahnt – zusammen mit allen Ungeborenen – gehört die Erde, unsere Erde mit dem Boden, den Pflanzen und den Tieren und ihrem Klima, zu meinem Ich. Sie ist auch Ich. Aus diesem Bewusstsein ruft sie uns zu: «Ich warte auf deinen Fußabdruck.» Und meine Antwort: «Ich will auf der Erde gehen und meinen Beitrag leisten für unsere Zukunft.» Die Erde ist die Substanz unseres Schicksals, sie ist die Substanz unserer Gesundheit, wenn wir diese Gesundheit als performativ, als hervorbringend verstehen im Sinne eines gemeinsamen Schicksals, als ‹One Health›.
Lebt der Wald?
Eindrücklich ist, wie es etwa Rosalinda Maglana auf den Philippinen gelingt, Anthroposophische Medizin und Pädagogik mit den indigenen Menschen zu realisieren. In ihrer Arbeit mit jungen Erwachsenen ist es wichtig, das menschliche Ich bewusst zu machen und sich selbst daraus regulieren zu lernen. Lokal hergestellte anthroposophische Arzneimittel ermöglichen auch armen Menschen, Medikamente zu gebrauchen, die die Selbstregulation des Organismus stärken. Man erlebt gerade auf diesen klimatisch so gefährdeten Inseln, wie eng die ökologische und die gesundheitliche Frage zusammenhängen. Dabei lernen wir, dass es nicht nur um CO₂ und 1,5 Grad geht, sondern darum, ob ein Wald wirklich selbst lebt, sodass er dann auch Starkregen abfangen kann, ob Mangroven und Riffe die Ufer schützen, dass es um lebendige Biodiversität geht und darum, ob wir uns mit diesem Leben innig, auch spirituell verbinden, ob wir die lebendigen Wesen um uns wahrnehmen und mit ihnen leben können. Charles Eisenstein sagt: «Unsere Geschichten haben Macht. Wenn wir die Welt für tot ansehen, werden wir sie umbringen. Wenn wir die Welt als lebendig ansehen, werden wir lernen, wie wir ihrer Heilung dienlich sein können.»5
Den Menschen auf die Füße stellen
‹Klimaschutz wird praktisch› titelte kürzlich das ‹Deutsche Ärzteblatt›. International formieren sich heute starke Bündnisse für Klima und Gesundheit. So will das Krankenhaus Havelhöhe bis 2030 klimaneutral werden. Christian Grah, Arzt des Klinikums, hat an der Leitlinie ‹Klimagerechte Gesundheitseinrichtungen› der Allianz Klimawandel und Gesundheit (KLUG) mitgearbeitet6. Diese bietet einen Leitfaden an, wie sich jede Gesundheitseinrichtung klimagerechter transformieren kann, in Klinik und Arztpraxis, in Pflege und Apotheke. So kann eine breite Friedensarbeit für die Erde entstehen. Nicht nur die Klinik Arlesheim will klimagerecht mit Holz bauen, auch eine Münchner Universitätsklinik plant auf Initiative klimaengagierter Ärzte und Ärztinnen einen Holzbau. Wenn wir auf dieses so sensible Verhältnis von Public Health und individueller Gesundheit blicken, so hängt Entscheidendes davon ab, ob wir selbst das Ich in uns stärken und ob pädagogisch, sozial, politisch das Ich in jedem Menschen angesprochen, gestärkt und ermutigt wird. Was bedeutet das aber medizinisch-praktisch? Es ergibt sich eine Folge, die an die Betrachtungen Rudolf Steiners in seinen Vorträgen von 1923 ‹Der Mensch als Zusammenklang des schaffenden, bildenden und gestaltenden Weltenwortes›7 anschließt. Es handelt sich um eine Reihenfolge, die den Menschen vom Kopf auf die Füße stellt:
Selbstbewegung In unserer Bewegung offenbaren wir unser Wesen. Es wird darum gehen, öffentliche Räume so zu gestalten, dass wir uns darin selbst bewegen können und müssen. Je mehr Menschen in Städten zu Fuß gehen und mit eigener Kraft Rad fahren, umso niedriger ist die Depressionshäufigkeit. Die Heileurythmie möge zugleich als ein Beispiel für eine spirituelle Kultur gezielt heilender Bewegung stehen. Gesundheit hängt von der Selbstbewegung ab.
