Verwandeln, heilen, erwachen: Achtsamkeit für die Welt

Können wir als Landwirte und Menschen einen Weg finden, das Leid in der Welt zu lindern? Ha Vinh Tho sprach über drei grundlegende Aufträge der Landwirtschaft der Zukunft. Hier sind Auszüge aus seinem Vortrag.


In den vergangenen Tagen protestierten in ganz Europa die Landwirtinnen und Landwirte. Das Leid, das so viele Landwirte – nicht nur in Europa – ertragen müssen, ist nur ein Symptom. Haben wir nach den Ursachen gesucht? Wir beginnen meist mit so viel Mitgefühl und dem Willen zu heilen. Und dann macht das System das kaputt. Was ist das für ein System? Ein mächtiger Aspekt davon ist, dass diese zutiefst menschlichen Bestrebungen, zu transformieren, zu heilen, zu ernähren, zu lehren, auf rein wirtschaftliche Aktivitäten reduziert werden – der einzige Zweck ist, mehr Profit zu machen, koste es, was es wolle, koste es die Menschen und die Umwelt. Ich glaube, die Ursache in der Landwirtschaft – und das ist im Bildungs- oder Gesundheitswesen und in anderen Bereichen ganz ähnlich – ist, dass der eigentliche Auftrag verloren gegangen ist. Wir müssen wieder herstellen, was Ueli Hurter «die Würde der Landwirtschaft» genannt hat. Die hat mit dem tieferen Auftrag der Landwirtschaft zu tun, der dreifach ist.

Umgestaltung der Erde

Zunächst einmal hat die Landwirtschaft natürlich den Auftrag, die Welt zu ernähren. Ernährung findet auf verschiedenen Ebenen statt – physische Nahrung ist eine davon. In der Landwirtschaft mobilisieren wir den Willen, die Erde umzugestalten. Die Schwester aus Ägypten sagte, dass die Liebe, die wir der Erde geben, als gesunde Nahrung zu uns zurückkommt. Sehr kraftvoll, sehr schön. Die Schwester aus Südafrika sprach über die indigene Weisheit, die diese tiefe Verbindung zwischen Mensch und Erde und allen Lebewesen kennt. Wir müssen sie also nicht neu erfinden, aber wir müssen sie so einbringen, dass sie zu den Bedürfnissen unserer Zeit passt. Die Landwirtschaft ist nicht einfach die Natur, wie sie war. Die Aufgabe des Menschen ist es, die Erde zu transformieren, sie zu etwas Edlerem, Geistigerem, Transparenterem zu machen, damit der Geist die Erde durchdringen kann.

In der Grundsteinmeditation gibt Steiner drei Übungen vor. Zur ersten sagt er: «Übe Geist-Erinnern, in Seelentiefen». Was ist die Tiefe der Seele? Es ist der Wille, richtig? Wenn wir mit unseren Gliedern arbeiten, wenn wir die Erde pflügen, dann tun wir etwas sehr Materielles; wir arbeiten mit der physischen Dimension. Können wir uns an den Geist erinnern, wenn wir in den Tiefen der Erde arbeiten, sodass unser Handeln tatsächlich ein Transformationsprozess ist? Wenn ein Kind geboren wird, erhält es einen physischen Körper, den es von seinen Vorfahren geerbt hat. Wie verwandelt das Kind diesen Körper, um ihn zu einem Gefäß für seinen eigenen Geist, für seine einzigartige Individualität zu machen? Die gesamte Entwicklung des Kindes besteht darin, diesen Körper allmählich in Besitz zu nehmen und umzugestalten. Gemeinsam, als Menschheit, tun wir das für die Erde. Das ist ein großer Teil dessen, worum es in der Landwirtschaft geht: den Körper der Erde so umzugestalten, dass er zu einem Gefäß für den Geist werden kann. Das ist die erste Aufgabe der Landwirtschaft: Transformation.

Heilen in Gemeinschaft

In allen Kulturen der Welt haben wir die Vorstellung von einer gottähnlichen Gestalt, die der Menschheit die Landwirtschaft schenkte. Wir haben sie nicht erfunden; ihre Grundlagen wurden uns von göttlichen oder halbgöttlichen Wesen gegeben. Interessanterweise wird in fast allen Traditionen der Gott oder das Wesen, das die Landwirtschaft bringt, auch mit Heilung in Verbindung gebracht. Weil es um das Wissen über Pflanzen geht und darum, wie sie wirken und heilen können. Die Landwirtschaft gibt auch der Zeit einen Sinn. Für Landwirtinnen und Landwirte ist Zeit nicht nur eine Uhr, sondern der Zyklus der Natur. Zeit wird zu Rhythmus, und Rhythmus ist heilend. Zeit ohne Rhythmus ist zerstörerisch.

