Die geistige Entwicklung besteht aus verschiedenen Dimensionen, die es zu unterscheiden gilt. Im folgenden Essay hebt der Autor zwei Seiten des spirituellen Weges hervor, um nicht in eine innere Sackgasse zu geraten: den Erkenntnisweg und den Herzensweg.
In spirituellen Kreisen begegnet uns immer wieder der Begriff der ‹Erleuchtung›. Nicht selten wird er so verstanden, als würde man dadurch den höchsten Berggipfel der menschlichen Entwicklung erklimmen, ein letztendliches Ziel verwirklichen oder sogar gottgleich sein. Ein differenzierter Blick darauf zeigt uns jedoch, dass es nicht die eine Erleuchtung gibt, sondern verschiedene Arten von Erleuchtungserfahrungen, welche im Verhältnis zur weiteren Entwicklung von unterschiedlicher Bedeutung sind. So beginnen wir die weitreichende Bedeutung der Aussage Rudolf Steiners zu verstehen, die im Einklang mit allen weisheitsvollen spirituellen Strömungen steht:
Deshalb muss jeder, der Geheimnisse über die menschliche Natur durch eigene Anschauung sucht, die goldene Regel der wahren Geheimwissenschaften befolgen. Und diese goldene Regel ist: Wenn du einen Schritt vorwärts zu machen versuchst in der Erkenntnis geheimer Wahrheiten, so mache zugleich drei vorwärts in der Vervollkommnung deines Charakters zum Guten.1
Nicht immer wird diese Regel befolgt und dennoch sind allein durch Meditationstechniken tiefe spirituelle Erfahrungen, ja sogar Erleuchtungserfahrungen möglich. Wie lässt sich dieser Umstand verstehen?
Gesetze innerer Entwicklung
Wie auf der physischen, so existieren auch auf der geistigen Ebene Gesetzmäßigkeiten. Eine davon besagt, dass ein dimensionsloser Punkt zugleich alles ist. Das bedeutet, dass wir, wenn wir durch Konzentration oder ein unverhofftes Ereignis diesen Punkt bar aller trennenden Vorstellungen realisieren, sogleich durch eine Art Umstülpung in einer Erleuchtungserfahrung ‹all-eins› mit dem kosmischen Sein sind.
Ein weiteres Gesetz besagt, dass auf der geistigen Ebene zwei identische Qualitäten nicht wie physische Objekte unterschiedliche Räume einnehmen können. Wenn wir also eine bestimmte geistig-seelische Seinsebene intuitiv erfahren wollen, müssen wir zuvor die entsprechende in uns verwirklichen.
Die meisten heute praktizierten Meditationen haben ihren Ursprung in der östlichen Philosophie. Sie wurden von hinduistischen Gurus, buddhistischen Lamas oder Zenmeistern eingeführt und folgen in ihrer Weisheit von Anfang an den beiden genannten Gesetzen, der Realisierung des dimensionslosen Punktes im Geistesleben und der qualitativen Entsprechung im Seelenleben. Die Ausbildung von Eigenschaften wie Demut, Hingabe und Empathie, wie unzeitgemäß sie heute klingen mögen, werden als unverzichtbar auf dem inneren Weg zur Entfaltung eines harmonischen ‹Bewusst-Seins› gesehen. In unserer Zeit jedoch besteht die Neigung, einzelne Elemente der weisheitsvollen Überlieferungen auszublenden und den inneren Weg als reine Konzentrationsübung zu verstehen, während die Ausbildung des Charakters zum Guten hin vernachlässigt wird.
Im weiteren Verlauf des Textes soll derjenige Weg, der vorrangig durch Konzentration den dimensionslosen Punkt als Tor zur Erleuchtung anstrebt, als ‹Erkenntnisweg› bezeichnet werden. Der Weg, auf dem Konzentration und Entfaltung der Tugenden in Harmonie entfaltet werden, nennen wir den ‹Herzensweg›.
Die Entscheidung für entweder den einen oder den anderen dieser spirituellen Wege hat Folgen für die sich daraus ergebenden inneren Erfahrungen.
Obwohl die Läuterung und Festigung des Charakters auf dem Erkenntnisweg vernachlässigt wird, kann dieser durch gesteigerte Konzentration zu Erleuchtungserfahrungen führen. Auf dem Herzensweg wird ebenfalls die Beruhigung des Vorstellungslebens angestrebt, jedoch vorrangig, um die daraus erwachsende Seelenkraft zur Festigung des Charakters anzuwenden. Es leitet uns auf diesem Weg weniger das Streben nach übersinnlicher Erfahrung als die Sehnsucht, das Wesenhafte unseres Selbst-Seins in seiner Reinheit zu erfahren und zu integrieren.
