Als ich diesen Sommer im Archiv der DDR-Opposition über Bildungsthemen am Zentralen Runden Tisch recherchierte, begegnete mir eine zukünftige Gesellschaft und ein Selbstverständnis in demokratischer Praxis, das ich so noch nicht kannte. Der Grundton in den Flugblättern, Thesen und Konzepten der Bürgerbewegung der Wendezeit war: Wir sind die Gesellschaft, wir fühlen uns verantwortlich, haben Lust, zu gestalten, Probleme zu benennen und es immer wieder neu zu versuchen. Sie stellten sich die Frage: Wie wollen wir zusammenleben? Und sie hatten Ideen: das Unterrichtsfach ‹Lebensgestaltung› statt ‹Staatsbürger- oder Gemeinschaftskunde›, Mitwirkungsrecht an Schulen von Eltern, Schülerinnen und Schülern, ein ‹Gesellschaftlicher Rat Bildung› als überparteiliches Gremium und vieles mehr. Es ging ihnen nicht primär um Gerechtigkeit, vielmehr um den Aufbruch in ein neues Zusammenleben.
Ich staunte über den Dokumenten, bis mir bewusst wurde: Diese Menschen wurden nicht durch die Ausdauer demokratischer Praxis geprägt, sondern durch 40 Jahre SED-Diktatur. Es schien mir, dass diese Erfahrung die Sinne der Menschen für Demokratie geschärft hatte: «Die gestörte Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft lähmt die schöpferischen Potenze unserer Gesellschaft und behindert die Lösung der anstehenden lokalen und globalen Aufgaben. Wir verzetteln uns in übelgelaunter Passivität und hätten doch Wichtigeres zu tun für unser Leben, unser Land und die Menschheit.» – Das steht 1989 in einem Flugblatt des Neuen Forums geschrieben.
Ich erlebe meine schöpferische Potenz in Momenten, in denen ich selbst wirksam werde und Verantwortung in gemeinschaftlichen Prozessen tragen kann. Jegliche Form politischer Handlungen, welche diese Erfahrung unterbindet, erzeugt ein Vakuum der Emotionen und Ideen, erzeugt verdeckte Konflikte, polarisiert Beziehungen, führt zu innerer und äußerer Gewalt und erzeugt Traumata. Ich denke in diesen Tagen: Wenn Terrorismus die extreme Form von Selbstwirksamkeit ist, ist Liebe die intime. Und ich frage mich: Wo sind die Ideen der Wendezeit? Sie träumen im Archiv.
Unsere Print-Ausgabe haben wir mit Bildern von Miriam Wahl gestaltet: Werkgruppe: ‹nomadic fragments›, Gouache/Öl auf Karton/Leinwand/Holz/Fundstücke, diverse Formate, 2024.
Miriam Wahl lebt und arbeitet in Marburg und Frankfurt am Main. Mehr: www.miriam-wahl.de
Fotos: Cover der Ausgabe Nr. 40 und Ausstellungsansicht Kunsthalle Kleinschönach.
Titelbild Miriam Wahl, ‹nomadic fragments›, 2024