Licht ist Bewusstsein

Im ‹Goetheanum› 7/2025 entwickelten Martin Rozumek und Hans-Christian Zehnter ihre Ansicht, wie in der Sinneserscheinung die Aufforderung zum Lesen im Buche der Natur liegt. Im Zentrum stand die Frage, was aus geisteswissenschaftlicher Perspektive unter ‹Materie› zu verstehen sei. Dieses Mal wenden sie sich dem Licht zu und entwickeln Orientierungslinien für dessen wesensgemäße Betrachtung.


Wir lieben das Licht: Sonnenschein, ‹schönes Wetter›. Der Aufstieg des Lichtes, ob am Morgen oder im Frühling, erfüllt uns mit Dank und Freude. Wir brauchen das Licht – zum Lesen in der Dunkelheit, zur Gemütsaufhellung in schweren Zeiten. Licht ist lebensnotwendig: Ohne das Wunder, das die Pflanzenwelt vollbringt, aus Luft und Licht Leiblichkeit hervorzubringen, könnten wir nicht existieren. Die Geschichte der bildenden Kunst singt ein Lied auf das Licht, Rembrandt, die Impressionisten, William Turner, Ólafur Elíasson oder James Turrell. Die unsere heutigen Vorstellungen von Materie so bestimmende Quantenphysik nahm vor 100 Jahren ihren Ausgang, ausgerechnet am Licht den Bausteinen der Materie auf die Spur zu kommen. Zeitgleich schrieb Rudolf Steiner in ‹Mein Lebensgang›: «Ich sagte mir, das Licht wird gar nicht sinnlich wahrgenommen; es werden ‹Farben› wahrgenommen durch Licht, das sich in der Farbenwahrnehmung überall offenbart, aber nicht selbst sinnlich wahrgenommen wird. ‹Weißes› Licht ist nicht Licht, sondern schon eine Farbe. So wurde mir das Licht eine wirkliche Wesenheit in der Sinneswelt, die aber selbst außersinnlich ist.»1 Das heißt: Erleben wir Licht, nehmen wir es nicht sinnlich wahr. Licht ist eine in der Sinneswelt gegenwärtige Wesenheit, die aber selbst außersinnlich ist.2 ‹Licht› zählt damit zu den bedeutendsten und rätselhaftesten Erfahrungen, die wir machen dürfen.

Ausgangspunkte

Wie ist diesem Rätsel auf die Spur zu kommen? Goethe fragt im Vorwort seiner Farbenlehre, «ob man nicht, indem von den Farben gesprochen werden soll, vor allen Dingen des Lichtes zu erwähnen habe», worauf er erwidert, dass «schon so viel und mancherlei von dem Lichte gesagt worden» sei und dass es «bedenklich» sei, «das oft Wiederholte zu vermehren. Denn eigentlich unternehmen wir umsonst, das Wesen eines Dinges auszudrücken. Wirkungen werden wir gewahr, und eine vollständige Geschichte dieser Wirkungen umfasste wohl allenfalls das Wesen jenes Dinges.»3 Über das, was das Licht für sich ist, äußerte sich Goethe also nicht direkt. Stattdessen schlug er einen phänomenologischen Weg entlang der Farberscheinungen ein, um auf diese Weise zur Charakterisierung des Lichtes zu kommen, die über die Summe der Farberscheinungen hinausweist. Mit unserem Versuch folgen wir diesem Ansatz. Dabei sind allerdings nicht die Farben unsere Leitlinie. Wir fokussieren uns auf das Phänomen des In-die-Erscheinung-Tretens. Dafür knüpfen wir an Ausgangspunkte einer geistgemäßen Weltzuwendung an, die wir in einem früheren Aufsatz in der Wochenschrift herausgearbeitet haben:4

1. Die irdische Wirklichkeit ist eine Maya, der es sich als lesbares Buch zuzuwenden lohnt. Zu dieser Grundlage gehören die beiden Fundamente, dass den sinnlichen Erscheinungen keine atomistisch vorzustellende Materie unterlegt ist und dass sich im menschlichen Inneren das Innere der Natur ausspricht.