Das Tor des Hauptes
Auf beiden Wegen wandelt sich die Unruhe unseres Vorstellungslebens gleichsam zu einer ruhenden Wasseroberfläche, wodurch die ausschließliche Identifizierung mit dem Körper überwunden wird. In der Folge löst sich das Ich, welches seine Existenz durch die polare Sichtweise von Ich und Du erhält, aus der Zentrierung zwischen den Augen.
Auf dem Erkenntnisweg leitet diese Loslösung die Transzendierung des Hauptes ein, wodurch dem Suchenden in der entsprechenden Erleuchtung die intuitive Erfahrung des allgemeinen Bewusst-Seins zuteilwird, das sich selbst als Geist erfährt. Es ist ein kosmisches Bewusst-Sein, welches der ganzen Schöpfung zugrunde liegt und sich im Menschen durch das Ich als Selbstbewusst-Sein offenbart.
Auf dem Herzensweg wird nach der Loslösung des Ich nicht sogleich die Erleuchtung des allgemeinen Bewusst-Seins, sondern zuvor die Reinigung der Seele durch die ‹Wassertaufe› vollzogen. Diesen Vorgang finden wir in den Überlieferungen christlicher Spiritualität vielfach symbolisch dargestellt.
Das sich von der Zentrierung am Haupt befreite Ich fällt hinab zum Beckengrund. Hier vollzieht sich die Wassertaufe, die symbolisch als Vermählung des Königs mit der Königin dargestellt wird. Aus dieser Vereinigung von männlich, Sonne, und weiblich, Mond, geht der neue Mensch hervor. Weil zwei identische Qualitäten auf der geistigen Ebene jedoch nicht zwei unterschiedliche Räume einnehmen können, überwindet die Seele gleichsam durch einen Sprung das ‹Tor des Hauptes› und erfährt in der Erleuchtung das allgemeine Bewusst-Sein, die kosmische Sternensphäre. Durch diese erste Seinserfahrung wird die Grundlage eines auf Wahrheit gegründeten Entwicklungsweges gelegt.
Diese Erleuchtungserfahrung gleicht durchaus der Erleuchtung auf dem Erkenntnisweg. Wurde sie jedoch durch eine Meditationstechnik oder eine unerwartet gewährte Schau realisiert, so werden diejenigen, die sie erfahren haben, davon sprechen, dass das Bewusst-Sein unser wahres Selbst, unser Ich sei, das unsere Gedanken, Emotionen, die wir nicht selbst sind, sondern nur haben, wahrnimmt. Alles wird sich um diese eine Erfahrung drehen und daraus wird gefolgert, dass Bewusst-Sein, der Geist, das Göttliche selbst sei. Diese Menschen werden nicht von einer ‹wesenhaften› Erfahrung sprechen und dennoch in dieser Sphäre, da in ihr keine Zeit existiert, die eine Erleuchtung, ihre Selbsterlösung sehen. Dadurch besteht jedoch nicht die Möglichkeit zu einer genaueren Differenzierung zwischen Bewusst-Sein, Selbst und Ich. Eine jede nicht über sich hinausweisende Erleuchtung stellt eine Sackgasse der inneren Entwicklung dar, da wir durch sie ein auf uns selbst bezogenes, abstraktes Weltbild ohne Gott entwickeln. Ohne die Entfaltung von Hingabe, welche uns allein über die Begrenzungen der Ichzentrierung und die damit einhergehende Gefahr der Überheblichkeit hinauszuführen vermag, kann es keine vertiefte weitere Entwicklung geben. Da wir uns jedoch nicht an uns selbst hingeben können, müssen wir es an ein höheres Wesen außerhalb von uns tun.
Führt der innere Weg den strebenden Menschen zuvor durch die Wassertaufe der sich vollziehenden Läuterung des Astralleibes, so wird er eine solche Erleuchtung als eine bedrückende Ernüchterung erfahren, da er darin, obwohl er auch das Bewusst-Sein als reinen Geist erfährt, keinen darüber hinausführenden Ausblick zu erkennen vermag, der seine innerste Sehnsucht befriedigen könnte. In der christlichen Spiritualität wird die sich durch die Wassertaufe vollziehende Erleuchtung als kosmische Jungfrau Sophia bezeichnet. Obwohl beide Wege zur gleichen Erfahrung führen, sind das Verständnis und die Zuordnung verschieden.
