Freiheit braucht den Dialog

Die Wochenschrift ‹Das Goetheanum› im Podcast: In ‹Anthroposophie zur Sache› führt Wolfgang Held Interviews zu aktuellen Themen. Im ersten Gespräch war Georg Soldner, Co-Leiter der Medizinischen Sektion am Goetheanum und Kinderarzt zu Gast. Ein Dialog über Zwang und Freiheit in der Impfentscheidung.


Georg Soldner Wenn wir in die deutschsprachigen Länder schauen, stehen wir de facto vor der Einführung einer Impfpflicht. Gestern hatte ich mit einem 23-jährigen Patienten von mir zu tun, der an einer chronischen Nierenentzündung leidet und bei dem ich eine Covid-Impfung nicht risikofrei sehe. Er ist Student und als Ungeimpfter muss er seit 11. Oktober die verpflichtenden Tests für die Uni selbst zahlen. In seinem Landkreis gibt es aber seit Mitte Oktober kein einziges Testzentrum und keine Apotheke mehr, die testet. Das heißt, der Staat sagt zwar, er zwinge niemanden zu einer Impfung; er stellt aber nicht mal die Infrastruktur für diejenigen bereit, die sich nicht impfen lassen wollen oder momentan nicht impfen lassen sollten. Die freie Impfentscheidung ist für viele Menschen damit nicht mehr gegeben.

Wolfgang Held Der Medizinethiker Giovanni Maio hat dazu in der ‹Badischen Zeitung› deutlich Stellung bezogen und erklärt, dass es ethisch nicht vertretbar sei, Ungeimpfte so einzuschränken. Wie siehst du das?

Soldner Das sehe ich genauso. Man muss sich fragen, was eine Impfung wert ist, bei der die Geimpften Angst haben sollen vor den Ungeimpften. Herr Drosten sagt selbst, dass er nach seinen zwei Schutzimpfungen noch gern angesteckt werden möchte. Völlig zu Recht! Jede Impfimmunität schwindet im Vergleich zur natürlichen Immunität schneller und kann vor allem länger aufrechterhalten werden, wenn man in den Kontakt mit Virusträgern kommt. Dafür eignen sich Geimpfte wie Ungeimpfte. Jemand, der zweimal geimpft ist, kann gegenüber einem Ungeimpften einen Vorteil haben, wenn er sich ansteckt. Denn durch die Impfung ist das Immunsystem vorgewarnt, wird mit der Krankheit vielleicht schnell fertig und hat sich dann gestärkt. Und da das Virus sowieso weiterzirkulieren wird, weil jeder es weitergeben kann, ist die Angst der zweimal Geimpften vor den Ungeimpften in der Regel völlig unbegründet. Für einen Menschen im fortgeschrittenen Alter mit einem schwächeren Immunsystem bietet die Impfung sowieso keinen 100-prozentigen Schutz – das war immer klar. Mittlerweile wissen wir außerdem, dass die Covid-Impfstoffe relativ schnell an Schutzwirkung verlieren.

Held Wieso fällt es uns so schwer, damit umzugehen, dass wir nicht genau wissen, wie lang die Pandemie oder der Impfschutz anhalten?

Soldner Die grundsätzliche Politik ist darauf ausgerichtet, allen Ungeimpften Angst zu machen und sie zum Impfen zu bewegen. Da mischt sich die berechtigte Aufklärung über das Risiko, insbesondere für die gefährdeten Gruppen, mit unberechtigter Panikmache. Zum Beispiel haben jüngst Politiker vor massenhaften Fällen von Long Covid bei Kindern gewarnt, obwohl eine britische Studie gerade wieder belegt hat, dass es unter zwölf Jahren überhaupt kein Risiko für Long Covid gibt. Dabei werden falsche Informationen an die Öffentlichkeit gebracht, um die Eltern schon darauf vorzubereiten, auch noch ihre Kinder impfen zu lassen, sobald es den zugelassenen Impfstoff gibt. Wir beobachten also, dass mit Furchtappellen gearbeitet wird in dieser Pandemie. Das geht jetzt so weit, dass Youtube alle Videos löschen wird, die nur erwähnen, dass Impfungen chronische, schädliche Wirkungen haben können. Das finde ich als Kinderarzt erstaunlich, da in jeder Fachinformation über Impfungen für Kinder und Erwachsene eine Reihe von schädlichen, auch chronischen Nebenwirkungen als Risiken erwähnt werden. Und sie treten auch auf – aber natürlich selten. Das zeigt, dass wir es auf diesem Gebiet sehr schwer haben, der Wahrheit ins Gesicht zu schauen. Dabei kann es in der Medizin keine einfache Wahrheit geben. Aber eine risikolose Impfung gibt es schlicht nicht.

