Um zu verdeutlichen, wie die Erinnerungsfähigkeit mit dem Ich zusammenhängt, erzählt Rudolf Steiner in zahlreichen Vorträgen (1) von einem Mann, den er «sehr gut kannte» (2), mit dem er «eine Zeit lang zusammen gearbeitet hatte» (3) und der sein Gedächtnis eine Zeit lang verlor.
Diesem Mann passierte es, so führt er im Vortrag vom 24. Dezember 1923 (GA 233) aus, «dass er eines Tages sich aus seinem Heim entfernte, sich auf der Bahnstation ein Billett kaufte bis zu einem bestimmten Punkt, dann ausstieg, sich wieder eins kaufte; das alles, indem die Erinnerung an sein Leben bis zum Kaufen dieses Billetts momentan in ihm ausgelöscht war. Er tat alles klug, der Verstand war ganz intakt; das Gedächtnis war ausgelöscht. Und er fand sich dann wiederum, indem das Gedächtnis wieder anknüpfte an früher, in einem Obdachlosenasyl in Berlin, in welchem er sich eingefunden hatte.» Im Vortrag vom 8. Februar 1924 (GA 234) kommt er darauf zurück: «Man konnte später konstatieren, als man dem Fall nachgegangen war, dass er in Budapest, in Polen, Lemberg und so weiter gewesen ist. Er hat sich zuletzt entdeckt – da fing sein Bewusstsein wieder an zu wirken – in einem Obdachlosenasyl in Berlin, wo er zuletzt gelandet ist. Diesem Momente, wo er im Obdachlosenasyl angekommen war, waren ein paar Wochen vorangegangen, die in seinem Bewusstsein ausgelöscht waren. Er erinnerte sich an das Letzte, was er noch zu Hause gemacht hatte; das andere war ausgelöscht. Man musste von außen die ganze Reise verfolgen.» Den Arbeitern am Goetheanum erzählt Rudolf Steiner am 20. Februar 1924 (natürlich ohne Namensnennung): «[…] diesen Mann, […] den habe ich tatsächlich so vor mir, dass ich ihn eigentlich jederzeit malen könnte. Der Mann hatte Augen, von denen man glauben konnte, sie wollten immer mehr tiefer in den Kopf hinein. Er hatte hier vorne so etwas, wie wenn die Nase sich eingegraben hätte – das alles natürlich sehr leise angedeutet – in den physischen Leib. […] Er sprach mit einem so, dass er ganz anders überzeugt war von seinen Worten als ein anderer Mensch. Man hatte das Gefühl, der schmeckt seine eigenen Worte immer auf der Zunge und verschluckt sie, so gern hat er sie. […] Wenn irgendwo auf der Straße ein Wagen knatterte, dann fuhr er furchtbar zusammen; wenn Sie ihm irgendeine Neuigkeit erzählten, dann fuhr er ebenso zusammen, ob sie nun freudig oder traurig war. – Sehen Sie, dieser Mensch hatte zu viel zugehört (4), und alles drückte sich gleich in seinem physischen Leibe aus. Und dadurch hatte er die Gewohnheit, dass der astralische Leib immer ganz tief in den physischen Leib sich eingrub […], bis der physische Leib so weit war, dass er auch sein eigenes Ich eine Zeit lang verrückte.» (GA 352)
Wer war dieser Mann, mit dem Rudolf Steiner «recht gut bekannt» (5) war?
Es war der Bruder des bekannten Theologen Adolf Harnack, der Literaturwissenschaftler und Goetheforscher Otto Harnack (Erlangen, 23. November 1857–22. März 1914, Besigheim). Rudolf Steiner gedenkt seiner in ‹Mein Lebensgang› als Beispiel für einen Menschen, in dessen Standpunkt er sich in seiner Weimarer Zeit ganz einzuleben suchte: «Ich führte z. B. unzählige Gespräche mit Otto Harnack, dem geistvollen Verfasser des Buches ‹Goethe in der Epoche seiner Vollendung›, der damals viel nach Weimar kam, weil er über Goethes Kunststudien arbeitete. Der Mann, der dann später in eine erschütternde Lebenstragik verfallen ist, war mir lieb. Ich konnte ganz Otto Harnack sein, wenn ich mit ihm sprach. Ich nahm seine Gedanken hin, lebte mich […] zu Besuch, aber ‹wie zu Hause› in sie ein. Ich dachte gar nicht daran, ihn zu mir zu Besuch zu bitten. Er konnte nur bei sich leben. Er war so in seine Gedanken eingesponnen, dass er alles als fremd empfand, was nicht das Seinige war. Er hätte von meiner Welt nur so hören können, dass er sie wie das Kant’sche ‹Ding an sich› behandelt hätte, das ‹jenseits des Bewusstseins› liegt. Ich fühlte mich geistig verpflichtet, seine Welt als eine solche zu behandeln, zu der ich mich nicht kantisch zu verhalten hatte, sondern in die ich das Bewusstsein hinüberleiten musste.» (6)
Otto Harnack, dessen Mutter bei seiner Geburt verstorben war, lebte in seiner Jugend viele Jahre in Estland, wo er auch studierte. Er promovierte in Göttingen, lehrte ab 1896 Geschichte und Literatur an der Technischen Hochschule Darmstadt, ab 1905 an der Technischen Hochschule Stuttgart. 1898 heiratete er die Malerin Clara Reichau (1877–1962). Das Ehepaar hatte drei Kinder, von denen zwei – Arvid und Falk – in der Zeit des Nationalsozialismus im Widerstand kämpften; Arvid wurde am 22. Dezember 1942 hingerichtet.