2. Damit einher geht – so sehr es die Dinge auf den Kopf zu stellen scheint –, dass sich die irdische Wirklichkeit im Menscheninnern ereignet. Unser Ich ist der Ort, in dem sich Welt abspielt, zu Bewusstsein und zur Selbsterkenntnis kommen kann. ‹Da draußen› erscheint uns eine materielle Welt, deren Gehalt sich in unserem Inneren als ein Miteinander geistiger Wesen offenbaren kann.

3. Die physische Welt als sinnliche Erscheinung ist, um die Umstülpung der Sichtweise zu vervollständigen, die äußerste Emanation eines Weltinnenraumes, klassisch anthroposophisch gesprochen: einer geistigen Welt. Dieser Weltinnenraum besteht ausschließlich aus geistigen Wesen.5 Unsere Erdenwirklichkeit ist Bild dieser geistigen Innenwelt. Alles, was sinnlich zutage tritt, hat seinen Ursprung (seine Heimat) in diesem Weltinnenraum.

Licht im Weltinnenraum

So, wie aus dem Umfang unserer individuellen, seelisch-geistigen Innenwelt nur ein Bruchteil an die Oberfläche tritt, so auch beim Weltinnenraum: Auch von diesem geistigen Weltinnenraum ist nur ein Bruchteil sinnenfälliger Natur, und dieser Anteil ist der physische Aspekt der Welt. ‹Sinnenfällig› meint, dass etwas durch mindestens einen unserer zwölf Sinne erscheinen kann.

Ein weiterer Teil des Weltinnenraumes tritt zwar in die irdische Wirklichkeit ein, ist aber nicht sinnenfällig; er ist hier gegenwärtig und wirksam, aber sinnlich nicht fassbar (ätherischer Aspekt der Welt). Schließlich gibt es solches, das seelisch-geistig dem Innenraum der Welt zugehörig verbleibt (astraler Aspekt der Welt), das also weder sinnenfällig wird, noch sich im Sinnlichen als anwesend und wirkend erweist.

Auch das Licht war ursprünglich ein astrales Wesen. Eine Übertragung von 1 Mos 1,1–5 durch Rudolf Steiner lautet: «In den Urbeginnen verdichteten die / Götter das Ätherische und das Astralische. / Und das Ätherische war ungeordnet / es war finster (denn das Licht war erst im Astralischen), / und über dem Ätherischen war der göttliche Geist / Und es offenbarte sich das Astralische im Ätherischen als Licht / und es kamen hervor diejenigen, welche nicht zum Lichte konnten. / Die Geister des Lichtes machten den Tag; / die Geister der Finsternis die Nacht. / Es schieden sich im Ätherischen, obere untere Wesen.»6

Das, was wir gewohnt sind, Licht zu nennen, hat demnach seinen Ursprung im Umkreis der geistigen (astralen) Welt – und nicht in einer ungeistig und punkthaft vorgestellten Materie oder in vorgestellten Quanten. Wie aber kann man Zugang zu diesem eigentlichen Wesen des Lichtes im Geistigen erhalten?

Licht – Gedanke

Eine Suchrichtung für diese Frage ergibt sich, wenn Steiner das innere Erlebnis von Licht mit unseren Gedanken gleichsetzt. So zum Beispiel in einer Notiz: «Licht – innerlich erlebt = Gedanke, Vorstellung.»7 Oder im Vortrag vom 5. Dezember 1920 heißt es: «Dasselbe Erlebnis, das der Mensch durch die sinnliche Anschauung des Lichtes in der äußeren Welt hat, hat er gegenüber dem Gedankenelemente des Hauptes für die Imagination. Sodass man sagen kann: Das Gedankenelement, objektiv geschaut, wird als Licht geschaut, besser gesagt, als Licht erlebt. – Wir leben, indem wir denkende Menschen sind, im Lichte.»8

William Turner, ‹The Evening of the Deluge›, 1843. National Gallery of Art

Licht – Bewusstsein

‹Licht› begegnet uns zuallererst – was, weil allzu selbstverständlich, oft übersehen wird – als Wachbewusstsein. Unser Wachbewusstsein ist Licht-getragen.9 Licht macht dem wachen Menschen die Welt sinnlich erfahrbar und vice versa: Die Sichtbarkeit der Welt weckt den Menschen. Was sich dabei offenbart, ist eine geistige Welt, die die Sinneserscheinung verwendet, um von sich zu künden; eine Welt, die wir andernfalls verschlafen würden. Dem wachen Erdenmenschen zeigt sich ein licht- bzw. geist- oder auch gedankendurchtränktes sinnliches Bild einer geistig – und nicht materialistisch-gegenständlich – aufzufassenden Welt. Licht ist Einsicht im Sinnlichen in eine andernfalls für uns dunkle Welt des geistigen Weltinnenraumes.