Somit bezieht sich die Aussage Rudolf Steiners über die Notwendigkeit der Vervollkommnung des Charakters zum Guten hin nicht nur auf die vorbereitenden Stufen des inneren Weges, sondern sie ist auch in Bezug auf die Erleuchtungserfahrungen von grundlegender Bedeutung.
Der große Hüter der Schwelle
Wird auf dem Erkenntnisweg vor allem die Konzentration bis zur vollkommenen Leere des Hauptes vertieft, kann es geschehen, dass es zur Realisierung des dimensionslosen Punktes kommt, wodurch das Haupt selbst als das geronnene Abbild des Kosmos transzendiert wird. Gleichsam durch eine Umstülpung offenbart sich dem Suchenden dadurch intuitiv die kosmische Leiblichkeit des Vaters. Diejenigen, die eine solche Erleuchtung erfahren, werden vom ‹All-eins-Sein› mit dem Kosmos, vom Gewahrsein der Grenzenlosigkeit sprechen, indem sie als der eine Zeuge die Galaxien entstehen und vergehen sehen. Eine solche in sich abgeschlossene Erleuchtung, die nicht über sich hinausweist, wird irrtümlicherweise als die eine allumfassende Erleuchtung verstanden, so, als hätte man durch sie auch die Allmacht Gottes. Doch neben der Wahrnehmung des All-eins-Seins geht sie auch mit der Erkenntnis des Alleine-Seins einher. Da kein Wesen außer mir zu erkennen ist, wird die Vermutung geäußert, Gott habe in seinem Alleine-Sein die Welt aus Langeweile geschaffen. In dieser Erleuchtungserfahrung sind wir gefangen im Kreislauf des kosmischen Gesetzes des dimensionslosen Punktes, der Umstülpung des Bewusst-Seins zum grenzenlosen Sein und wiederum durch Einstülpung zur begrenzten Form.
In den geheimen Symbolen christlicher Mystik finden wir diesen Vorgang im Bild des Ouroboros wieder, der Schlange der Ewigkeit, die sich in sich kreisend selbst verzehrt.
Auf dem Herzensweg vertiefen wir nicht nur eine Meditationstechnik, sondern suchen der Forderung Christi zu folgen: «Wenn jemand nicht aus Wasser und Geist geboren wird, kann er nicht in das Reich Gottes hineingehen» (Joh 3). Entfacht sich eine tiefe Sehnsucht in uns, eine Liebesregung in unserem Herzen, kann uns, wenn wir dieser Regung folgen, eine hehre Gestalt erscheinen, in der wir Christus erkennen. Er gibt uns durch seinen Anblick zu verstehen, dass wir, wenn wir ihm gleichen wollen, nicht nur unsere Erlösung suchen dürfen, sondern uns wieder in Demut, Dankbarkeit und Liebe der Erde zuwenden müssen, um an seiner Seite an der Erlösung der Menschen, ja der ganzen Schöpfung, mitzuwirken.
Während sich der zuerst beschriebene Erkenntnisweg linear gestaltet, gleicht der Herzensweg einer zum Himmel aufsteigenden und zur Erde wiederkehrenden Wellenbewegung.
So ergeht es uns wie einem Wanderer, der unter Mühen einen Berggipfel ersteigt, nicht um zu bleiben, sondern um einen Ausblick in die Ferne zu erhalten. Dann steigt er wieder ins Tal hinab, um den aufgenommenen Keim zur Reifung zu bringen, um dann wiederum den nächsten Berggipfel zu ersteigen.
Das Tor des Herzens
Es gibt Aussagen von westlichen spirituellen Lehrern, dass Erleuchtung auch von amoralischen Menschen erreicht werden kann. Wenn uns dies auch verwundert, so treffen sie doch auf den linearen Weg zu, der durch reine Meditationstechnik das Haupt von allen festgefügten Vorstellungen entleert und dadurch transzendiert.
Dies trifft jedoch nicht auf den Herzensweg zu. Auf diesem wird vorrangig die Entfaltung qualitativer Entsprechungen gesucht. Dabei entsteht durch die Ausbildung des Charakters zum Guten hin die Voraussetzung, dass eine Erleuchtungserfahrung nicht zu einer Sackgasse wird, sondern über sich hinausweist.