Für die zweite Übung, die Steiner vorschlägt – Übe Geist-Besinnen, gibt es viele Übersetzungen – ich mag meine eigene: Achtsamkeit des Geistes in der Gelassenheit der Seele üben. Es ist die Übung des Gleichgewichts. Es geht darum, unsere natürlichen Emotionen in etwas umzuwandeln, das ausgeglichen ist und im Einklang mit dem Rhythmus des Kosmos steht. Das erlaubt uns, achtsam mit der Gegenwart umzugehen, mit dem Geist in der Seele. Und was ist die Auswirkung davon? Es ist der Aufbau einer Gemeinschaft. Bauernhöfe sind Gemeinschaften. Unsere Freundin aus Kanada erzählte, wie ihr Hof Gemüse produziert; ja, aber mehr als das produziert er Gemeinschaft. Wir haben in Dualitäten gelebt. Diejenigen, die anders waren, galten als Feinde oder minderwertig. Aber zum Beispiel Reis und Weizen sind keine Konkurrenten, sondern die beiden großen Kulturen der Welt: die Reiskultur und die Weizenkultur. Mondbezogen, sonnenbezogen. Und wir brauchen beides, die Sonne und den Mond. Es ist die Zeit gekommen, in der wir uns bewusst werden müssen, dass wir eine Acht-Milliarden-Familie sind, dass wir uns unserer Interdependenz bewusst werden.

Diese heilende Kraft des Herzens lebt im Rhythmus, im Gleichgewicht der Seele, das uns befähigt, die Realität des Geistes wahrzunehmen. Sie lebt in der gemeinschaftsbildenden Kraft, wenn diese scheinbar polaren Kräfte zusammenarbeiten können. Die zweite grundlegende Aufgabe der Landwirtschaft hat also mit der Seele, mit dem Herzen zu tun. Die erste ist transformierend, die zweite ist heilend, und Heilung ist gemeinschaftsbildend. Die Landwirtschaft ist eine Heilkunst, eine Herzenskunst.

Ha Vinh Tho

Erwachen im Geist

Wie können wir uns schließlich direkt mit dem Geist verbinden? Rudolf Steiner sagt in der Grundsteinmeditation: «Übe Geist-Erschauen, In Gedanken-Ruhe», im Wahrnehmen des Geistes in der Stille der Gedanken. Wenn der innere Lärm zur Ruhe kommt und eine innere Stille eintritt, können wir den Geist direkt wahrnehmen. Das ist das Erwachen. Die dritte Bewegung ist also wie ein Gebet, das von der Erde zum Himmel aufsteigt. Die erste ist eine vertikale Bewegung vom Himmel, vom Geist, der die Materie erleuchtet und transformiert. Die zweite ist eine horizontale Bewegung, bei der wir im Gleichgewicht unserer transformierten Emotionen den Geist wahrnehmen, kontemplieren oder achtsam sein können. Und die dritte Bewegung ist das Erwachen zu unserem wahren Wesen, zu unserem authentischen Wesen. Wenn wir die Aufgabe der Landwirtschaft als Teil der Aufgabe der Menschheit sehen, die diese drei grundlegenden Funktionen hat: die Materie umzuwandeln, auf der seelischen Ebene zu heilen und auf der geistigen Ebene zu erwecken, dann erkennen wir wirklich die Würde der Landwirtschaft als Würde des Menschseins.

Die erste Quelle des Leidens ist zunächst einmal, dass wir in der modernen Zeit oder in unserer materialistischen Kultur die Verbindung zu unserem spirituellen Wesen, zu unserem eigenen wahren Selbst verloren haben. Wir wissen nicht, wer wir sind, und wenn wir uns nicht mit unserem wahren Wesen verbinden können, können wir das wahre Wesen der anderen nicht wahrnehmen. Die zweite Quelle des Leidens ist: Wir sind isoliert und abgekoppelt. Wir fühlen uns allein. Und die dritte Quelle des Leidens ist, dass wir von unserem Planeten, der unsere Mutter ist, abgekoppelt sind. Ohne unseren Planeten Erde ist für uns kein Leben möglich. Wenn wir in der Landwirtschaft wirklich die tiefe Erfahrung machen können, dass innere und äußere Prozesse eins sind, wenn wir uns als Individuen mit unserem wahren Wesen verbinden können, dann können wir uns wirklich mit anderen verbinden und die Erde wirklich transformieren.

Ich möchte anerkennen, dass wir nicht allein sind. Wir werden von den Generationen unserer Vorfahren getragen, die ihr Bestes getan haben, und wir müssen das fortsetzen. Wir sind verantwortlich für die Generationen unserer Kinder und Enkelkinder. Ich bin ein Urgroßvater, sehr stolz darauf, und ich mache mir wirklich Sorgen um die Zukunft. Ich möchte, dass meine Kinder, meine Enkelkinder und meine Urenkelin und deren Kinder eine gute Erde zum Leben haben. Ich glaube, dass die Landwirtschaft dabei eine sehr wichtige Rolle spielt. Wenn wir die Vielfalt an spirituellem Erbe, das bereits vorhanden ist, einbringen, können wir eine biodynamische Bewegung entwickeln, die wahrhaft universell menschlich ist – damit wir sowohl von den genetischen Vorfahren zum Wohle der zukünftigen Generationen getragen werden können, aber auch von den vielen unsichtbaren Wesen und spirituellen Traditionen, die alle auf uns warten, sodass wir, wenn auch bescheiden, den richtigen Beitrag für die Evolution der Menschheit in Richtung Transformation, Heilung und Erwachen leisten können.


Titelbild Ha Vinh Tho während seinem Beitrag, Foto: Xue Li

Der vollständigen Vortrag ist kostenfrei verfügbar auf Goetheanum.tv


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