Mit dem Erlebnis, das wir im Irdischen als ‹Licht› bezeichnen, ist also verbunden, dass etwas in die Sichtbarkeit tritt. Goethe formulierte daher zu Beginn seiner Farbenlehre: «Jene unmittelbare Verwandtschaft des Lichtes und des Auges wird niemand leugnen; aber beide zugleich als eins und dasselbe zu denken, hat mehr Schwierigkeit.»10

Rudolf Steiner pointiert in einer Notizbucheintragung: «Das Auge ist das Licht in seiner Selbsterfassung, hinter dem Sehen ist gar kein Lichtwesen mehr; das Licht, wie es uns erscheint, ist das Licht in seinem ganzen Wesen.»11

Mit dem morgendlichen Auftauchen von Farben und Formen aus der Nacht tritt die Welt in die Sichtbarkeit; so auch, wenn wir spätabends heimkehren und den Lichtschalter betätigen. Das Erlebnis ‹Licht› meint, dass etwas anderes (etwas, was zunächst nicht ich bin) in die Sinneserfahrung eintritt und mir dadurch (erst) bewusst wird. Licht lässt also für uns etwas anderes erscheinen und macht sich in uns als eine Bewusstseinsaufhellung bemerkbar.

Seinem astralen inneren Ursprung gemäß erleben wir ‹Licht› als eine Bewusstseinserhellung, als ein Aufwachen. Dieses (innere) Lichterlebnis ist als primär zu betrachten.12 Das alltägliche Erlebnis von ‹Sehen› und das damit verbundene ‹Für-wahr-Halten› einer gegenständlichen Dingwelt ist in Bezug auf das Phänomen ‹Licht› als sekundär einzustufen und als ein solches, das erst mit der Verführung durch Luzifer zustande gekommen (das Auftun der Sinne durch die Verführung im Paradies)13 und daher nicht wahrhaftig und primär ist. Primär und wahrhaftig ist das innere, bewusstseinserhellende Erlebnis von Licht. Licht ist damit nicht etwas, was eine Ding-an-sich-Raumeswelt beleuchtet (sie wie eine Dusche bestrahlt), sondern etwas, das mein Bewusstsein für eine konkrete, mir zugehörige geistige Welt weckt, die mir sinnlich erscheint. Die sinnlichen Erlebnisse zum Beispiel in der Tageshelle sind Ausdruck dieser lichtvollen Bewusstseinserhellung (und nicht umgekehrt).

Olafur Eliasson’s ‹The Weather Project›, at the Tate Modern in London, UK, CC BY 3.0

Mein Licht und das Weltenlicht

Diese Bewusstseinsaufhellung hat zwei Wege: einen von innen, einen von außen. So, wie es im Herbst beim Samen innen einen Lebensfunken gibt, der sich im Frühjahr dem von außen kommenden Leben öffnet und anschließt, so haben wir Menschen ein inneres Licht: Ich kann auch in völliger Dunkelheit noch bei Bewusstsein sein.14 Darüber hinausgehend gibt es das von außen kommende Weltenlicht der Sonne, das die sonst dunkle, nicht zu Bewusstsein kommende Welt ergießt und an das ich mich mit meinem inneren Lichtfunken anschließen kann. Anders: Ich wende mein Bewusstsein, meine Aufmerksamkeit der mir erscheinenden Welt zu. Das für sich unsichtbare Weltenlicht macht dabei in dreierlei Weise von sich reden: als sinnliches Erscheinenlassen der Welt, als Glanz (Reflektion) und als Blenden.15

