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Die Anthroposophie und ihre Kritiker: Dialogbereitschaft als Bewusstseinsaufgabe

Jost Schieren ist Professor für Schulpädagogik mit dem Schwerpunkt Waldorfpädagogik und Dekan des Fachbereiches Bildungswissenschaft an der Alanus-Hochschule in Alfter. Er ist seit 20 Jahren leitender Redakteur der Mitgliederzeitschrift ‹Anthroposophie›. Seine Teilnahme am Beirat der neuen Zeitschrift ‹Steiner Studies› hat verschiedene Kritik ausgelöst. Im Interview mit Thomas Stöckli entwickelt Jost Schieren Perspektiven, wie sich für die Entwicklung der Anthroposophie meditative Vertiefung und akademische Forschung ergänzen können.


Jost Schieren, Sie sind Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der neuen Zeitschrift ‹Steiner Studies›, die von Christian Clement und Hartmut Traub redaktionell verantwortet wird. Worum geht es in dieser neuen Zeitschrift?

Es geht in diesem Zeitschriftenprojekt um eine wissenschaftlich-kritische Auseinandersetzung mit dem Werk Rudolf Steiners. Der Begriff ‹kritisch› ist hier als Terminus technicus nicht so zu verstehen, dass Steiner vornehmlich kritisiert werden soll, sondern es geht um die Methode einer kritischen Auseinandersetzung, wie sie zum Beispiel Immanuel Kant auch in der ‹Kritik der reinen Vernunft› vorgelegt hat. Es ist mit ‹kritisch› also nicht die Vorwegnahme einer negativen Sicht auf Steiner gemeint. Im wissenschaftlichen Kontext meint ‹kritisch› so viel wie das Gegenteil von ‹naiv›. Man nimmt nichts für selbstverständlich, sondern hinterfragt alles, was vorliegt, durchaus zum Zweck des besseren Verstehens, wobei natürlich offen ist, ob dies gelingt.

Und wie ist das alles entstanden?

Ich bin der freundlichen Aufforderung Christian Clements gefolgt, dem Beirat beizutreten, weil ich es einerseits wichtig finde, dass bei einem solchen Projekt auch Vertreter der Anthroposophie beteiligt sind. Es kommt damit eine inneranthroposophische Perspektive in diesen Beirat hinein. Im Blick auf das Projekt selbst habe ich andererseits die Hoffnung, dass vielleicht auch Menschen mit einer eher akademisch-wissenschaftlichen Prägung eine gewisse Offenheit und ein Interesse am Werk Rudolf Steiners entwickeln können. Steiner gilt im wissenschaftlichen Kontext bisher als Esoteriker und Mystiker und wird allein aus diesem Grund nicht ernst genommen. Das hat gravierende Folgen für die Akzeptanz der Waldorfpädagogik und der anthroposophischen Medizin und anderer Lebensfelder. Und zudem verhindert es, dass junge Menschen an den Universitäten der Anthroposophie unbefangen begegnen können. Das bedauere ich sehr und erfahre es auch in meinem eigenen akademischen Lebensfeld und es spiegelt sich ja auch im öffentlichen Presseecho. Es besteht die feste Überzeugung, Anthroposophie sei ‹unwissenschaftlich›. Ein Schritt, um dem entgegenzuwirken, besteht darin, die Anthroposophie mit den Methoden der gegenwärtigen Wissenschaft zu behandeln. Dies hat Christian Clement in seiner Steiner-Ausgabe getan und ich denke, dass dies in akademischer Perspektive in der Öffentlichkeit einen gewissen Erfolg hat und auch gewürdigt wird.

Und doch kann man fragen: Wird da die Anthroposophie nicht einseitig und oberflächlich dargestellt?

