Die Pflanze will nur Pflanze sein

Heilpflanzenbetrachtung und ihre Wirkung auf das Menschlich-Soziale.


Im Juli 2024 fand eine Seminarwoche zur goetheanistischen Pflanzenbetrachtung in den Karawanken in Slowenien statt. Es nahmen diverse Personen aus dem anthroposophischen Umfeld teil: Biologinnen, Pharmazeuten, Ärztinnen, Homöopathen, Heilpraktikerinnen und grundsätzlich Interessierte. Vorbereitet und durchgeführt wurde die Woche von Vesna Forštnerič Lesjak (Co-Leiterin der Naturwissenschaftlichen Sektion am Goetheanum, Pharmazeutin, Goetheanistin) und Jan Albert Rispens (Biologe, Goetheanist). Ich als berufsfremde Teilnehmerin habe erlebt, dass sich meine Fähigkeiten durch diese Methodik erweiterten, und ich möchte andere Kolleginnen und Kollegen ermutigen, sich diesen spannenden Vorgängen der Naturbeobachtung zuzuwenden. Denn was gibt es Objektiveres als eine Pflanze!

Von welchen Fähigkeiten spreche ich hier? Die Pflanze will nichts und definiert keinen Zweck aus sich heraus, sondern sie ist und wächst! Dafür benötigt sie Bedingungen, also ein Milieu, eine Gemeinschaft, eine Umgebung. Diese betrachteten wir mit dem ‹peripherischen Blick›, dem Blick ins Umfeld: Welche Pflanzen sind da noch? Wie ist der Boden, wie das Licht? Welche Temperatur, welche Elemente, welche Gesten sind vorhanden? Das waren für mich aufregende Fragen, vor allem wenn ich versuche, sie in soziale Zusammenhänge zu übertragen: die Biografie des Ortes oder der Genius Loci und darin das Ich! Das Besondere an der Pflanzenwelt ist, dass sie nachvollziehbar für alle ist, also gewissermaßen faktisch, objektiv. Wir waren meist sehr eindeutig in unseren Beschreibungen. Wir hielten uns zurück mit Einschätzungen und Interpretationen, die mit Sympathie und Antipathie zusammenhängen. Gleichzeitig vertieften wir uns in die Vielfalt, die eine Pflanze bei immer genauerem Hinsehen entfaltet.

Pendelbewegung

Zu Beginn ein ausgiebiges, neugieriges Schauen, Betrachten mit den Augen. Dann eine Annäherung über das nähere Schauen, dann begreifen mit den Händen, tasten und spüren mit der Haut. Und meist nahmen wir noch gern etwas in den Mund, tasteten mit der Zunge und den Geschmacksnerven. Bei großer Achtsamkeit erlebten wir in allen Prozessen eine Wirkung in uns selbst. Dann gruben wir die Pflanzen aus, forschten zuerst mit den Augen, wie das Wurzelwerk aussieht. Wohin bewegt es sich, eher tief, eher flach? Gibt es ein Rhizom und wo sind die Ansätze für die neuen Pflanzen? Alles rein beobachtend und nicht bewertend und festlegend – immer in einer fragenden Haltung. Je weiter wir forschten, desto differenzierter wurde die Erkenntnis über die Pflanze, nicht über mich. Also aus dem ‹Du› der Pflanze forschen und sprechen, nicht aus mir! Das ist ein Perspektivenwechsel, in dem wir am Lebendigen sehen, tasten, fühlen und denken! Folgen wir der Viergliedrigkeit der Menschenkunde von Rudolf Steiner, haben wir auf der einen Seite das Gewordene, das Lebendige, das Seelische und die Ich-Kraft als Höhepunkt der eher von innen gestalteten Prägung oder Geste. Auf der gegenüberliegenden Seite finden wir die Gestaltungen aus der Peripherie, von außen, das Gewordene durch die Biografie der Region, die Jahreszeitenentwicklung, den Rhythmus der Pflanze, alle lokalen Standortbedingungen. Das führt uns ebenso wieder zur zentralen Ich-Kraft. Wir können es uns als eine Pendelbewegung in einer liegenden Acht vorstellen. Ist das in der menschlichen Begegnung als Bewegung genauso aktivierbar? Schaffen wir es, in der Begegnung mit Menschen, insbesondere in meinem Berufsfeld mit Menschen mit Assistenzbedarf, ihren Eltern und unseren Mitarbeitenden, die objektive Wahrnehmung sorgfältig von meiner Person und meinem Willen zu trennen und mit meinen geschulten Fähigkeiten bewusst zusammenzuführen? Denn auch der Mensch will nichts, außer Mensch sein!

Vesna Forštnerič Lesjak und Jan Albert Rispens sprachen im Bezug auf die Entwicklung von Heilmitteln davon, dass der goetheanistische Prozess von der Naturbetrachtung, zur Pflanzenverarbeitung zur Heilpflanzenanwendung die drei Schritte der Imagination, Inspiration und Intuition beinhaltet. Mit dem Wissen um diese Entwicklung konnten wir uns der Familie der Primelgewächse Tag für Tag vertiefend zuwenden – im Studienzimmer und im Gebirge beim Wandern – und zwei Heilmittel im improvisierten Labor herstellen.


Veranstaltung
Vom 10. bis 13. Oktober 2024 veranstaltet die Naturwissenschaftliche Sektion am Goetheanum die Tagung ‹Evolving Science 2024: Diversität stärkt Identität›. Die sozialen Aspekte werden hier ebenfalls eine Rolle spielen.

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Bild Auf der Seminarwoche im Juli, Foto: Sonja Zausch

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