Damit ist jeweils eine Bewusstseinsqualität verbunden. Das Erscheinenlassen der Welt lässt mich und die Welt in ein freies und waches Verhältnis zueinander eintreten (es ist Tag). Sehen wir Glanz, dann sehen wir auch den wirksamen Zusammenhang mit der Lichtquelle16 mit. Mit dem Glänzen werden das, was erscheint, und ich, der Betrachtende und Erwachte, aus der Reserve geholt: Das Erscheinende leuchtet über sich hinaus, ja es zeigt sich ‹verklärt› (das Grün eines Blattes erscheint dann weiß und der weiße Fleck auf dem Grün erscheint als Glanzlicht). Verklärt bin dann auch ich als Betrachtender, der über das alltägliche Wachbewusstsein hinaus in ein übersinnliches Erlebnis gehoben wird – sinnlich sind Grün und Weiß, Licht(esglanz) ist übersinnlich. Beim Blenden zeigt sich die Übermacht des Lichtes allzu deutlich. Mein Bewusstsein vermag es (noch) nicht, dieser Übermacht standzuhalten.

Ätherisches Auftreten von Licht

Zu dieser Macht des Lichtes gehört, im Hiesigen anwesend und abwesend sein zu können. Indem sich uns das Licht als abwesend und anwesend zeigt, berichtet es von seiner Jenseitigkeit oder seiner Hiesigkeit. Anwesend ist das unsichtbare Licht angesichts der brennenden Kerze (es ist hiesig); abwesend, wenn diese ausgelöscht ist (das Licht ist jenseitig). Abwesend auf Erden ist es in der Nacht, anwesend ist das Licht auf Erden am Tag. Vermindert anwesend ist es auf Erden im Herbst und Winter, erneut zum Aufleuchten kommt das Licht im Frühling und Sommer.

Diese Eigenschaft des Lichtes nennen wir ‹ätherisch›: Es ist ein Übersinnliches (ein Wesen nicht-sinnlicher Natur), das in der Sinneswelt wirksam sein kann, selbst aber nicht sinnlich (wahrnehmbar) wird. Sein Reich ist nicht von dieser Welt,17 und dennoch ist es hier wirksam, gegenwärtig, anwesend – womit wir wieder nah an dem eingangs erwähnten Zitat aus Rudolf Steiners Lebensgang sind.

Seelisches und geistiges Auftreten von Licht

Licht ist originär eine Bewusstseinsaufhellung. Bis hierher betrachten wir diese Erhellung im Blick auf die ätherische Wirksamkeit des Lichtes in der Sinneswelt. Neben diesem ätherischen Auftreten des Lichtes gibt es noch ein seelisches und ein geistiges Auftreten.

Wenn Rembrandt einen Lichtreflex auf einem Goldhelm malt oder wir auf einem Kerzenbild von Gerhard Richter eine Flamme leuchten sehen, so sind das seelische (und durchaus sehr überzeugende) Lichterlebnisse, sie treten aber nicht ätherisch-wirksam in die Sinneswirklichkeit ein – sie verbleiben in unserem Inneren. Weder die Reflexion von dem gemalten Goldhelm, noch die gemalte Kerzenflamme erzeugen auf meiner hingehaltenen Hand eine Erhellung. Solches ist aber sehr wohl der Fall beim ätherisch anwesenden Licht einer Kerzenflamme oder beim Glanz einer Metalloberfläche. Ein geistiges Lichterlebnis schließlich können wir zum Beispiel in einer Meditation erfahren, wenn es in uns hell wird, während in der sinnlichen Welt um uns herum alles unverändert bleibt.

Rembrandt, ‹Der Mann mit dem Goldhelm›, 1650/1655, Staatliche Museen zu Berlin.

Gegenüber diesen beiden ‹inneren› Begegnungsmöglichkeiten mit Licht kann die Begegnung mit dem in der Sinneswelt wirksamen, dennoch unsichtbaren ätherischem Licht als ‹äußerlich› bezeichnet werden. Wir benennen dieses Lichterlebnis als ‹irdisch›.

