Heilung bedeutet Berührung

Die Jahrestagung der Medizinischen Sektion vom 12. bis 17. September widmet sich dem menschlichen Leib. Ein Gespräch mit Matthias Girke und Georg Soldner. Die Fragen stellte Wolfgang Held.


Matthias Girke

Der Leib ist uns das Nächste und zugleich das Fernliegendste – oder?

Matthias Girke Es ist interessant, dass wir von einem ‹Unterleib› und einem ‹Oberkörper› sprechen. Daran zeigt sich mir, dass wir ganz unterschiedlich mit dem oberen und dem unteren Menschen verbunden sind. Mit dem Leib, dem Unterleib, haben wir eine tiefe seelisch-geistige Verbindung – auch im Willen, denn wir benutzen ihn für unser Tun. Im Oberkörper sitzt unser Bewusstsein. Es ist nicht einfach, die Knochen zu bewegen, die den Kopf zusammenfassen. Insofern ist der Widerspruch, dass unsere physische Grundlage einmal Leibcharakter und einmal Körpercharakter ausmacht, Teil unserer Physiologie. Einmal sind wir mit ihr mehr verbunden und das andere Mal sind wir ihr mehr entfremdet. Gerade dieses Entfremden vom Leib wollen wir an unserer Jahrestagung bearbeiten und die Brücke schlagen zur Idee vom Leib als Tempel des Ich. Dem steht heute gegenüber, dass wir den Körper als etwas Äußeres, zu Optimierendes verstehen.

Georg Soldner

Georg Soldner Wir können versuchen, den Körper zu inszenieren, auch operativ zu verändern. Anders ist es beim Leib: Hier ist die Dimension gemeint, in der ich lebe. Es ist ein lebendiger Vollzug, aus dem ich nicht einfach heraustreten kann, sondern wir können mit Thomas Fuchs sagen: Den Körper kann man haben, aber wir leben im Leib. Wir haben in den letzten Jahrhunderten die Körperlichkeit unserer Existenz, an der wir ja auch Bewusstsein und Selbstbewusstsein entwickeln, immer mehr herausgearbeitet. Wir haben auch bewundernswerte medizinische Fähigkeiten entwickelt, den Körper beispielsweise nach schweren Verletzungen zu reparieren oder operativ zu behandeln. Gleichzeitig nehmen aber eben auch Autoimmunerkrankungen zu, Erkrankungen, in denen das, was wir unser Immunsystem nennen, was wir auch selbst sind, diesen Leib attackiert. Deshalb werden solche Erkrankungen uns an der Jahreskonferenz besonders beschäftigen.

Mich hat ein Wort des Christengemeinschafts-Priesters Anand Mandaiker berührt: Er sagt, dass sich die Heimatlosigkeit heute vom Kosmischen bis zum Geschlecht, bis zur Leiblichkeit spannt.

Girke Thomas Fuchs nennt es die ‹Einhausung›. Ich finde es sehr interessant, dass der ehemalige Präsident der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft einen Artikel geschrieben hat über die Notwendigkeit einer Berührungsmedizin. Dabei bezieht er sich ebenfalls auf Thomas Fuchs, wie er Krankheit definiert: Aus einem Leib wird ein Körper, wird ein Gegenstand. Bei Schlaganfallpatienten ist das deutlich zu sehen: Wenn sie ihren Arm von einer Position in eine andere heben, dann ist das die Verkörperung aus dem Leiblichen. Umgekehrt heißt dann Gesunden im Sinne von Thomas Fuchs: ‹Verleiblichen des Körperlichen›, dass der Körper wieder zum Leib und Instrument des Menschen wird. Diese Berührungsmedizin spielt natürlich in der Anthroposophischen Medizin eine große Rolle, leiblich, seelisch, geistig, um ein Haus zu bilden für den Menschen. Die vielen Körpertherapien, die es gibt, haben diese Leibbildung zum Ziel. Wie kann ich mich verleiblichen und nicht nur verkörperlichen? Das ist die Frage, und was mich dabei immer sehr berührt, ist die Erfahrung, dass dieser Leib ganz individuell auf jeden Menschen zugeschnitten ist. Selbst bei eineiigen Zwillingen gelingt es erfahrenen Müttern und Vätern, einen Unterschied festzustellen. Also es gibt die Individuation im Leiblichen. Das, was wir als unverwechselbares und einmaliges Ich sind, bildet sich ab bis in diese leibliche Ebene. Das ist, wenn wir der Beschreibung Rudolf Steiners folgen, die Ichorganisation, die alles im Leib individualisierend durchwirkt. Also jede Gestaltung in diesem Leib ist Ergebnis der Ichorganisation, und insofern sind wir zu Recht intensiv mit diesem Leiblichen verbunden. Und gleichzeitig kann dieses Leibliche sich uns entfremden, wenn wir nicht mehr mit dem Leib verbunden sind und dann tatsächlich mit Erkrankungen zu tun haben, die häufiger werden, die interessanterweise häufig psychosomatische Ursachen haben und sich in den zunehmenden Autoimmunerkrankungen zeigen.

