«Die verordnete Distanz von zwei Metern zwischen uns bringt mehr Nähe», erklärt mir Jobst Langhans, Leiter der Anton-Tschechov-Schauspielschule in Berlin-Kreuzberg.
Um die widersprüchliche Feststellung zu verstehen, müsse man sich wie seine Studierenden auf die Übungen der sibirischen Schauspielausbilder Slava Kokorin und Nelly Dugar Djabon einlassen. Beide entwickelten das Konzept der ‹Blase›, ein sich ein Meter ersteckender Umraum um den Leib, den es zu entdecken gelte. Tatsächlich lässt sie die Wärme eines Menschen bis fast zu dieser Distanz spüren. Die Übung besteht nun darin, sich den Persönlichkeitsraum der und des anderen vorstellen und dann auch wahrnehmen zu lernen. Später könne man mit einer imaginären Nadel versuchweise diese Blase auch einmal attackieren. Die Studierenden, auf die Peripherie ihrer Mitmenschen sensibilisiert, entwickelten einen Ferntastsinn und nähmen weitaus sensibler die Persönlichkeit des Nächsten wahr, schildert Langhans. Dringt jemand in den eigenen imaginären Lebensraum ein, so führe dies zu einem spürbaren Schmerz. Es gehört wohl zu den Widersprüchen unserer Zeit, dass die gebotene räumliche Distanz eine neue Form von Nähe und Intimität ermöglicht. Tatsächlich: Am Gemüsestand auf freien Zugang zu warten, im Einkaufskorridor elegant auszuweichen, ist von den Übungen der Schauspielschule nicht weit entfernt.
Bild: Anne Deuter, ‹Ein Stück vom Himmel›, Aquarellzeichnung, Dia-Prägung in Papier. Leipzig, 2020.