Held Zu Corona gehört, dass alles Widersprüchliche im Sozialen aufbricht. Hierbei wird die Fähigkeit zur eigenen Urteilsbildung aller Menschen nicht ernst genommen. Die Faktenlage wird vereinseitigt.

Soldner Das stimmt. Es gibt natürlich auch unzählige Videos, die die absurdesten Behauptungen verbreiten. Zum Beispiel, dass in den Impfstoffen 99 Prozent Graphenoxid enthalten sei. So findet man auch eine Fülle von falschen Behauptungen – auch innerhalb der anthroposophischen Bewegung. Solche Behauptungen lassen auch nicht frei zur Urteilsbildung, sondern übermitteln eine klare Position, die vorher feststeht und für die dann Argumente gesucht werden. Es handelt sich hier um eine wechselseitige Problematik, furchtmachende Urteile zu verkünden und die individuelle Urteilsbildung zu behindern. Ich vermisse, dass wir einander freilassen können und so sprechen, dass wir nicht in die Freiheit des anderen eingreifen, sondern ihn zum Dialog einladen.

Es handelt sich hier um eine wechselseitige Problematik, furchtmachende Urteile zu verkünden und die individuelle Urteilsbildung zu behindern. Ich vermisse, dass wir einander freilassen und so sprechen, dass wir zum Dialog einladen.

Held Was sind Instrumente, damit die Urteilsbildung oder Gespräche gelingen?

Soldner Eine Möglichkeit wären Bürgerforen, für die sich auch unser Goetheanum-Leitungsmitglied Gerald Häfner sehr einsetzt. Zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger führen einen Disput. Die Begegnung von Mensch zu Mensch – nicht über elektronische Medien, sondern Auge in Auge – macht konfliktgeladenes Gespräch viel leichter. Idealerweise moderiert diesen Dialog zusätzlich eine professionelle Person. Wir brauchen diese Diversität
im Miteinander.

Es ist entscheidend, dass wir diesen Dialog führen und die Menschen frei sind in ihrer Urteilsbildung über die Impfung. Und ich möchte hervorheben, dass jede Impfung eine sehr sorgfältige, individuelle Impfbegleitung haben sollte. Dass der Impfbus vorfährt und irgendjemandem etwas in den Oberarm spritzt, halte ich für unverantwortlich. Bei vielen Menschen, auch solchen, die nicht die besten Voraussetzungen haben, geht die Impfung gut. Aber es gibt auch die anderen, für die es nicht infrage kommt wegen der Impfrisiken. Aus vergangenen Impfschaden-Prozessen wissen wir: Es drohen am ehesten Impfkomplikationen, wenn die geimpfte Person selber die Impfung nicht will oder wenn die Impffähigkeit vorher nicht sauber untersucht wurde. Das zeigt mir, wie gefährlich es ist, den freien Impfentscheid staatlich auszuhebeln.

Held Die freie Entscheidung, die Souveränität des Willens, ist hier bis in die leiblichen Konsequenzen zu fassen.

Soldner Ich habe sicher weit über 1000 Kinder gegen Masern geimpft und nie ist etwas passiert. Aber so etwas extrem Seltenes kann gerade dann auftreten, wenn es in der Situation von Mensch zu Mensch gar nicht stimmt. Das können wir aus der Anthroposophie wirklich beitragen. Der andere ist oft auch ein Andersdenkender, innerhalb und außerhalb der anthroposophischen Bewegung, und der Respekt vor der Würde des anderen ist gerade deshalb so wichtig. Er ist auch für unsere leibliche Gesundheit wesentlich.


Hören Sie finden das vollständige Gespräch als Podcast zum Hören auf unserer Website und auf Spotify, Apple Podcast und vielen anderen Plattformen.

Bild: Georg Soldner

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