Licht ist ein übersinnliches Wesen, das selbst nicht sinnlich wahrnehmbar ist. Es kündet von seiner Anwesenheit: ätherisch, seelisch und geistig – und ist doch immer dasselbe Licht. Es gibt also ‹ein› Licht, das sich in verschiedenen Weisen bemerkbar macht und verschiedene ‹Orte› seines Wirkens aufsucht (in mir oder in der Welt, im Sinnlichen oder im Seelisch-Geistigen). Es gibt also nicht ein äußeres Licht und noch ein inneres Licht, sondern ‹ein› Licht, das in verschiedener Weise bzw. aus verschiedenen Richtungen an uns herantritt. Es gibt auch kein ‹physisches› Licht. Licht bleibt immer überphysisch, das heißt über- oder außersinnlich: «So wurde mir das Licht eine wirkliche Wesenheit in der Sinneswelt, die aber selbst außersinnlich ist.»18

Der sinnliche und übersinnliche Anteil des Licht-Erlebens

Mit dem irdischen Erlebnis von Licht ist untrennbar das Sehen verbunden; das Sehen zunächst als reine Sinneswahrnehmung (Hell-Dunkel, Farben) und als das Erfahren von Form und Gestalt. Das meint: das bewusste Erleben einer reinen Wahrnehmung und das ‹Eingreifen› von astralischen Form- und Gestaltkräften in diese reine Wahrnehmung. «Die Weisheit lebt im Licht.»19 Ohne diese Weisheit im Licht tritt die reine Sehwahrnehmung (ohne Form- oder Gestaltanteil) als Helligkeit und Farbe und zugleich als Rätsel an uns heran. Kommt zu der reinen Sinneswahrnehmung das Eingreifen von Form- oder Gestaltkräften hinzu, klärt sich die Wahrnehmung auf zu einer sehenden Erkenntnis: Es wird Licht. Klassische Erlebnisse dieser Art vermitteln die Vexierbilder, in denen zunächst nur schwarze und weiße Flecken zu sehen sind, die durch das allmähliche Eingreifen oder unvermittelte Einleuchten von Formkräften sichtbaren Sinn erhalten.

Wie das weisheitsvolle Licht an der reinen Sinneswahrnehmung zur Wirklichkeit und zur Erkenntnis aufleuchtet, so leuchtet bei einer Kerzenflamme das unsichtbare Licht an demjenigen auf, was wir mit einem in die Flamme gehaltenen weißen Kreidestück als dunkle Materie (Ruß) auffangen können. Mit dem Licht-Werden entsteht irdische Wirklichkeit,20 wie es in den drei folgenden Aussagen Rudolf Steiners zum Ausdruck kommt:

«Was im Menschen ist, ist ideeller Schein; was in der wahrzunehmenden Welt ist, ist Sinnenschein; das erkennende Ineinanderarbeiten der beiden ist erst Wirklichkeit.»21

«Die Wahrnehmung ist […] nichts Fertiges, Abgeschlossenes, sondern die eine Seite der totalen Wirklichkeit. Die andere Seite ist der Begriff. Der Erkenntnisakt ist die Synthese von Wahrnehmung und Begriff. Wahrnehmung und Begriff eines Dinges machen aber erst das ganze Ding aus.»22

«Es drängt sich an den Menschensinn / Aus Weltentiefen rätselvoll / Des Stoffes reiche Fülle. / Es strömt in Seelengründe / Aus Weltenhöhen inhaltvoll / Des Geistes klärend Wort. / Sie treffen sich im Menscheninnern / Zu weisheitvoller Wirklichkeit.»23

Mit den an der Sinneswahrnehmung aufleuchtenden astralen Form- oder Gestaltkräften ist gleichzeitig der (aus dem Weltinnenraum hervortretende) Geist- oder Wesensgehalt der Wirklichkeit gegeben – der Gedankeninhalt, ihr Licht; hiermit kommt dasjenige zur sinnlichen Erscheinung, mit dem wir es jeweils aktuell zu tun haben. Es wird zum sinnlichen Bild seiner selbst, es leuchtet im Sinnlichen auf.