Es gibt im Buddhismus den Hinweis: Gehe mit einem Leib so um, dass sich deine Seele darin wohlfühlt. Geht es um Inkarnationsbedingungen?

Soldner So ganz schmerzlos kommt die Seele nicht in diesen Leib. Wenn heute in der Forschung von Embodiment die Rede ist, dann zielt das auf das, was wir mit dem anthroposophischen Begriff der Inkarnation meinen. Wir erleben heute zunehmend Kinder, junge Menschen, die sich nicht vollständig mit ihrem Leib verbinden können. Wir wissen, dass das Durchmachen von Krisen, und zwar das leibliche Durchmachen von Krisen und Herausforderungen, in Kindheit und Jugend wichtig ist, um diesen Leib zu durchdringen, um ihn zum eigenen Leib zu machen. Akut fieberhafte Erkrankungen spielen dabei eine wichtige Rolle, ebenso intensive körperliche Bewegung. Dieses Thema wird uns an der Jahrestagung beschäftigen: Was sind die Bedingungen einer gesunden Leibdurchdringung, einer Aneignung des Leibes? Damit meine ich nicht, dass ich gelernt habe, mich zu schminken, sondern dass ich diesen Leib willensmäßig durchdringe und damit auch die Erfahrung leiblicher Kraft und Frische erleben kann. Heute fühlen sich viele Kinder schon im Kindergartenalter erschöpft. Diesem Phänomen wollen wir nachgehen.

Girke Das innere Wesen des Menschen und seine Verbindung mit dem Leib, das spricht Rudolf Steiner in der Grundsteinmeditation an. Dreimal ist da die Rede davon, dass die Seele im Leib lebt. Es ist eine Art Lebensverbindung der Seele mit dem Leib in seiner Dreigliedrigkeit. Und dieses Ankommen in dem Leib ist heute nicht mehr ungestört. Das braucht heute Pflege. Mich berührt dabei, dass wir durch Seelenkräfte das Leibliche unseres Wesens unterstützen können. Das, was uns Orientierung im Leben gibt, was zu Lebensmaximen wird, an die wir glauben können, gibt Sicherheit für die Seele und fördert ihre gesunde Beziehung zum Leib. Was wir an Liebe in der Seele entwickeln, wirkt aufbauend für die Lebensprozesse im Leib, unterstützt das Heilen. Deswegen ist die Liebe im paracelsischen Sinne die größte Arznei. Schließlich lebt Hoffnung in jedem therapeutischen Bemühen und hat Auswirkungen bis in die physische Leiblichkeit. Sie kann sogar den Verlauf von Erkrankungen beeinflussen. Wir erleben einen Unterschied im Krankheitsverlauf, je nachdem, ob ein Patient oder eine Patientin noch Hoffnung hat oder diese verloren hat. Deswegen ist die Heilkunst so intensiv mit der Hoffnung verbunden, wobei Hoffnung, wie Václav Havel betont, nicht bedeutet, dass etwas gut ausgeht, sondern dass es einen Sinn hat. Umgekehrt ist es die Furcht, die uns lähmt und die uns vom Leib entfremdet.

Wo erlebt ihr hier die Hausaufgaben, wo sind die blinden Flecken in der Anthroposophischen Medizin?

