Philosophie der Freiheit in der Coronakrise

Während den einen die Einschränkung bürgerlicher Freiheiten im Namen von Solidarität und Infektionsschutz nicht schnell und weit genug gehen kann, halten andere die Coronapandemie für mehr oder weniger heiße Luft und lehnen staatliche Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung strikt ab. Thomas Morgenroth und Philip Kovce suchen Auswege aus dieser verfahrenen Situation – und finden sie im ethischen Individualismus.


Weltweit schränken Staaten die Grundrechte ihrer Bürger derzeit drastisch ein – mit der Begründung, die Coronapandemie sei einzig und allein auf diese Weise in den Griff zu bekommen. In Deutschland empfahl die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina in einer Ad-hoc-Stellungnahme vom 8. Dezember 2020 einen «harten Lockdown». Er sei «aus wissenschaftlicher Sicht unbedingt notwendig», heißt es in der Stellungnahme.1 Wenige Tage später einigten sich Bund und Länder tatsächlich auf entsprechende Maßnahmen.2

Allerdings scheint durchaus Skepsis geboten, wenn Wissenschaftler Grundrechtseingriffe als ‹unbedingt notwendig› erachten. Beachtlich ist jedenfalls, dass der in Lausanne lehrende Wissenschaftsphilosoph Michael Esfeld, selbst Leopoldina-Mitglied, noch am Tag der Veröffentlichung der Ad-hoc-Mitteilung ein Protestschreiben an seinen ‹Kollegen›, den ETH-Klimaforscher und Akademiepräsidenten Gerald H. Haug, sandte, worin er die Stellungnahme – an der Esfeld nicht mitgewirkt hatte – «mit Bestürzung» zur Kenntnis nahm und den Präsidenten «höflichst» bat, sie «umgehend als Stellungnahme der Leopoldina zurückzuziehen».3 Das geschah freilich nicht.

Esfeld war vor allem aufgrund dreier Gesichtspunkte «bestürzt»:

Erstens seien Strategien zum Umgang mit der Ausbreitung des Coronavirus im «engeren Kreis der Experten von Virologie und Epidemiologie» durchaus «umstritten». Plädierten einige für «scharfe politische Maßnahmen», favorisierten andere einen «nur auf die Risikogruppen fokussierten Schutz».

Zweitens sei im «weiteren Kreis der Wissenschaftler höchst umstritten», ob der Nutzen «scharfer» Maßnahmen deren Schäden aufwiege. Es lägen zum Beispiel «zahlreiche» Studien vor, «gemäß denen die verlorenen Lebensjahre den maximal erreichbaren Nutzen geretteter Lebensjahre um ein Vielfaches übersteigen».

Drittens gebe es jenseits utilitaristischer Erwägungen in der auf Kant zurückgehenden ethischen Tradition gute Gründe, Freiheitsrechte «auch in der gegenwärtigen Situation für unantastbar zu halten». Zur Würde des Menschen gehöre «insbesondere die Freiheit, selbst entscheiden zu dürfen, was die jeweilige Person als ein für sie würdiges Leben erachtet und welche Risiken sie für diesen Lebensinhalt einzugehen bereit ist in der Gestaltung ihrer sozialen Kontakte».

Weil die «einseitige» Leopoldina-Stellungnahme auf diese drei fundamentalen Gesichtspunkte mit keinem Wort eingehe, «verletzt» sie laut Esfeld «die Prinzipien wissenschaftlicher und ethischer Redlichkeit». Einen «Missbrauch von Wissenschaft» im Zuge der Coronakrise hatte Esfeld bereits im Juni 2020 in der ‹Wochenschrift› (Nr. 23/2020) angeprangert.

Das ‹Leopoldina-Desaster›4 bestätigt schließlich einen Befund des Historikers René Schlott, nämlich dass die «offene Gesellschaft» inzwischen «unter Pandemievorbehalt» stehe: «Unter Verdacht und Rechtfertigungsdruck stehen heute nicht mehr diejenigen, die Freiheiten einschränken, sondern diejenigen, die sie einfordern.»5

Unter Verdacht und Rechtfertigungsdruck stehen heute nicht mehr diejenigen, die Freiheiten einschränken, sondern diejenigen, die sie einfordern.

Wer trotz dieses Befunds Freiheitsrechte nicht nur in kantischer, sondern auch in der Tradition des von Rudolf Steiner begründeten ethischen Individualismus unbedingt zu schätzen weiß, der wird umso mehr nach Lösungen suchen, die es in dieser und etwaigen kommenden Pandemien ermöglichen, Freiheitsrechte und Infektionsschutz nicht gegeneinander auszuspielen. Dazu in aller Kürze einige Vorschläge.

Sollte der Deutsche Bundestag eine ‹epidemische Lage von nationaler Tragweite› oder der Schweizer Bundesrat eine ‹besondere› oder ‹außerordentliche Lage› feststellen, gilt es, Freiheitsrechte nicht kollektiv einzuschränken, sondern individuell zu stärken. Dafür müssten Risikogruppen nicht statistisch, das heißt abstrakt definiert werden; vielmehr sollte sich jeder Einzelne ganz konkret als Risikoperson einschätzen – oder eben nicht.

Wer sich selbst als Risikoperson begreift, der kann zunächst aus freien Stücken darauf achten, Abstand zu wahren und Kontakte zu meiden (‹free social distancing›). Wo das im öffentlichen Raum oder im Berufsleben unpraktikabel ist, da kann er sich maskieren. Des Weiteren kann er sich nach Möglichkeit impfen lassen. Schutzmasken und Schutzimpfungen sollten aus öffentlichen Mitteln finanziert werden.

Außerdem sollte allen Risikopersonen das Recht eingeräumt werden, jederzeit einen Lockdown in eigener Sache zu verhängen (‹free lockdown›). Nach behördlicher Anmeldung stünde ihnen für die Zeit freiwilliger Quarantäne im Falle von Einkommenseinbußen eine Art Pandemieeinkommen zu, dessen Höhe sich an den bisherigen Einkünften orientieren müsste. Sollte unter Umständen triagiert werden müssen, ließen sich entsprechend registrierte Risikopersonen bevorzugt behandeln.

Selbstbestimmung und Eigenverantwortung würden auf diese Weise gestärkt, Politiker und Wissenschaftler vor falscher, bevormundender Verantwortungsübernahme bewahrt. Risikopersonen und Nicht-Risikopersonen, mithin sämtliche mündigen Bürger, könnten unter diesen Bedingungen, die Grundrechte und Infektionsschutz gleichermaßen würdigen, ein weitaus freieres und gesünderes Leben führen, als es all die kostspieligen pandemischen Zwangsmaßnahmen aktuell erlauben.


Titelbild: Francesco Ungaro/Unsplash (bearbeitet)

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Footnotes

  1. Leopoldina/Stellungnahme Corona
  2. Bundesregierung/Beschluss-mpk-data
  3. Prof. Dr. Esfeld Protestschreiben
  4. Die Welt/Angela-Merkel-und-das-Leopoldina-Desaster
  5. Deutschlandfunkkultur/Pandemie und Freiheitsrechte
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