Vexierbild (Giraffe)

Wie wir in unserem früheren Artikel entwickelten, haben wir es sowohl beim sinnlichen (reine Wahrnehmung; «des Stoffes reiche Fülle») als auch beim übersinnlichen Anteil (Form- oder Gestalt; «des Geistes klärend Wort») mit Offenbarungen geistiger Wesen zu tun. Das Letztere erscheint in einer geistähnlichen, das Erstere in einer verhüllten Weise.24

Vorstellungsfrei

Will man das Geistige seiner selbst gemäß erfassen, dann ist das nur vorstellungsfrei möglich; das meint: Jegliche Hilfsvorstellung (von z. B. Kraft, Energie o. ä.), die noch an irdische Maßstäbe anknüpfen will, lenkt von dem eigentlichen Wesensgehalt des Geistigen ab. Hierauf macht auch Steiner immer wieder aufmerksam:

Der Mensch wolle im Übersinnlichen «Gestalten […] wahrnehmen, wenn auch nicht in derber Materie, so doch Gestalten, die ihm in einer Art Lichthülle entgegentreten; er findet, dass er Töne hören müsse, ähnlich den Tönen der physischen Welt. […] Nun sollte man das eigentlich gar nicht zu sagen brauchen, denn es sind doch die Wesen der übersinnlichen Welten nun einmal über alles Sinnliche erhaben, sie stellen sich nun einmal nicht in ihrer wahren Gestalt dar, in sinnlichen Eigenschaften, denn sinnliche Eigenschaften setzen Auge, Ohr, Sinnesorgane überhaupt voraus. In den höheren Welten wird aber doch nicht mit Sinnesorganen wahrgenommen, sondern mit Seelenorganen […]. Und das Missverständnis, das so häufig entsteht, ist, dass man dasjenige, was die höheren Seelenkräfte hinmalen, und was man auch mit Worten beschreiben kann, versinnlicht, wodurch es für das Wesen der Sache genommen wird. Das ist nicht das Wesen der Sache, sondern es muss durch dieses hindurch das Wesen der Sache zunächst erahnt und nach und nach erst erschaut werden.»25

Man hat es mit Schöpferischem zu tun, mit substanziell Wollendem, Fühlendem und Denkendem – wofür der Begriff ‹Wesen› verwendet wird. Licht besteht aus schöpferischen Wesen, sowohl sinnesseitig (oder stoffesseitig) als auch formgestaltlich – in der Sprache der eingangs zitierten Bibelübertragung Rudolf Steiners: obere und untere Wesen.

James Turrell, ‹Space that sees›,Israel Museum Jerusalem, CC BY 3.0

Licht ist webend Wesen26

Das irdische Erlebnis ‹Licht› ist also ein ätherisches Zeugnis des geistigen, wesenhaft getragenen Weltinnenraumes in und mit unserem Bewusstsein. In der Aufhellung unseres Bewusstseins haben wir seelisch und geistig Teil an dem wesenhaft getragenen Weltinnenraum. ‹Licht› ist damit eine weitaus umfänglichere Wesenswelt als die Vorstellung eines scheinwerferartigen Lichtausgießens oder von quantenartig gedachten Emanationen einer materialistisch vorgestellten Materie. Die Anwesenheit und Tätigkeit der Lichtes- bzw. Weltinnenraumwesen gilt es, angesichts von sinnlichen, seelischen und geistigen Lichterfahrungen in die erlebende Aufmerksamkeit zu hieven, um ein konkretes und wesensgemäßes Erleben von Licht hervorzubringen – und um damit zu beginnen, dem Wesen des Lichtes gerecht zu werden, es seiner selbst gemäß zu erleben.

Am 8. April 1911 erläutert Steiner auf dem Philosophenkongress in Bologna, dass das Ich nicht innerhalb der Leibesorganisation vorzustellen sei, «sondern wenn man das ‹Ich› in die Gesetzmäßigkeit der Dinge selbst verlegt, und in der Leibesorganisation nur etwas wie einen Spiegel sieht, welcher das außer dem Leibe liegende Weben im Transzendenten [bzw. im wahren Weltenwesen] diesem durch die organische Leibestätigkeit zurückstrahlt».27 Genau zwölf Jahre später, am 8. April 1923, hält Steiner in Dornach Vorträge zum Mysterienwesen im Jahreslaufgeschehen. Dort wird geschildert, wie die Menschen der Vorzeit durch Gesang und Tänze versuchten, das göttliche Ich im Umkreis für Momente zu sich heranzuziehen. Dort «gab es für den Hochsommer den Spruch: Empfange das Licht. Man bezeichnete mit dem Lichte die geistige Weisheit, dasjenige, innerhalb dessen das eigene menschliche Ich strahlte.»28