Das würde ich nicht vorwegnehmen wollen. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung hat ein hohes Bewusstseinsniveau. Rudolf Steiner selbst hat sich daran immer messen lassen und hat sich den Herausforderungen der Wissenschaft seiner Zeit gestellt. Das ist aber nur die eine Seite. Eine Vertiefung und Pflege der Anthroposophie macht darüber hinaus andere Arbeitsweisen und -formen nötig, die auch einen meditativen Schulungsweg einschließen. Das gehört sicherlich auch dazu und darf nicht unterschlagen werden. Vermutlich zeigen sich die Schätze des Werkes Rudolf Steiners erst einem solchen Zugang. Dennoch, ich bin der Überzeugung, dass diese beiden Wege sich erstens nicht ausschließen sollten und zweitens im besten Sinne einander ergänzen können. Steiner selbst beansprucht für sich, eine Geisteswissenschaft und keinen neuen Glauben begründet zu haben. Dieses Wissenschaftsverständnis Steiners mit dem Wissenschaftsverständnis der Gegenwart in einen Austausch zu bringen, das verbinde ich mit meiner Mitwirkung in dem Beirat.

Nun werden Sie dafür kritisiert, dass auch Helmut Zander, einer der bekanntesten Kritiker der Anthroposophie, ebenfalls ein Mitglied des Beirates ist. Wie sehen Sie seine Rolle, ist das nicht kontraproduktiv, mit einem solchen Steiner-Kritiker zusammenzuarbeiten?

Ja, es wird bemängelt und zum Teil auch hart verurteilt, dass auch Helmut Zander ein Beiratsmitglied ist, und es wird vermutet, dass ich hier mit einem ausgesprochenen Steiner-Gegner zusammenarbeite und in eine ‹Gesinnungsgenossenschaft› trete. Das ist allerdings ein Missverständnis bezüglich der Funktion eines Beirates einer wissenschaftlichen Zeitschrift. Wissenschaft bedeutet immer ‹Diskurs› und meint damit eine produktive Streitkultur. Gerade dies sehe ich als Wert dieses Beirates an, dass zum Teil divergierende Meinungen und Auffassungen aufeinandertreffen und in eine Diskussion treten. Es wäre ein Segen für das Werk Rudolf Steiners, wenn auch öffentlich darum gestritten würde. Zurzeit ist es öffentlich mit dem Bannfluch der Esoterik belegt und viele gutmeinende Zeitgenossen sind auch wegen der inneranthroposophischen Verehrungshaltung und auch wegen der Dialogunfähigkeit mancher anthroposophischer Vertreter davon abgehalten, sich mit Steiner zu beschäftigen. Ein solches Zeitschriftenprojekt leistet gegebenenfalls nicht mehr und nicht weniger, als dass eine Art offener Austausch – das ist mir wichtig – auf Augenhöhe mit Bezug auf das Werk Rudolf Steiners entsteht.

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Das Bewusstseinsseelenzeitalter mit dem Heraufkommen des Individualitätsprinzips fordert auch die Fähigkeit, Mehrdeutigkeit zuzulassen.

Nun wird ja auch unter den ‹Anthroposophen› darüber heftig diskutiert, es gibt zum Teil scharfe Kritik auch Ihnen gegenüber. Wie stehen Sie dazu?

Ich war persönlich sehr erstaunt über die heftigen Reaktionen, die erfolgt sind. Denn die Zeitschrift ist ja bisher erst angekündigt worden und wird schon mit allerlei Vermutungen und Negativerwartungen öffentlich belegt. Bisher ist ja nicht ein Artikel darin erschienen, auf den man sich konkret beziehen könnte. Das ist schon eine recht naive und vorschnelle Form der Vorverurteilung. Und der nächste Schritt sind Forderungen, dass ich als Redakteur der Zeitschrift ‹Anthroposophie› entlassen werden solle. Die Menschen, die so auftreten, haben offenbar nicht das Anliegen eines Erkenntnisdialogs beziehungsweise eines Sachaustausches, sondern sie wollen direkt gegen alle Kritiker und mich, weil ich im Beirat bin, vorgehen. Mit einer solchen Haltung wird die Anthroposophie aus meiner Sicht sowohl nach innen wie auch nach außen geschädigt. Nach innen, weil die besondere Qualität eines Ringens um Erkenntnis verweigert wird. Und nach außen, weil man durch den Unwillen und die Unfähigkeit zum Diskurs und zum Dialog die Anthroposophie sektiererisch abkapselt.