Ernährung Der Einfluss der Ernährungspraxis auf die Erdatmosphäre, auf das Leben von Pflanzen und Tieren und die Bodengesundheit ist enorm. Ein Drittel aller angebauten Nahrungsmittel weltweit verderben oder werden weggeworfen, fast die Hälfte wird heute an fleischliefernde Tiere verfüttert oder in Biosprit verwandelt. Ein gutes Nahrungsmittel regt den Organismus an, tätig zu werden. Das tun pflanzliche Nahrungsmittel weit mehr als tierische, und nichts trägt mehr zu chronischen Krankheiten bei als Fehlernährung. Hunger, vor allem im Kindesalter, wirkt sich lebenslang auf die Gesundheit aus. Kürzlich gab es auf den Philippinen ein Projekt, bei dem sehr arme Menschen eingeladen waren, sich wenige Tage gesund biologisch-dynamisch zu ernähren. Diese Menschen erlebten eine durchgreifende Verwandlung. Wichtig ist, dass schon Kinder lernen, gesund und emissionsarm zu kochen und mit Lebensmitteln zu haushalten.
Heilung Sie hat, ob im Organismus oder im Sozialen, dort ihre Basis, wo die Selbstregulationsfähigkeit aufgerufen wird. Das ist ein rhythmischer Prozess zwischen Schlafen und Wachen, Ein- und Ausatmen, Geben und Nehmen. Anthroposophisch betrachtet ist dieses rhythmische System älter als das Stoffwechselsystem. In den Worten Steiners: Der Heiler in uns ist älter als der Patient in uns, und er ist ein Sonnenwesen. Wir haben heute eine hoch entwickelte krankheitsspezifische Medizin, deren Interventionen sehr wirksam sein können. Aber die nachhaltige Gesundung hängt mehr von der leiblichen, seelischen und geistigen Selbstregulationsfähigkeit des Menschen ab. Dabei geht es darum, ein individuelles Gleichgewicht, ein eigenes Maß, eine immer wieder neue Mitte zu entwickeln – ‹aus dem Nichts›, mit Kräften, die uns aus der Zukunft zukommen. Dies ist die Dimension, die man die Dimension des heilenden Geistes nennen kann, der heilenden Selbsterkenntnis, des eigenen Erwachens.
Ein Beispiel ist der Impuls, Herzschulen für herzkranke Patienten ins Leben zu rufen und mit Patientengruppen zu arbeiten. Es ist berührend, wie Selbsterkenntnis und Selbstveränderung durch solche neue Gemeinschaftsbildungen gefördert werden; auch bei übergewichtigen Kindern und in der Suchtbehandlung. Heilungsprozesse gehen immer mehr mit einem Umdenken, mit Schulungs- und Bildungsprozessen einher. Das bedeutet für uns Mediziner, dass wir ebenso geschickt im Umgang mit Gruppen wie mit den einzelnen Patienten und Patientinnen werden müssen. Solche Gruppen können oft mit Vorteil von einem multiprofessionellen Team geleitet werden. Dafür müssen wir uns schulen, die Universität gibt uns hier wenig mit. So werden wir die Spanne zwischen Public Health und individueller Heilkunst bewältigen. Im Übrigen ist gerade das Thema Impfen sehr geeignet, um in fachlich angeleiteten Gruppen darüber zu sprechen.
Pädagogik «Eigentlich müsste man Pädagogik so treiben, dass man überall ausgeht von gewissen pathologischen Prozessen im Menschen und von der Möglichkeit ihrer Heilung», sagt Rudolf Steiner.8 Wenn er chronische Stoffwechselerkrankungen mit falscher oder traumatisierender Pädagogik in Zusammenhang bringt, dann wissen wir heute, dass gerade Unglück und Vernachlässigung, Licht- und Bewegungsmangel in der Kindheit chronische Stoffwechsel- und Herzkreislauferkrankungen beim Erwachsenen fördern. Es ist wichtig, dass schon Kinder und Jugendliche lernen, wie sie ihre Gesundheit stärken können, dass sie tanzen und dass sie kochen lernen.
