Albert Vinzens‘ Buch setzt Goethes ‹Unterhaltungen› in ein neues Licht und gibt einen tiefen Einblick in den Kontext ihrer Entstehung.
Wer Rudolf Steiners Weg zur Geisterkenntnis näher verfolgt, wird bald bemerken, dass es Goethes ‹Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie› war, welches ihm half, in seiner Seele die Tore zur Geisterkenntnis zu öffnen. Schon am 30. November 1890 schrieb er an Richard Specht: «So viel ist sicher: Goethes ganzes Glaubensbekenntnis liegt in diesem Märchen – und man kann es nicht erklären, ohne gewisse Dinge durchgemacht zu haben, die in der Zeit von 1790 bis 1820 in Deutschland still und unsichtbar sich abspielten. Ich bin auf einer ganz besonderen Spur.»
Die Spur, auf der sich Steiner befand, war – wie er später im Juli 1924 schildert – eine gewaltige Imagination, die er dann in Text und Sprache zu Worten verdichtete und die das wurde, was wir heute Anthroposophie nennen. Goethe, so Steiner, hat in «Miniaturbildern» in seinem Rätselmärchen etwas von dieser Imagination, «sogar manchmal ins Liebliche übersetzt», eingearbeitet.
Nun bildet das Märchen den Abschluss eines eher wenig beachteten Novellenromans Goethes, den ‹Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten›. Albert Vinzens wendet sich dem – ursprünglich sukzessiv 1795 in Schillers ‹Die Horen› erschienenen – Werk zu und fördert dabei Erstaunliches zutage, was wiederum ein Licht auf das Märchen zu werfen vermag. Schon Rudolf Geiger gelang es mit seiner Schrift ‹Bilder einer konkreten Utopie›, den Zusammenhang der sechs Novellen mit dem Märchen dem Leser ein Stück weit aufzuschließen. Doch die vorliegende Schrift geht einen Schritt weiter, indem sie auch den historischen und biografischen Kontext, in dem das Märchen entstand, mit einbezieht und dadurch eine weitere Dimension erschließt.
In der Rahmenhandlung befindet sich die Baronesse von C. («eine Witwe in mittleren Jahren») mit ihren Angehörigen auf der Flucht vor dem Krieg. Sie haben ihre Besitztümer in der Französischen Revolution verloren und suchen Schutz in einem familieneigenen Gut auf dem deutschseitigen Rheinufer. In dieser Ausnahmesituation erzählen sich die Flüchtlinge Geschichten, wobei ein alter Geistlicher (auch Abbé genannt) sich besonders hervortut. Goethe hatte die Grauen des Krieges am eigenen Leibe erfahren, eher unfreiwillig musste er als Kriegsberichterstatter an der ‹Kampagne in Frankreich› des Herzogs Carl August teilnehmen.
Er befand sich auch in einem biografisch kritischen Moment: Nach der Reise nach Italien hatte er sich mit Christiane Vulpius verbunden und in ‹wilder Ehe› mit ihr zusammengelebt – ein Skandal, der ihn die Gunst des Hofes kostete und dazu führte, dass er sein Haus am Frauenplan verlassen und an den Stadtrand ziehen musste. Vereinsamt trat ein Weg der Verinnerlichung ein, der seelischen Sensibilisierung, die ihm zugleich zu einer neuen Tiefe verhalf.
Vinzens zeigt, wie diese beiden Erlebnisse dazu führen, dass Goethe in den Unterhaltungen auf die Entwicklung von zwei Motiven besonders Wert legt: die Bedeutung des Dialoges und die «Entsagung», Letzteres in dem Sinne, dass der Mensch lernt, sich von seinem Ich aus zu beherrschen. Kriege überwinden heißt, den Menschen im Gegenüber zu erkennen und zu schätzen, das geht aber nicht ohne eine moralische Entwicklung. Ohne zu moralisieren, zeigen die verschiedenen Geschichten einen Weg zum Erwachen des höheren Menschen. Es geht Goethe um das, was Friedrich Schiller in seiner Schrift ‹Über die ästhetische Erziehung des Menschen› so formuliert hat: «Jeder individuelle Mensch, kann man sagen, trägt der Anlage und Bestimmung nach einen reinen idealischen Menschen in sich, mit dessen unveränderlicher Einheit in allen seinen Abwechselungen übereinzustimmen die große Aufgabe seines Daseins ist.» Vinzens greift auf die Metamorphose der Pflanzen zurück, um die Komposition, die der Anordnung der Texte der ‹Unterhaltungen› zugrunde liegt, sichtbar zu machen. Die Fähigkeit des Menschen, sich zu wandeln, ist das große Thema, und so wie die vegetative Pflanze in der Bildung der Blüte endet, so enden die ‹Unterhaltungen› im Märchen.
Aufgeschlossen für das Übersinnliche wird die Seele zuerst durch zwei Spukgeschichten, doch der Spuk – ein Kunstgriff Goethes – bricht auch in das Gegenwartsgeschehen herein: Ein Tisch bekommt mit einem Krach einen Riss, wobei sich herausstellt, dass gleichzeitig ein Tisch vom gleichen Meister aus dem gleichen Holze in der Nähe in Flammen aufgeht.
Es folgen zwei Geschichten, die erotisch gefärbt sind und die zeigen, wie schnell die Leidenschaft tatsächlich auch Leiden schafft. Es geht – wie gesagt – nie um ein billiges Moralisieren, sondern immer um die Erlebnisse der Seele, wenn das Ich Herr seiner selbst wird. In der Erzählung vom ‹Prokurator› wird dies besonders deutlich. Eine junge Schöne wird durch die Umstände so in die Entsagung geführt, dass sie an ihre Grenzen kommt und schließt: «Aber Sie, mein Herr, haben mich fühlen lassen, dass außer der Neigung noch etwas in uns ist, das ihr das Gleichgewicht halten kann, dass wir fähig sind, jedem gewohnten Gut zu entsagen und selbst unsere heißesten Wünsche von uns zu entfernen. Sie haben mich in diese Schule durch Irrtum und Hoffnung geführt; aber beide sind nicht nötig, wenn wir uns erst mit dem guten und mächtigen Ich bekannt gemacht haben, das so still und ruhig in uns wohnt, […].»
Albert Vinzens zeigt mit seiner essayistischen Studie, dass es sich lohnt, mit einem neuen, frischen Blick Goethes Schrift zu lesen, und dass von ihm auch ein Vierteljahrtausend nach seinem irdischen Schaffen Orientierung und Anregung für das eigene Leben ausgehen kann.
Albert Vinzens ‹Die Nacht des Erzählens. Unterhaltungen mit Goethes Ausgewanderten› Verlag Freies Geistesleben. 22 €
Titelbild Albert Vinzens: Wolfgang Schmidt.