Bald nach seiner Eheschließung, an der Jahreswende 1898/99, besuchte Harnack mit seiner jungen Frau seinen Schwiegervater in Berlin. Dabei kam es zu der von Rudolf Steiner angeführten Bewusstseinstrübung. Nach einem Herrenabend im Klub verschwand Harnack am 30. Dezember 1898 auf dem Rückweg nach Hause. Er wurde über Zeitungsanzeigen gesucht – und es meldeten sich einige Bahnbeamte, die ihn hier und da gesehen hatten. Am 6. Januar tauchte er wieder auf: Auf die «Unfallstation» in der Berliner Steglitzerstr. 60 kam, wie im Beiblatt des ‹Berliner Tageblatts› vom 7. Januar 1899 berichtet wird, ein Herr, «der zunächst bat, sich etwas ausruhen zu dürfen, weil er sich sehr müde fühlte. Er machte den Eindruck eines nervös abgespannten Mannes.» Weiter wird erzählt, dass Harnack einen Bericht seiner Reise gegeben habe: Von einer hochgradigen Unruhe befallen, sei er am 30. Dezember zum Bahnhof gegangen und nach Wien gereist, wo er sich mehrere Tage aufgehalten habe. Doch, so das ‹Berliner Tageblatt›: «Seine Angaben über die eingeschlagene Reiseroute dürften mit Vorsicht aufzunehmen sein», da «das heimliche Entweichen in einem Zustande von Geistesgestörtheit geschah» und es Hinweise von Schaffnern gab, die auf andere Reiserouten deuteten. Dass Harnack, wie Rudolf Steiner betont, «vernünftig», wenn auch ohne Erinnerung, gehandelt habe, geht auch daraus hervor, dass er sich «den Vollbart abrasieren ließ, um sich unkenntlich zu machen», wie der Bericht festhält.
Fünfzehn Jahre später «überfiel ihn ein zweites Mal diese Krankheit; da hat er dann freiwillig den Tod gesucht, in dem Bewusstsein, in dem das Gedächtnis mit dem Ich noch ausgeschaltet war.» (7) Er verschwand am 22. Februar 1914 und wurde von der Kriminalpolizei mit einer genauen Personenbeschreibung und einem Foto über die Zeitungen gesucht. Einen Monat später, am 22. März 1914, wurde seine Leiche am Neckarstrand bei Besigheim angespült.
(1) Siehe u. a. die esoterische Stunde vom 18. März 1913 (GA 266c) und die Vorträge vom 17. Juli 1915 (GA 162), 16. November 1915 (GA 157a), 7. Dezember 1919 (GA 194), 16. Juni 1923 (GA 350), 24. Dezember 1923 (GA 233), 8. Februar 1924 (GA 234), 20. Februar 1924 (GA 352), 5. April 1924 (GA 239).
(2) Vortrag vom 7. Dezember 1919, GA 194.
(3) Vortrag vom 16. Juni 1923, GA 350.
(4) Es ist die Frage, ob das (hinter einem Vorhang von Helene Finckh mitgeschriebene) Stenogramm hier («zu viel zugehört») stimmt, denn die Beschreibung Harnacks in Steiners ‹Mein Lebensgang› klingt deutlich anders.
(5) Vortrag vom 5. April 1924, GA 239.
(6) GA 28, S. 236 f., erstmals veröffentlicht am 17. August 1924.
(7) Vortrag vom 16. November 1915, GA 157a.
Auf den Titelbildern: Otto Harnack