Helmut Zander gegenüber bestehen Vorbehalte, dass er zum Teil mit oberflächlichen Aussagen, ungenauen Recherchen oder gar Unterstellungen arbeitet, einige sprechen von Verleumdungen gegenüber der Person Steiners. Wie schätzen Sie dies ein?

Ich unterscheide zwischen Anthroposophie- beziehungsweise Waldorfkritikern und Anthroposophie- beziehungsweise Waldorfhassern. Mit Letzteren, die vornehmlich im Internet agieren, sind ein Dialog und eine Auseinandersetzung nicht sinnvoll. Da würde jede Antwort nur eine größere Aufmerksamkeitsbindung generieren. Was die Kritik und auch die zum Teil scharfe Kritik (beispielsweise von Helmut Zander) angeht, da sehe ich es anders. Die sollten wir ernst nehmen. Manche Kritik, die auf die Anthroposophie meines Erachtens nicht zutrifft, gilt nämlich zuweilen für Teile der Anthroposophen und ihre Geschichte sehr wohl. Da ist eher eine ungeschminkte Selbstkritik angesagt und wir sollten den uns vorgehaltenen Spiegel, auch wenn es schmerzt, wertschätzen. Ansonsten würde ich hier zu mehr Gelassenheit raten. Dort, wo beispielsweise bei Helmut Zander nachweisbar falsche Aussagen im Raum sind, ist es wichtig, dem klar und nüchtern entgegenzutreten. Das ist die Pflicht einer gründlichen wissenschaftlichen Arbeit. Aber jede Form der Dämonisierung und der tendenziell martialischen Sprachwahl in der Auseinandersetzung halte ich für überzogen und unnötig. Damit werden Feindbilder installiert, die mehr über die übereifrigen Michaelskämpfer aussagen als über den vermeintlichen Gegner.

Wo sehen Sie heute die Chance für die Entwicklung der Anthroposophie in unserer modernen Welt? Kann eine solche Dialogbereitschaft nicht nur die Akzeptanz der Anthroposophie in der Öffentlichkeit und dem akademischen Umfeld erhöhen, sondern auch die Anthroposophie selbst vertiefen?

Wir leben glücklicherweise in einer offenen Gesellschaft. Die Merkmale dieser Gesellschaft sind die Meinungsvielfalt und die Würdigung individueller Autonomie. Es gibt nicht die eine Wahrheit, die durch einzelne Personen vertreten wird. Das war in vormodernen Zeiten, als die Kirche noch ein hegemonial vertretenes Wahrheitsmonopol verwaltete, anders. Heute gibt es die Vielzahl der sich widerstreitenden Auffassungen. Eine Herausforderung des Bewusstseinsseelenzeitalters ist mit dem Heraufkommen des Individualitätsprinzips auch die Ausbildung einer gewissen Ambiguitätstoleranz. Es geht darum, andersartige Ansätze und Perspektiven als Erkenntnisanlässe zu sehen. Insofern sehe ich Dialogbereitschaft als eine große Bewusstseinsaufgabe unserer Zeit. Ich bin davon überzeugt, dass die Wahrnehmung der Anthroposophie und ihrer Lebensfelder in der Gesellschaft eine weitaus positivere und wirksamere wäre, wenn es uns gelänge, eine solche offene Haltung zu vertreten. Davon können aber auch die inneren Lebensformen der Anthroposophie und ihrer Gesellschaft profitieren. Die Botschaft der Bergpredigt: «Liebe deine Feinde», lese ich epistemologisch als Erkenntnisinteresse auch gegenüber divergierenden Auffassungen. Das hat auch eine tiefe spirituelle Dimension.


Zeichnung Jost Schieren von Sofia Lismont

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