Lebt in uns als Ausdruck von Herzenswärme die Sehnsucht, sich nicht mit abstrakten, wesenslosen Erfahrungen zufrieden zu geben, sondern dem Ruf des ‹Großen Hüters der Schwelle› zu folgen, vermag sich die durch die Wasser- und Geisttaufe vorbereitete Seele von einem astralischen Luft-Geist-Wesen zu einem ätherischen Feuerwesen zu wandeln, um sich durch das Tor des entflammten Herzens gleichsam als ein Feuervogel zum Christuswesen hin zu erheben. So erfüllen sich die Worte des Täufers Johannes: «Ich taufe euch mit Wasser; es kommt aber der, der stärker ist als ich; ich bin nicht wert, dass ich ihm die Riemen seiner Schuhe löse; der wird euch mit dem Heiligen Geist und mit Feuer taufen.» (Lk 3,16) In dieser innigsten glückseligen Umarmung erfahren wir die unbegrenzte Annahme unseres Wesens in Liebe, unser Selbst eins mit Christus, der Quelle des Lebens und der Liebe. Obwohl es sich hierbei um eine intuitive Erfahrung handelt, schauen wir in Christus nicht nur, was wir unserem Wesen nach sind, sondern zugleich, was wir werden sollen. Doch auch in dieser Erleuchtung wird die sehnsuchtsvolle Seele ihren Weg nicht beenden, denn Christus weist ihr einerseits den weiteren mit ihm zu gehenden brennenden Weg zum Vater, andererseits legt er durch die Erfahrung des Selbst-Seins den Keim zur vollkommenen Durchdringung des Astralleibes.
Solche über sich hinausweisende Erleuchtungserfahrungen sind nicht Entsprechungen des Hauptes, sondern immer wesenhaft und vermögen uns in unserem ganzen Mensch-Sein und Bedürfnis nach Sinnhaftigkeit zu erfüllen.
Von der Erleuchtung zur Einweihung
In spirituellen Kreisen besteht die einvernehmliche Vorstellung, dass dem ‹Seinszustand› eine höhere Realität als dem ‹Vergänglichen› im Prozess des Werdens zugemessen werden muss. Deshalb wird viel Energie aufgewendet, durch Erleuchtung einen Zustand jenseits der Vergänglichkeit zu erfahren. Man geht von der Annahme aus, es gäbe gleichsam einen eingefrorenen Zustand, der uns für alle Ewigkeit erhalten bliebe, während wir nur noch als Zeuge auf die sich im stetigen Wandel befindende Welt schauten. Obwohl die Erleuchtung mit der Überwindung der dualen Anschauung einhergehen soll, wird so die polare Sichtweise von Sein und Werden beibehalten.
Erleuchtungen geschehen unerwartet, plötzlich wie ein Sprung ins Sein, der Einweihungsvorgang dagegen vollzieht sich wie ein feuriger, lichter Strom. In ihm stellen Sein und Werden keine polaren Gegensätze dar, sondern der jeweilige in der Seinserfahrung der Erleuchtung aufgenommene Keim wird im Zeitenfluss des Werdens entfaltet.
Wenn auch Christus allein uns zum Vater zu führen vermag, sollten wir jedoch eine solche Aussage nicht in dem Sinne verstehen, als würde nur der Glaube an Christus oder die Tatsache, ein Christ zu sein, den Weg darstellen. Vielmehr handelt es sich um die geistig-seelische Qualität der kosmischen Liebe des Christus, welche er der Erde gebracht hat und die allein uns zum Vater zu führen vermag. So ist es jedem diese wesenhafte Qualität in sich aufnehmenden Menschen unabhängig von seiner Religionszugehörigkeit möglich, den Weg zum Vater zu gehen.
Diese Liebesqualität, welche durch die Evangelien aufleuchtet, erfahren wir gleichsam als eine brennende Flamme in unserem Herzen, die uns auf dem feurigen Weg zum Vater, dem Unoffenbarten, dem ‹Ich bin, der ich bin›, führt. Doch da Christus und wir als Individualität und Menschheit in unserem Selbst-Sein eins sind, vermögen wir diesen Weg nur vereint zu gehen.