Girke Zum blinden Fleck gehört für mich, wenn man sich das Ich als das Höchste und den Leib als das Niederste vorstellt. Dabei vergessen wir, dass höchstes geistiges Wirken notwendig ist, damit der Leib entstehen kann. Das unterstreicht die Heiligkeit des Leibes oder, wie es Rudolf Steiner den jungen Medizinern damals sagte, dass der Leib eben nicht des Menschen, sondern Gottes ist. Das weist auf eine nicht genügend berücksichtigte geistige Perspektive des Leibes hin. Da haben wir noch einiges zu tun, um zu einem Leibbegriff zu kommen, der diese Dimension einschließt.

Soldner Gleichzeitig gilt, dass sich die Anthroposophische Medizin in der Praxis dadurch auszeichnet, dass sie den Leib ernst nimmt. Wir untersuchen Patienten und Patientinnen häufiger körperlich, als es heute noch üblich ist, und wenden eine Vielzahl von Therapien an, die sich an den Leib richten, die mit Berührung zu tun haben, wie rhythmische Massage und äußere Anwendungen. Ja, und mir scheint, dass die Anthroposophische Medizin weltweit als eine Medizin der Berührung und der Wärme wahrgenommen wird. Medizinisch wirklich auf den Leib einzugehen, ist eine Stärke der Anthroposophischen Medizin.

Zum Leiblichen gehört der Eros. Hier scheint die Anthroposophie sehr zurückhaltend, ja ihr wird Lustfeindlichkeit zugesprochen.

Soldner Was das Feld der Sexualität betrifft, hat sich, glaube ich, sehr viel getan. Das erlebe ich auch in pädagogischen Einrichtungen, die ich heute im Bereich der Waldorfpädagogik kenne. Es war vor ein, zwei Generationen anders, auch gesamtgesellschaftlich. So ist zum Beispiel auch der Umgang mit Transgender-Fragen in der Anthroposophischen Medizin lebendig und offen. – Ich glaube, dass wir in der Anthroposophie, in der Anthroposophischen Medizin den Leib in besonderer Weise als unseren Leib ernst nehmen, insofern wir ihn so ansehen, dass bereits der Embryo seinen Leib nicht nur aus dem Erbstrom, sondern auch aus seinem Ich, seiner Individualität heraus formt und aufbaut. Das ist eine Anschauung des Leibes, die ich sonst aus der Gegenwartsmedizin überhaupt nicht kenne und die auch wichtig ist dafür, dass wir auf den Leib der Erde anders schauen. Solang wir Tiere wie Dinge behandeln, Pflanzen nach Gutdünken genetisch verändern und die Böden als verfügbare Objekte behandeln, werden wir auch rücksichtslos mit unserem Leib umgehen. Leibferne, bis hin zur Lust- und Leibfeindlichkeit, würde ich also eher einer naturwissenschaftlich-technisch geprägten Grundhaltung unterstellen.

Girke Wir haben in der Medizin eine Verdinglichungsphilosophie, die auch am menschlichen Körper nicht haltmacht. Viele Patienten und Patientinnen, mit denen ich in den letzten Jahren gesprochen habe, erschrecken darüber, wie sehr sie als Körper gesehen und behandelt werden. Auch wenn sie sonst korrekt und wohlmeinend therapiert werden, fühlen sie sich doch eher als Körper gesehen. Ein Intensivpatient sagte: «Es wurde sehr viel für mich getan, aber ich war nicht gemeint.» Was hat er erlebt? Eine körperzentrierte und auf pathophysiologische Zusammenhänge eingehende Medizin, die den Fokus primär auf die Intervention, nicht auf die Heilungsprozesse legt. Das Heilen schließt alle Wesensglieder ein und geht letztlich von dem Ich aus, das den Willen zum Gesunden entwickelt. So gibt es keine Operation oder Intervention, in der nicht die höheren Wesensglieder ihren Anteil haben.

Zur Lage unseres Leibes gehören heute die zunehmenden Autoimmunkrankheiten – der Körper richtet sich gegen sich selbst. Was ist hier zu sagen?

Soldner Es gibt zunächst natürlich diese Anschauung, dass der Körper ein Objekt ist, in den ich investiere und mit dessen Hilfe ich Ziele erreiche. Das ist eine Entfremdung, die pathologische Züge zeigen kann. Ein wesentlicher Aspekt für die Entwicklung von Autoimmunerkrankungen sind die Bedingungen, die man vorfindet für eine gesunde ‹Einhausung› in den Leib. Das sind sehr verschiedene Bedingungen, und sie bilden den Boden für unsere leibliche Identifikation.

