Den Kontinent erkunden

Martina Maria Sam im Gespräch

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Martina Maria Sam hat sieben Bücher über Rudolf Steiner und seine Kunst und Sprache geschrieben. Ein Gespräch über ihre Forschung. Die Fragen stellte Wolfgang Held.


Mit welchem Buch bist du Rudolf Steiner am nächsten gekommen?

Martina Maria Sam Jedes meiner Bücher ist gewissermaßen eine andere ‹Erkundung› des Kontinents Rudolf Steiner. Immer eröffnen sich neue und interessante Aspekte. Aber am tiefgehendsten waren meine Erfahrungen bei drei Projekten: Zum einen bei der über viele Jahre dauernden Aufarbeitung seiner Bibliothek, bei diesem Blick in seine ‹Werkstatt›, in seinen Umgang mit Büchern von der Schulzeit bis kurz vor seinem Tod. Zum anderen beim Kommentieren seiner Briefe, durch das man ihm in seinen konkreten persönlichen Zusammenhängen, seinen Freuden und Leiden so nahekommt. Und schließlich beim Schreiben der Biografie seiner frühen Jahre. Durch das Eintauchen in die Details, die Lebensumstände, in sein Schaffen, in die Biografien seiner Freunde und Bekannten, bekommt dieses Leben eine plastische Dimension. Es werden Zusammenhänge sichtbar und es eröffnen sich immer andere Ebenen, es zeigen sich Lebenssignaturen, die mir vorher nicht bewusst waren.

Welche Menschen haben dich in deiner Forschung zu Rudolf Steiner besonders inspiriert?

Ich habe noch verschiedene Persönlichkeiten kennengelernt, die Rudolf Steiner begegnet waren: Else Klink, Edwin Froböse, Elena Zuccoli, Wolfgang Greiner, Maria Jenny. Wie sie über ihn sprachen, was sie an ihm erlebt haben, jede und jeder so anders – das war inspirierend für mich. Dann aber vor allem die ganz frühen Biografen Rudolf Steiners, die mit einem unglaublichen Eifer versucht haben, noch greifbare Lebensspuren aufzufinden und für die Nachwelt zu retten. Da möchte ich vor allem Emil Bock, aber auch Carlo Septimus Picht und Werner Teichert nennen. Für meine Forschungen zu Rudolf Steiners Sprache waren für mich die Begegnungen mit Heinz Zimmermann und Johannes Kiersch wegweisend.

Wie hat dir dein Studium der Eurythmie bzw. deine Bühnentätigkeit dabei geholfen?

Das Studium der Eurythmie hat mir die Welt völlig neu erschlossen und so die Grundlagen für meine Tätigkeit gegeben. Zu erkennen, wie tief unser Menschsein mit der Sprache verbunden ist, dass die Laute Wahrbilder der Schöpfungsgebärden sind, hat mich erschüttert. Die Eurythmie war umfassende Seelenbildnerin für mich, weil es im feinen Durchempfinden der Gliederbewegungen den ganzen Menschen braucht. Dass ich ein paar Jahre als Bühneneurythmistin in der Kunst leben und im letzten Moment an den von Marie Steiner geprägten Inszenierungen von ‹Faust› und den Mysteriendramen teilnehmen durfte, war ein großes Lebensgeschenk.

Wie hat sich dein Bild von Rudolf Steiner in den bald 30 Jahren Forschung verändert?

Meine Aufmerksamkeit war zunächst auf das Werk fokussiert, und auf Rudolf Steiner, die eher ungreifbare Gestalt, der wir es verdanken. Erst durch meine Arbeit über seine Auffassung von Goethes ‹Faust› durch sein Leben hindurch entdeckte ich ihn als Werdenden und Ringenden. Das brachte mich ihm als Menschen und als geschichtlicher Persönlichkeit näher und weckte mein Interesse für seinen Weg. Durch das Schreiben der Biografie wurde mir immer deutlicher bewusst, durch wie viele Widerstände, Prüfungen und Erlebnisse des Scheiterns er durchgehen musste – er selbst schreibt 1900 einmal von seinem «schweren Leben». Und trotzdem folgte er gewissermaßen immer unbeirrt seiner schon früh geahnten Aufgabe, nämlich Wege zum Erleben des Geistigen aufzuzeigen. Gerade dadurch aber stieg meine Bewunderung für ihn: Er hat erlebt, was wir alle erleben, hat sich aber dadurch Fähigkeiten errungen, die zu seinem heute noch so anregenden Werk, zu dieser unfassbaren Produktivität auf allen Gebieten führten. Mir ist daran auch ein lebenskonkreteres Verständnis des anthroposophischen Schulungsweges aufgegangen.

Martina Maria Sam. Foto: Charlotte Fischer

Was berührt dich in deiner Forschung besonders? Gab es eine Überraschung?

Eigentlich erlebe ich fortwährend Überraschungen – das ist das Wunderbare, das Belebende und Erfrischende an dieser Arbeit. Es berührt mich zum Beispiel, wie oft ich darauf stoße, dass direkte Verwandte oder Nachkommen von Jugendbekannten Rudolf Steiners zur Anthroposophie fanden. Das ist wirklich jenseits aller Wahrscheinlichkeit. Und oft erlebe ich, dass sich neue Erkenntnisse und Dokumente, ja: finden lassen wollen! Es ist ergreifend, wenn auf Fragen, die man aus innerstem Herzen stellt, Antworten aus der Welt kommen. In der Arbeit an der Briefausgabe überrascht mich immer wieder, mit wie vielen und mit welchen Menschen Rudolf Steiner bekannt war, was sich uns teilweise erst durch die Briefe an ihn erschließt. Und auch, über was alles man ihn um Rat gefragt hat – ein Kaleidoskop durch alle Gebiete des Lebens. Überall konnte er neue Anregungen geben.

Die Schweizer Fernsehsendung ‹Sternstunde Philosophie›, an der du teilgenommen hast, hat eine halbe Million Zuschauende gefunden. Welche Reaktionen haben dich erreicht?

Ich bekam sehr viel Feedback, vereinzelt auch von außerhalb der anthroposophischen Bewegung. Die meisten waren dankbar für dieses Format – das es so vielleicht nur in der Schweiz geben kann – und dass auch jemand eingeladen war, der schon lange mit der Anthroposophie lebt. Manche wünschten sich, dass ich noch über dieses oder jenes gesprochen hätte, aber die Sendung hatte ja eine klare, vorgegebene Struktur.

Welche Projekte hast du für die kommenden Jahre?

Zunächst möchte ich dieses Jahr den dritten Band über die Weimarer Jahre vollenden und dann an den vierten Band über die frühen Berliner Jahre gehen. Auf diese Arbeit freue ich mich besonders, denn das ist ja die so spannende Zeit um 1900. Mich bewegt die Frage sehr, durch was Rudolf Steiner gerade in dieser Zeit gehen musste, durch welche Prüfungen und Herausforderungen, um vom – allerdings immer in der Geistwelt stehenden – philosophischen Schriftsteller und Redakteur zum Geistesforscher und Geisteslehrer zu werden. Aber ich habe auch noch viele Ideen für Vorträge und kleinere Publikationen – sowohl zu speziellen biografischen Motiven im Leben und Werk Rudolf Steiners als auch zu zentralanthroposophischen Themen.


Titelbild Rudolf Steiner und Marie von Sivers, Überfahrt nach Norwegen, 1908 oder später, Rudolf Steiner Archiv.

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