Wenn sich uns das Göttliche auch nicht unmittelbar offenbart, so doch durch Christus in seinen Eigenschaften. Somit besitzen auch wir, wenn wir uns in Christus als Selbst erfahren, Eigenschaften. Wir sind durch die Läuterung des Astralleibes Bewusst-Sein, reiner Geist, durch die Läuterung des Ätherleibes reine Liebe in Christus. Das ‹Ich bin› des Vaters ist das Unoffenbarte, welches als Christus aus dem Zentrum unseres Herzens hervorströmt.
Aus diesen Zusammenhängen erkennen wir die Weisheit und Bedeutung der von einem unbekannten christlichen Mystiker geschriebenen Briefe, die zu dem Buch ‹Die Wolke des Nichtwissens› zusammengefasst wurden. Darin leitet er einen jungen Schüler auf dem Weg der ‹Wolke des Vergessens› an, sich aller Vorstellungen zu entledigen, um schließlich vor der Wolke des Nichtwissens, zwischen sich und Gott zu stehen. Von Anfang an legt er einen großen Wert auf die innere Haltung des reinen Herzens, die allein zu Christus führt, indem die über sich hinausweisenden Erleuchtungen Keime zur Einweihung bilden. Somit vermögen Erleuchtungserfahrungen allein nicht die Wolke des Nichtwissens zu durchdringen, sondern nur der Erleuchtete selbst auf dem Weg der Einweihung.2
Der Quellpunkt des Herzens
Auf dem Herzensweg werden Konzentration und Tugenden gleichsam entfaltet, sodass es nicht nur um Seinserfahrungen geht, sondern darum, das ‹Sein im Werden› zu realisieren. Eine solche immer das Ganze einschließende Haltung vermag das Herz zu öffnen und uns zu Christus zu führen. Er bildet in seinem göttlichen Sein den Fluss des Werdens und vereint dadurch Himmel und Erde. Dieser Fluss, der wie ein fließendes Licht aus dem Zentrum unseres Herzens hervorströmt, bildet die Quelle der Schöpfung.
Nach der Läuterung des Astral- und Ätherleibes stehen wir vor der nächsten großen Herausforderung, der Umwandlung des physischen Leibes, die von Rudolf Steiner als ‹Geistesmensch› oder nach der indischen Philosophie als ‹Ātman› bezeichnet wird. Er stellt fest, dass Ātman nichts anderes als ‹Atem› heißt und die Regulierung des Atems bei der Arbeit des Ich am physischen Leib das stärkste Hilfsmittel ist.3 Somit müssen wir, um uns der Quelle inmitten des Herzens, dem ‹Ich bin›, anzunähern, mit der Atmung die Umwandlung des physischen Leibes zu Ātman vollziehen. Doch handelt es sich nicht um die gewöhnliche Atmung, sondern um eine ‹Lichtatmung›, indem wir uns mit dem der Luftatmung zugrunde liegenden Lichtstrom verbinden. Diese Lichtatmung führt uns in Christus in einer jeden göttlichen Ausatmung über unseren physischen Leib hinaus, um in Christus in der göttlichen Einatmung zur Quelle des ‹Ich bin›, des Vaters, geführt zu werden. Somit gelangen wir zum Vater nicht über das Haupt, sondern durch das Herz. Auf diese Weise verstehen wir das Gleichnis vom guten Hirten im Johannesevangelium, in dem Christus zu seinen Jüngern spricht: «Wer nicht zur Tür hineingeht in den Schafstall, sondern steigt anderswo hinein, der ist ein Dieb und ein Räuber. […] Ich bin die Tür; wer durch mich hineingeht, wird gerettet werden; er wird ein- und ausgehen und Weide finden.» (Joh 10)
Welche Erleuchtung wir auch immer erfahren, Gott Vater bleibt uns verborgen, wie es auch im Evangelium festgestellt wird: «Niemand hat Gott je gesehen; der eingeborene Sohn, der in des Vaters Schoß ist, der hat es uns verkündigt.» (Joh 1,18) Weil es keine solche letztendliche Erfahrung gibt, sondern nur Offenbarungen des Göttlichen, wird sie immer in Bezug zu dem ‹Tor› des physischen Leibes stehen, durch das sie hervorgegangen ist, denn wie die jeweilige Tür, durch die wir ein Haus verlassen, uns immer nur einen bestimmten Ausschnitt der Welt zeigen kann, so auch das jeweilige Tor, durch das wir die Begrenzung des physischen Leibes überschreiten.