Wir wissen heute, dass das Mikrobiom des Erdbodens eine Rolle dafür spielt, ob ich mich richtig verkörpern kann, weil man sich in Verbindung mit der Welt verkörpert. Ich verkörpere mich nicht isoliert, sondern verbunden mit dem Waldboden, verbunden mit den Tierkontakten, mit dem Sonnenlicht. Wenn mir irgendetwas davon fehlt, kann daraus eine Disposition für Autoimmunerkrankungen erwachsen. Medikamente wie Antibiotika können nicht nur die Darmflora schädigen, sondern damit auch dazu beitragen, dass uns der Leib fremd wird. Was besonders kritisch ist, sind ambivalente menschliche Beziehungen. Beziehungen, die einerseits einen intensiven Verbindungscharakter haben und gleichzeitig auch eine mehr oder weniger untergründig erlebte Aggression.

Toxische Beziehungen?

Soldner Rudolf Steiner erwähnt den cholerischen Lehrer. Das Kind bindet sich an den Lehrer und der entwickelt nun unvermittelt einen cholerischen Ausbruch gegen das Kind. Das begünstige später Rheuma, so Steiner. Heute rechnen wir Rheuma auch zu den Erkrankungen, bei denen eine Art selbstzerstörerische entzündliche Aktivität vorliegt. Wir können auf allen Wesensgliederebenen feststellen, dass Menschen gefährdet sind, die eine Überforderung erleben, die im Verhältnis zur eigenen Leiblichkeit in Bedrängnis kommen oder in Schwierigkeit geraten, sich mit dieser Leiblichkeit positiv zu verbinden. Die gesunde Verkörperung gleicht ja einer Art Schwangerschaft und Geburt, durch die wir mit unserem Leib erst zusammenwachsen. Es geht also darum, dass wir im Leben die richtige Geburtshilfe erfahren, um uns mit der eigenen Leiblichkeit zu verbinden.

Girke Ja, das Interessante ist, dass man Autoimmunerkrankungen früher nahezu ausschließlich genetisch verstanden hat und heute erkennt, dass die Seele eine Rolle spielt, dass es eine psychosomatische Beeinflussung des Autoimmungeschehens gibt. Dabei ist interessant, dass die Autoimmunerkrankungen bei näherer Betrachtung eine Polarität in sich tragen. Es gibt welche, die den Leib verfestigen, wie die sogenannte Sklerodermie, eine Krankheit, unter der beispielsweise der Maler Paul Klee litt.

Dem gegenüber stehen die Autoimmunerkrankungen, die mit extremer Fieberentwicklung und Entzündungsprozessen verbunden sind. Das sind die Pole unserer leiblichen Organisation, des Verhärtens und Entflammens. Dabei entsteht die Frage: Wie lernen unsere Immunzellen denn, unseren Leib zu akzeptieren? Da zeigt sich, dass dieser Lernprozess eine Beziehung zum Thymus hat. Die Thymus-Drüse ist an sich die Schule oder Lehranstalt, wo bestimmte Zellen des Immunsystems lernen, zwischen selbst und fremd zu unterscheiden. Der Thymus ist sehr nah beim Herzen gelegen und fordert organisch: ‹Erkenne dich selbst!›. Selbsterkenntnis und Welterkenntnis sind Herausforderungen der Entwicklung des Menschen und finden sich gleichermaßen auch im Organischen, in den Lebensprozessen des Immunsystems. Wenn sich das immunologische Ja zum Leib, also die Selbsttoleranz, nicht genügend entwickeln kann, entwickelt sich Autoimmunität.

Sind Allergien so etwas wie die kleine Schwester der Autoimmunkrankheiten?

