Der Ichsinn und sein körperliches Sinnesorgan

Zur Nähe von anthroposophischer Sinneslehre und neuerer Neuropsychologie.


In seiner historisch neu entworfenen Sinneslehre gelangt Rudolf Steiner in ‹Anthroposophie. Ein Fragment› 1910 erst zu Andeutungen über den Ichsinn als den höchsten und am stärksten ins Übersinnliche weisenden Sinn. Erst 1916 in den Vorträgen über ‹Kosmische und menschliche Geschichte› und dann wieder 1919 in der ‹Allgemeinen Menschenkunde› führt er Näheres über diesen rätselhaften Sinn und nur Skizzenhaftes über das zu seiner Tätigkeit gehörende leibliche Sinnesorgan aus: «So wie das Sehen nicht auf einem Schluss beruht, […] so beruht das Wahrnehmen des Ich des anderen nicht auf einem Schluss, sondern ist eine unmittelbar wirkliche, selbständige Wahrheit […] Nun entsteht die Frage: Was ist das Organ für die Wahrnehmung des anderen Ich? Was nimmt in uns das andere Ich wahr […]? Was nimmt das Ich des andern wahr? Die Ichwahrnehmung hat ebenso nun ihr Organ, wie die Sehwahrnehmung oder die Tonwahrnehmung. Nur ist das Organ der Ichwahrnehmung gewissermaßen so gestaltet, dass sein Ausgangspunkt im Haupte liegt, aber das ganze Gebiet des übrigen Leibes, insoferne es vom Haupte abhängig ist, Organ bildet für die Ichwahrnehmung des andern. […] Der Mensch, insofern er ruhig ist, insofern er die ruhige Menschengestalt ist gewissermaßen mit dem Kopf als Mittelpunkt, ist Wahrnehmungsorgan für das Ich des andern Menschen.» (Vortrag vom 2.9.1916, GA 170)

In Aggression und Erlahmen, in Antipathie und Sympathie, im Hineinschlafen in den anderen Menschen und im Erwachen an ihm ist das Ich-Sinnesorgan erlebbar: «Dieses Organ des Ichsinnes ist also so organisiert, dass es nicht in seinem wachenden, sondern in einem schlafenden Willen das Ich des anderen erkundet und dann rasch diese Erkundung, die schlafend vollzogen wird, in die Erkenntnis hinüberleitet, das heißt, in das Nervensystem hinüberleitet. So ist, wenn man die Sache richtig betrachtet, die Hauptsache beim Wahrnehmen des anderen doch der Wille, aber eben gerade der Wille, wie er sich nicht wachend, sondern schlafend entwickelt […].» (Vortrag vom 29.8.1919, GA 293)

Das sich wiederholt inkarnierende Geistwesen Mensch

Malerische Studie von Christiane Haid zur Frage der Sinne und des Ich, 2021.

In den Formen von Kopf und Rumpf der aufrechten Menschengestalt wird das Prinzip des sich wiederholt inkarnierenden Geistwesens Mensch erkennbar: Im Kopf-Rumpf-Übergang begegnen sich frühere Inkarnation und künftige Inkarnation. Also nur als Kopf- und Rumpfträger kann der Mensch sinnvoll ein Ichträger sein. Er zeigt da dem anderen Menschen sein Ichsein leiblich als Inkarnationsgrenzen übergreifend. Mit dem Organ des Ichsinnes sind wir in der Lage, das Dasein und die Qualität eines fremden – nicht unseres eigenen – Ich wahrzunehmen. Vermittler für das Verständnis dieser Sinnestätigkeit kann dabei das Tonerlebnis in dem Kontrast von Sprachton und unbelebtem Ton sein. Betrachtet man Rudolf Steiners Andeutungen zum Ichsinn im Fragment vor dem Hintergrund der 1992 erstmals beschriebenen Spiegelneuronen und hält sie zusammen mit den späteren Angaben Steiners zum Ich-Sinnesorgan, welches um die Kehlkopfregion herum in der Kopf-Rumpf-Konfiguration seinen Schwerpunkt hat, nimmt man schließlich die Erkenntnisse der Theory-of-Mind- und der Autismusforschung hinzu, so ergeben sich überraschende neue Einsichten und Übungsmöglichkeiten für eine vollständige anthroposophische Sinneslehre.

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