So sollten wir Erleuchtungserfahrungen, wie erhaben sie auch sein mögen, nicht überhöhen, sondern uns eine heilige Nüchternheit bewahren. Wenn sie uns auch in eine Sphäre jenseits von Raum und Zeit führen, sind sie nicht von Dauer. Nicht um darin zu verweilen, werden sie uns gegeben, sondern als Ausblicke auf das, was auf dem Weg der Einweihung in uns Wirklichkeit werden soll.
Bildzyklus von Cornelia Friedrich, ‹Begegnung mit dem Licht›, 2012
Footnotes
- Rudolf Steiner, GA 10.
- Zoran Perowanowitsch (Hrsg.), Die Wolke des Nichtwissens. Folge der Liebesregung deines Herzens. Ein christlicher Meditationsweg. Kitesh-Verlag, Freiburg im Breisgau 2022.
- Rudolf Steiner, GA 94.
Danke für diesen anspruchsvollen Artikel. Wenn der Autor darstellt „Die meisten heute praktizierenden Meditationen haben ihren Ursprung in den östlichen Philosophien…“ so kann man dieser Aussage sowohl zustimmen als sie auch ergänzen: Ein größerer Teil der östlichen Meditationspraxis ist längst (seit etwa 30 Jahren) im Westen angekommen.
Hiermit meine ich vor allem die zahlreichen Strömungen der Achtsamkeitspraxis (MBSR uva). Es geht vielen heute Praktizierenden auch nicht primär um höhere okkulte Erfahrungen bzw um Erleuchtung, Einweihung oder die Ausbildung des „dimensionslosen Punkt im Geistesleben“. Vielen Menschen geht es darum, sich selbst so zentrieren zu können, dass der zunehmend komplexer gewordene Alltag mehr und mehr bewusst und Ichhaft gestaltet werden kann. Ich verbinde seit vielen Jahren den anthroposophischen Schulungsweg mit Aspekten der östlichen Wege und habe den Eindruck, dass beide Wege sich im übenden Ich gut ergänzen können.
Als Anthroposoph kann ich mich etwa inspirieren lassen, den Bezug zum Körper, der in der Achtsamkeitspraxis eine zentrale Rolle spielt, meditativ und experimentell zu entwickeln (Body-Scan), Aspekte wie Gegenwärtigkeit, Sinnlichkeit, Präsenz, Wahrnehmen der Gefühle, Einfachheit, Empfangsbereitschaft uvm können zudem den manchmal „etwas kopflastigen“ anthroposophischen Schulungsweg fruchtbar ergänzen.
freundliche Grüße aus Hamburg!
– Der Author hebt hier in recht bemerkenswerter Weise das für Rudolf Steiner „Erleuchtung“ nicht ein „End all be all“ darstellt. Vielmehr öffnet „Erleuchtung“ den Weg zur Einweihung. Dass „Erleuchtung“ eine Erfahrung ist – halte ich jedoch für weitgehend problematisch als die innerste Natur der Erleuchtung niemals auf „eine Erfahrung“ reduziert werden kann.
Mit herzlichem Gruss aus Dornach – Andrzej Wojnicz
Anmerkung zu:
«Niemand hat Gott je gesehen; der eingeborene Sohn, der in des Vaters Schoß ist, der hat es uns verkündigt.» (Joh 1,18)
Das klingt eventuell etwas seltsam.
Das Wort κόλπος wird bei uns mit Busen oder Brust übersetzt. Bestenfalls ist das der Bausch, der bei einem Kleid entsteht wenn sich der Stoff über der Brust und unter dem Gürtel wölbt.
In der Einheitsübersetzung der römisch-katholischen Kirche wird das mit «am Herzen des Vaters» übersetzt, die Neue Genfer Übersetzung wählt eine ähnliche Formulierung.
Wir wissen es leider nicht so genau. Griechisch gibt es schon lange und an verschiedenen Orten mit unterschiedlichen Dialekten, da kann es zu Unklarheiten kommen. In der Vulgata steht «in sinu Patris», man kann wohl annehmen, dass dies eine zeitnahe Übertragung des griechischen Textes ins Lateinische darstellt. Irgendwo in ihm drin wird es wohl schon sein und das nackte Herz ist auch nicht schöner oder edler als der Unterleib.
Emil Bock:
«Der eingeborene Sohn, der im Schoß des Weltenvaters war, er ist der Führer zu diesem Schauen geworden.» (Joh 1,18)