Die Grenzen des Gefühls

Bestürzung und Solidarität erlebe ich in diesen Tagen überall. Menschen mit Bezügen zur Ukraine mobilisieren andere Menschen, die bis dahin keinen Bezug hatten. Menschen werden abgeholt, Züge fahren kostenlos, Aufnahmeverfahren werden vereinfacht. Viele fragen sich, wie wir helfen können. Ich frage mich, wem wir bereit sind, zu helfen.


Ist es nicht dasselbe ‹Europa›, das versucht, Geflüchtete an allen seinen Grenzen aufzuhalten, an dessen polnischer Grenze im letzten Winter Menschen vor unseren medialen Augen erfroren sind und das mit aller Macht das Mittelmeer und Libyen zur letzten Station auf einer verzweifelten Suche nach Schutz und Menschenwürde macht. Die schnelle Hilfe, das Mitgefühl und die Bereitschaft zur Unterstützung von Menschen aus der Ukraine ist großartig. Mehr noch: Es wäre bedingungslos und selbstverständlich, wenn unser Gefühl so weit reichen würde. Der erste journalistische Aufsatz, den ich vor 17 Jahren schreiben sollte, war zur Frage: ‹Wo liegen die Grenzen Europas?› Damals ging es um die EU-Beitrittsfrage der Türkei. Und damals wie später erschien es so, dass das europäische Gefühl sich nicht weiten ließe. Islam, Minarette, Kopftücher – alles keine europäischen Werte. Nach dem Modell der westlichen Nationenbildung in den Jahrhunderten zuvor soll Europa heute eine gemeinsame Idee sein, mit einer neu erzählten europäischen Geschichte und europäischen Werten. Das verlangt eine Identifikation mit dem, was ähnlich und darum sicher erscheint. Identität muss wie ein Glauben getragen werden, damit man auf sie bauen kann wie auf etwas Statisches. Das Europäische Identitätsprojekt als Verwaltungs- oder Binnenmarktprojekt baut auf Abgrenzung, Aussonderung und der Fixierung stilisierter Werte der Vergangenheit. Als Friedensprojekt müsste es beständig an der Überwindung seiner eigenen Grenzen arbeiten, an seiner Überflüssigkeit, müsste es die Sehnsucht nach Kontinuitätserzählungen hinter sich lassen und vor allen anderen in die eigenen Abgründe blicken. Wir müssten das Fremde wollen. Der Ukraine-Krieg betrifft uns, weil wir bereits etwas mehr Gemeinsamkeit fühlen mit der Ukraine, aber auch, weil wir uns seit Langem wieder selbst bedroht fühlen. Mitten in der Identifikation mit diesem Krieg und der Ausblendung anderer Kriege steht unser Selbstbezug. Vielleicht hilft uns das, neues Mitgefühl mit allen anderen, Vertrauten wie Unvertrauten, zu erfahren. Vielleicht führt es aber auch nur zu einer verdrehten Form europäischen Patriotismus und der Selbstbehauptung, die als Grundlage für Frieden nicht taugen werden.


Illustration Adrien Jutard

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