Licht ist insofern Zeugnis der Anwesenheit der geistigen Wesenswelt des Weltinnenraumes im irdischen Sein bzw. im Sehen des Menschen.29 Licht ist das Sehen der Götter bzw. Gottes in unserem Sehen. Das ist der Inhalt dessen, was unsere Seele durchdringt, wenn wir Licht erleben – und für den es zu erwachen gilt. Aurelius Augustinus: Anders sieht Gott, anders der Mensch die erschaffenen Dinge. «Deswegen sehen wir diejenigen Dinge, die Du gemacht hast, weil sie sind; weil Du aber siehst, sind sie da.»30

Fußnoten

  1. Rudolf Steiner, Mein Lebensgang. GA 28, Basel 2025, Kap. XIV, S. 109.
  2. Hans-Christian Zehnter, Lichtmess. Essay zum Wesen des Lichtes. Basel 2018; sowie das Kapitel ‹Sieht man Licht, dann schaut man Licht› in: Hans-Christian Zehnter, Anschauungen – Vom Vertrauen in die Phänomene. Dornach 2020; siehe auch den diesem Kapitel vorhergehenden ‹Vorblick›.
  3. Johann Wolfgang von Goethe (1808), Zur Farbenlehre. ‹Vorwort›, Hamburger Ausgabe, München 1982, Bd. 13, S. 315.
  4. Siehe: Martin Rozumek, Hans-Christian Zehnter, Materie besteht nicht aus Materie, in: Goetheanum 7/2025, S. 6–11.
  5. A. a. O., S. 10.
  6. Rudolf Steiner, Übersetzungen und freie Übertragungen aus dem Alten und Neuen Testament. GA 41, Basel 2018, S. 25. – In der letzten Zeile ist zwischen ‹obere› und ‹untere› ein ‹und› zu denken.
  7. o notiert von Marie Steiner (in ihrem Notizbuch Nr. 2, Rudolf Steiner Archiv, Dornach, S. 42). – Das Denken ist eine Zusammenhang schaffende Tätigkeit. Aufgrund dessen wählten Jochen Bockemühl und Georg Maier z. B. für den Lichtäther den Begriff ‹Erscheinungszusammenhang› und für den Klangäther oder den chemischen Äther den Begriff ‹Verwandlungszusammengang›. Siehe: Jochen Bockemühl (Hrsg.), Erscheinungsformen des Ätherischen. Stuttgart 1985.
  8. Rudolf Steiner, Die Brücke zwischen der Weltgeistigkeit und dem Physischen des Menschen. GA 202, Dornach 1973, S. 74. – Die Formulierung «sinnliche Anschauung des Lichtes in der äußeren Welt» verstehen wir so, dass Steiner hier Licht als ätherisches Phänomen dem Gedankenlicht als geistigem Phänomen gegenüberstellt. Licht als ätherisches Phänomen ist zwar unsichtbar, es wirkt aber im Sinnlichen, sodass wir am Sinnlichen dasselbe Erlebnis ‹Licht› haben können, wie am Denken.
  9. Im Johannesprolog steht in der altgriechischen Fassung in dem Satz «Und das Leben war das Licht der Menschen» nicht ‹bios› für ‹Leben›, sondern ‹zoe›, was beseeltes, bewusstes Leben bedeutet. Siehe: Mechthild Oltmann, Leben mit der Erde, in: Goetheanum, Nr. 12/2025, S. 6.
  10. Johann Wolfgang von Goethe, Entwurf einer Farbenlehre. Einleitung. Hamburger Ausgabe, München 1982, Bd. 13, S. 324. – Siehe: Hans-Christian Zehnter, Lichtmess. Essay zum Wesen des Lichtes. Basel 2018; sowie das Kapitel ‹Sieht man Licht, dann schaut man Licht› in: Hans-Christian Zehnter, Anschauungen – Vom Vertrauen in die Phänomene. Dornach 2020.
  11. Rudolf Steiner, Notizbuch NB 206; eGA S. 149, Datierung unsicher, zwischen 1895 und 1910.