Soldner Sie sind zum Teil auch eine Polarität dazu: Wenn die Autoimmunerkrankungen eine fehlgelenkte Aggression des Immunsystems gegen den eigenen Körper beinhalten, dann liegt den klassischen allergischen Erkrankungen zunächst eine Schwäche des Immunsystems zugrunde. Ich vermag mich nicht genügend von der Umwelt abzugrenzen. Die Pflanzen blühen und ich blühe ebenfalls, wenn ich Heuschnupfen habe. Es ist auch interessant, dass der Landwirt und die Gärtnerin von vor 100 Jahren, die mit der Sense die blühenden Wiesen mähten, niemals einen Heuschnupfen hatten. Sie haben sich gewissermaßen schon in ihrer äußeren Tätigkeit gegenüber der Wiese abgegrenzt und sich dabei auch innerlich, immunologisch abgegrenzt. Wenn wir heute schon mit Säuglingen weite Reisen in andere Vegetationszonen unternehmen, dann überfordern wir hier häufig den Organismus. Wenn wir dann noch eine schwache Abgrenzungsfähigkeit haben, kann es in der Folge zu solchen allergischen, überschießenden Reaktionen kommen. Die allergische Reaktion beruht darauf, dass ich die Außenwelt nicht abgrenzen kann von meiner inneren Leiblichkeit. Die Weichen zwischen einer solchen zu toleranten Funktionsweise des Immunsystems und seiner zu aggressiven, autoaggressiven Funktionsweise stellen sich früh im Leben, besonders zu der Zeit, in der das Kind erstmals Zähne bekommt, zwischen etwa dem sechsten Monat und zweieinhalb Jahren. Antibiotika und Fiebersenker in dieser Zeit können diese Entwicklung empfindlich stören.

Dass die Inkarnation zur Frage wird, bedeutet doch wohl, dass wir uns nicht mehr ganz verbinden mit Leib und Erde – eine Freiheit, Verantwortung zu übernehmen?

Girke Autoimmunerkrankungen stehen mit einer veränderten Verbindung des Ich-Wesens mit seinem Leib in Zusammenhang. Der Typ-1-Diabetes der Kinder und Jugendlichen weist auf ein behindertes ‹Ankommen› im Leib. Ohne Insulin, das vor etwa 100 Jahren in die Medizin eingeführt wurde, müssten alle Erkrankten wieder die irdische Leiblichkeit verlassen und sterben. Auf der anderen Seite gibt es auch ein vorzeitiges Lösen. Der Typ-2-Diabetes des meistens erwachsenen Menschen ist ein vorzeitiges Lösen von der Leiblichkeit und braucht deswegen Therapien, welche die Ichorganisation über die Wärme, die Bewegung verstärkt mit dem Leib verbinden können.

Soldner Wenn wir auf die häufigste Autoimmunerkrankung schauen, die Hashimoto-Erkrankung der Schilddrüse, eine Selbstzerstörung der Schilddrüse, die bei Frauen bis zu 15-mal häufiger auftritt als bei Männern, dann zeigt sich hier biografisch oft zweierlei: Häufig gab es in der Kindheit eine Überforderung, wie eine Art seelische Frühgeburt: Kinder müssen früh in eine Verantwortung eintreten, eine Verantwortung, die eigentlich nicht für ein Kind bestimmt ist, sondern eher für einen Erwachsenen. Das kann durch die unterschiedlichsten Umstände geschehen, zum Beispiel durch Flucht und Vertreibung, eine Überforderung oder Erkrankung eines Elternteils, Trennung und anderes mehr. Aber wir sollten auch überlegen, was wir heute von Kindern zum Beispiel schulisch fordern, gerade in diesem so sensiblen Alter zwischen neun und zwölf Jahren, das für die Reifung der Schilddrüse eine zentrale Rolle spielt. Später kommt dann im Erwachsenenleben möglicherweise eine ähnliche Überforderungssituation, jetzt mit umgekehrtem Vorzeichen hinzu, etwa wenn eine Frau als alleinstehende Mutter mit wenig Unterhalt über die Runden kommen muss. Es entsteht eine Stresssituation, in der das geistige Zutrauen – «ich kann diese Situation gut bewältigen» – der seelischen Furcht, dass ich nicht genüge, unterliegt. Der Astralleib übernimmt gegenüber dem Ich die Führung. Dann kann eine autoimmune Entzündung eintreten, die das betreffende Organ im Lauf der Zeit zerstören kann.