Als Menschheit erwachsen werden, das ist das Projekt dieser Zeit! Sie wächst ja vor allem durch Not und Armut. Lesen, Schreiben können, Bildungschancen, Freiheitschancen, insbesondere auch für Frauen, sind deshalb entscheidend. Eine solche gereifte Menschheit wird für die Wärme und Atmosphäre der Erde Verantwortung übernehmen können. Ebenso wichtig ist eine zirkuläre Ökonomie, jenseits des Wachstumszwangs, mit nachhaltigem Recycling. Den Grund legt hier die Pädagogik, die, in den Worten Rudolf Steiners, die Menschen weder ‹parasitär› belastet noch spirituell ‹vergiftet›. Auf die Entwicklung nachhaltiger individueller wie planetarer Gesundheit haben Pädagogik, Bildung und Kultur großen Einfluss. Für deren Transformation sind leitende Bilder, ist eine Vision von Welt und Mensch wesentlich.
Schönheit und Liebe
Ein gesunder Mensch ist schön. Eine gesunde, von Leben erfüllte Landschaft ist schön. Ein Inbegriff von Schönheit ist der Garten. Dem Mythos zufolge stammen wir aus einem vatergöttlichen Garten, aus dem wir vertrieben wurden. Der Gottessohn, der im Garten Gethsemane gefangen genommen und auf Golgatha gekreuzigt wird, erscheint als Auferstandener einer Frau, Maria Magdalena, und zwar als Gärtner. Er eröffnet der Menschheit eine neue Vision: selbst Gärtner zu werden auf dem Planeten, den höhere Mächte geschaffen und uns geschenkt haben. Es kann tief berühren, den biologisch-dynamisch gepflegten Heilpflanzengarten eines anthroposophischen Arzneimittelherstellers zu besuchen und zu erleben, welch vielfältiges Leben sich dort entfaltet und blüht. Letztlich nehmen wir Gesundheit ästhetisch wahr, und es ist bemerkenswert, dass weniges einen so starken Einfluss auf die Gesundheit der älteren Menschen hat wie das Erleben der Kunst.
Viele Menschen verzweifeln heute an der Sinnfrage. Ökologische Transformation bedeutet, Früchte zu säen, die künftige Generationen ernten werden. Was gibt uns die Kraft, die ‹Freiheit von› in eine ‹Freiheit zu› zu verwandeln? Einen Schlüssel dafür gibt uns das Erlebnis von Kunst, von Schönheit als Stimmigkeit von Wesen und Erscheinung und eine daraus geborene Vision nachhaltiger Gesundheit von Mensch und Erde. Im Kern geht es um eine Transformation dessen, was wir bisher für Liebe gehalten haben. Wahre Liebe gründet darin, den anderen, die andere in seinem, ihrem Wesen wahrzunehmen und zu verstehen, seine, ihre Bedürfnisse zu erfassen und ihn, sie in seiner, ihrer Entwicklung zu unterstützen. Es geht darum, ob wir ihm, ihr Wachstumskraft, Nahrung, Heilung zuströmen lassen. Naturwissenschaftlich denken wir das Herz als Pumpe und die Sonne als Wasserstoffreaktor. Geisteswissenschaftlich und physiologisch wissen wir, dass die Herztätigkeit aus dem heraus lebt und impulsiert wird, was dem Herz zuströmt. Könnte es mit unserem Verhältnis zur Sonne ebenso sein, dass es aus dem heraus gesunden kann, was wir der Sonne zuströmen lassen?
Gekürzte Fassung des Gemeinschaftsvortrags an der Medizinischen Jahreskonferenz am 17. September 2021.
Footnotes
- C. L. White et al., An Ecological and Conservation Perspective. In: J. Zinsstag et al., One Health. CAB International, Wallingford – Boston, 2. Aufl., 2021, S. 25–38.
- R. Köck et al., Multiresistente gramnegative Erreger – ein zoonotisches Problem. Deutsches Ärzteblatt International, 2021, 118: S. 579-586; DOI: 10.3238/arztebl.m2021.0184.
- R. Steiner, I. Wegman, Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst. Rudolf-Steiner-Gesamtausgabe Bd. 27, Basel, 8. Auflage, 2014.
- S. Whitmee et al., Safeguarding human health in the Anthropocene epoch: report of The Rockefeller Foundation – Lancet Commission on planetary health. Lancet 2015, 386: S. 1973–2028.
- Ch. Eisenstein, Wut. Mut. Liebe! Europaverlag 2020.
- Annegret Dickhoff, Christian Grah, Christian Schulz und Edda Weiman (Hg.), Klimagerechte Gesundheitseinrichtungen, Rahmenwerk, Version 1.0.
- R. Steiner, Die Welt als Zusammenklang des schaffenden, bildenden und gestaltenden Weltenwortes. GA 230, Basel, 7. Auflage, 1993.
- Vgl. Anm. 6, 12. Vortrag