  12. Mit diesem Bedeutungskontext lesen wir auch die Zeile «taghelles Licht erstrahlte in Menschenherzen» aus Rudolf Steiners ‹Ur-Weihenacht›-Ergänzung zum ‹Grundsteinspruch›.
  13.  Siehe z. B. Lehrstunde vom 17. Dezember 1911 in: Rudolf Steiner, Lehrstunden für Teilnehmende der erkenntniskultischen Arbeit 1906–1924. GA 265a.
  14. Von diesem inneren Licht hat Jaques Lusseyran berichtet. Vgl. dazu: Raymond Burlotte, Jacques Lusseyran und die Ökonomie des Lichts, in: Goetheanum Nr. 1–2/2025
  15. Siehe u. a.: Hans-Christian Zehnter, Lichtmess. Essay zum Wesen des Lichtes. Basel 2018; sowie das Kapitel: ‹Sieht man Licht, dann schaut man Licht› in: Hans-Christian Zehnter, Anschauungen – Vom Vertrauen in die Phänomene. Dornach 2020.
  16. Da das Wort ‹Lichtquelle› mit der Vorstellung der ‹Lichtdusche› verbunden ist, kann man besser von eigenhellen und mithellen Erscheinungen oder von Selbstleuchtendem und Mitleuchtendem sprechen. Siehe: Georg Maier, Optik der Bilder. Dürnau 1986, S. 105, 109 sowie Hans-Christian Zehnter, Lichtmess. Essay zum Wesen des Lichtes. Basel 2018, S. 85.
  17. Siehe Joh 13,36–37.
  18. Rudolf Steiner, Mein Lebensgang. Basel 2025, Kap. XIV, S. 109. – Die Lichtvorstellungen der modernen Physik sind unterphysisch bzw. unternatürlich. – Vergleiche: Raymond Burlotte zum Wesen des Lichtes in: Goetheanum Nr. 1–2/2025
  19. Rudolf Steiner, Vorstufen zum Mysterium von Golgatha. Vortrag vom 1. Mai 1913, London. – Ein von Steiner vielfach variierter Meditationsspruch.
  20. Spätestens hier wird deutlich, dass ‹Licht› ein Erlebnis ist, das sich auf alle zwölf Sinnesfelder bezieht. Auch im Hören, Riechen, Schmecken etc. lebt ‹Licht›.
  21. Rudolf Steiner, Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung. GA 2, Basel 2022, S. 138.
  22. Rudolf Steiner, Die Philosophie der Freiheit. GA 4, Dornach 1995, Kap. V: ‹Das Erkennen der Welt›.
  23. Rudolf Steiner, Antworten der Geisteswissenschaft auf die großen Fragen des Daseins. GA 60, Dornach 1983, Vortrag vom 20. Oktober 1910, S. 38.
  24. Siehe: Martin Rozumek, Hans-Christian Zehnter, Eine Materie ohne zugrundeliegende Materie, in: Goetheanum, Nr. 7/2025.
  25. Rudolf Steiner, Die okkulten Grundlagen der Bhagavad Gita. GA 146, Vortrag vom 2. Juni 1913, Helsingfors, Dornach 1962, S. 96–98.
  26. Angelehnt an die Zeile «Des Lichtes webend Wesen», in: Rudolf Steiner, Die Pforte der Einweihung. GA 14, 3. Bild, Worte des Benedictus.
  27. udolf Steiner, Vortrag vom 8. April 1911 in Bologna: Die psychologischen Grundlagen und die erkenntnistheoretische Stellung der Anthroposophie. Autoreferat in: Philosophie und Anthroposophie, gesammelte Aufsätze 1904–1923, GA 35.
  28. Rudolf Steiner, Der Jahreskreislauf als Atmungsvorgang der Erde und die vier großen Festeszeiten. GA 223, Vortrag vom 8. April 1923, Dornach 1990, S. 77.
  29.  Siehe Fußnote Nr. 20.
  30. Aurelius Augustinus (ca. 354–430 n. Chr.), ‹Die Bekenntnisse›,

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