Girke Wir müssen diesen Zusammenhang geistig durchdringen und dann präventiv verstehen, wo wir in der Kindheit manche Weichen anders stellen sollten, um einer solchen Entwicklung vorzubeugen. Viele Patienten und Patientinnen, gerade jene mit dieser Schilddrüsenerkrankung Hashimoto, können zwar schulmedizinisch eingestellt werden, aber sie fühlen sich trotz optimaler Laborwerte nicht gut. Das ist das Interessante, dass man durch eine hormonelle Substitution eine Stoffwechselkontrolle erreicht, aber nicht im eigentlichen Sinne heilen kann. Da beginnt dann die Anthroposophische Medizin auch in der Schilddrüsenheilkunde, indem man die Beziehung der Menschen zu ihrer eigenen Leiblichkeit unterstützt, also den Leib wiederum ‹vertraut› macht, wie der Titel unserer Jahreskonferenz lautet.

An den Grenzen des Lebens zeigt sich das Leben oft besonders deutlich. So auch bei Verstorbenen: Wenn die Seele sich löst, zeigt der Leichnam eine königliche Größe. Gehört das zum Rätsel des Leibes?

Girke Beim Begleiten sterbender Menschen kann man bemerken: Der Leib offenbart das Ich durch seine Gestalt. Gerade in der frühen Nachtodlichkeit gibt es beim Betrachten des verlassenen Leibes oft den Eindruck: «Ach, der bist du gewesen!» Alles, was sonst im Leben sich zeigte, ist gegenüber dieser Erfahrung wie eine verhüllte Botschaft. Man ist erstaunt, was sich da an dem verlassenen Leib zeigt. Es ist ein ähnliches Erlebnis, wie wir es von Trauerfeiern kennen, wenn wir ganz neue Aspekte aus dem Leben des Verstorbenen erfahren, die wir vorher gar nicht kannten. So gibt es auch eine Leibesbotschaft, die man in diesem Moment erfahren kann, bevor diese Leibesform dann zerfällt. Rudolf Steiner wies in den Vorträgen nach der Weihnachtstagung 1923/24 auf dieses Geheimnis der menschlichen Form hin, die unseren Leib prägt und ihn mit dem Tode verlässt. Die formgebende Ich-Organisation löst sich aus ihrer Verleiblichung bzw. Verkörperung.

Soldner Ja, ich schaue jetzt auch noch mal von der anderen Seite: Auch wenn wir sagen können, dass die Leiblichkeit des Neugeborenen stark von den Eltern bestimmt ist, ist trotzdem im Moment um die Geburt herum, insbesondere bei einer natürlichen Geburt, diese Ichpräsenz erlebbar. Das zeigt sich stark auch um die Leiblichkeit herum, aber durchaus in Bezug zu ihr. Es ist schon neun Monate an dieser Leiblichkeit gearbeitet worden und ich kann Neugeborene so unterscheiden, wie man 80-Jährige unterscheiden kann. Dann lässt sich beobachten, wie sich diese Leiblichkeit zunächst geradezu verpuppt und was alles sich verändert, bis ein etwa 20-jähriger Mensch vor einem steht. Man erlebt, welche Transformations- und Formprozesse sich dabei ereignen und wie die Menschen dabei auch ihre Gestalt wandeln, gerade in der Zeit der Pubertät. Die Gegenwart des Ich im Leib ist eindrucksvoll zu sehen!

Gibt es eine Frage, die euch an der Jahreskonferenz besonders interessiert?

Soldner Es gibt von Rudolf Steiner einen Vortrag über den unsichtbaren Menschen. Wie dieser uns prägt, jede Nacht sich geltend macht und so viel mit Heilung zu tun hat. Sich darüber an der Konferenz auszutauschen, interessiert mich sehr.

Girke Ich freue mich darauf, an der Konferenz und den vielen Fachkonferenzen ein vertieftes Verständnis der Autoimmunerkrankungen zu erarbeiten. Es ist mit Entwicklungsfragen des Menschen verbunden. Wie entsteht ein neues Vertrauen zum Leib? Entwicklungsfragen stellen sich auch für uns als Therapeuten und Therapeutinnen. Dieser spirituellen Vertiefung, durch die Arbeit an den Stunden der Ersten Klasse der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft, den Evangelien, der Grundsteinmeditation, widmet sich der mittlere Teil unserer Jahreskonferenz. So kann sich die innere Entwicklung der Therapeuten und Therapeutinnen mit ihrer praktischen Tätigkeit verbinden und diejenigen Kräfte verstärken, die therapeutisch wirken.


Illustrationen Gilda Bartel

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