Zur Medizinischen Jahrestagung 2024 stellte Christian Schikarski die neue Arbeitsgruppe der Sektion vor. Julia Demming sprach mit ihm über deren Aufgaben und Möglichkeiten.
Wo leben Sie? Wo arbeiten Sie? Und was ist Ihre Rolle bei der neuen Arbeitsgruppe ‹Alterskultur und Altersmedizin› (Care 6)?
Ich bin 40 Jahre Arzt gewesen, habe zuletzt das Altersheim in Hombrechtikon ärztlich betreut und habe da sehr viel Geriatrie und Demenzpflege erlebt. Ich habe davor im Paracelsus-Spital in Richterswil gearbeitet und war 20 Jahre in Witten/Herdecke tätig, am Krankenhaus und an der Universität und zwischendurch noch in der geriatrischen Reha in Bad Steben. Seit Oktober 2023 bin ich im Ruhestand, habe Zeit, die Verantwortung für so eine Arbeit zu übernehmen. Deshalb hat Karin Michael [Anm. d. Red.: Mitglied der Leitung der Medizinischen Sektion] mich auch gefragt, das jetzt zu machen.
Sie haben dort den Vorsitz?
Ich bin von Fachleuten umgeben, die es vielleicht sogar besser wissen als ich, und moderiere den Prozess, schaue, dass die Dinge zusammenfließen. Ich bereite auch vor, damit wir was aufs Papier bringen.
Es gibt sechs Care-Gebiete, die an die medizinische Sektion angegliedert sind. Das sind ‹Schwangerschaft, Geburt und frühe Kindheit›, ‹Umgang mit Fieber und Infektionskrankheiten›, ‹Angst und depressive Störungen›, ‹Onkologie› und ‹Palliativmedizin›. Care 6 betrifft nun neu die ‹Alterskultur›.
Genau. Wir überlegen, was denn Altern heißt. Ist das eine Krankheit oder ist das etwas Natürliches? Und was davon ist dann vielleicht Krankheit? Was ist schwer auszuhalten und wie lässt sich das vernünftig in unsere Gesellschaft integrieren, sodass die Menschlichkeit nicht durch technische Dinge und Vorgänge verloren geht?
In diesen Gruppen arbeiten Sie berufsübergreifend zusammen und versuchen auch Konzepte zu erarbeiten, um Ausbildung und Lehre zu unterstützen, um mitzuwirken, den Diskurs über die gesellschaftlichen Herausforderungen mitzugestalten. Wann können Sie mit ersten Ergebnissen an die Öffentlichkeit gehen? Wie ist der Stand im Moment?
Anfang nächsten Jahres könnte vielleicht schon was zustande gekommen sein. Wir hatten im Frühsommer ein erstes Videotreffen und auf der Tagung unser erstes physisches Treffen. Das führte dazu, dass nun fast jeder und jede Einzelne schon mal weiß, wo er oder sie anfangen kann zu schreiben. Jetzt gehen alle an ihre Schreibtische zurück und im November sind wir verabredet für die nächste Videokonferenz. Da können wir vielleicht schon etwas sichten, das Gespräch vertiefen und schauen, wie wir uns einigen. Das Interdisziplinäre ist ungemein bereichernd. Das Altern ist kein ärztliches Problem in erster Linie, sondern hauptsächlich ein pflegerisches, ein menschliches, ein integrierendes. Deshalb sind sehr viele Kompetenzen gefragt, um das Spektrum so zu öffnen, dass die späteren Lesenden auch etwas davon haben.
Welche Berufsgruppen oder Fachbereiche sind in der Care-6-Gruppe vertreten?
Wir haben im Schwerpunkt wirklich die Pflege. Wir haben einige Fachmenschen der Geriatrie, die auch Erfahrung aus geriatrischen Kliniken mitbringen. Und wir haben eine Reihe von Therapeutinnen, die auf unterschiedliche Art und Weise mit alten und/oder dementen Menschen kunsttherapeutische, physiotherapeutische, cranio-sacral-therapeutische Interventionen machen und damit Erfahrungen gesammelt haben, die sich formulieren lassen.
Alterskultur ist ein Stichwort für sich in Bezug auf das Menschliche und die Würde. Warum meinen Sie, dass es gerade aus der Anthroposophischen Medizin heraus auf diesem Gebiet Impulse braucht? Oder dass daher Expertise kommt, um diesen Bereich mitzugestalten?
Das hängt mit dem Menschenbild zusammen, das wir haben. Was ist der Mensch, wenn er sich nicht mehr erinnern kann? Kann ich einem Menschen, der sich nicht mehr erinnert, die Treue halten, weil ich weiß, er ist ein Mensch? Wie kann ich ihn in seinem Menschsein unterstützen? Dazu braucht es einen spirituellen Hintergrund. Denn wenn ich den Menschen als biochemische Maschine verstehe, dann komme ich nicht auf so etwas. Wir leben nicht mehr in der Zeit, in der das mit kirchlichem Glauben oder irgendeiner Frömmigkeit noch über Wasser gehalten wurde. Das lässt sich eigentlich nur noch wirklich qualitativ gut bewerkstelligen, wenn es wissenschaftlich begründet ist und in dem Fall geisteswissenschaftlich.
Das Thema der Fachkonferenz war ‹Therapeutische Intuition›. Was haben Therapie und Intuition miteinander zu tun?
Es hat viel miteinander zu tun. Ich brauche ein Gedankenbild vom Menschen und schule mich selbst auch darin. Habe ich einen bestimmten Einfall, was eine Patientin braucht, ohne es selbst äußern zu können, wenn ich eine bestimmte Aktivität bei ihr sehe? Kann ich im richtigen Moment die richtige Frage stellen, weil ich etwas sehe, was ich beim reinen Abarbeiten der Checkliste nicht finden würde? Gerade im Arbeitsalltag brauchen wir Intuition unentwegt.
Wie haben Sie das in Ihrem eigenen Arbeitsalltag erlebt? Was haben Sie getan, um diese Intuitionsfähigkeit zu schulen? Oder war sie Ihnen irgendwann einfach aus Erfahrung gegeben?
Das kommt tatsächlich mit der Berufserfahrung. Ich komme noch aus einer Generation, wo ‹Learning by doing› stattgefunden hat. Jetzt aber machen wir den Schritt, das auch zu systematisieren, damit man versteht, was man tut, auch wenn es um Intuition geht. Wir kommen jetzt eigentlich erst so richtig in die Phase hinein, wo wir uns bestimmte Übungen vornehmen können, wo man Fähigkeiten entwickelt, die das begünstigen.
Was bedeutet Altern und Alterskultur für Sie persönlich?
Ich bin natürlich persönlich betroffen. Ich bin jetzt 73 und gehöre noch zu denen, die überall rumlaufen und nach Aktivitäten suchen. Aber ich bemerke, dass sich im Bewusstsein etwas ändert. Der Blick auf die Welt wird anders und das wird auch das Thema sein, was ich als Erstes in die Feder schicken werde: Wie denkt und fühlt jemand, der alt wird? Da bin ich selbst gespannt, was ich formulieren werde. Aber ich rekurriere da auf ein Zitat von Rudolf Steiner aus dem Kurs für Waldorflehrer, wo er eigentlich über die Kinder spricht. Da stellt er das Kind dem alten Menschen gegenüber und sagt, das Kind ist wollendes Fühlen. Es fühlt etwas und fängt sofort an, irgendwelche Bewegungen dazu zu machen, zappelt, strampelt. Der alte Mensch fängt zu fühlen an, wenn er denkt. Wenn der alte Mensch also seine Gedanken über die Welt entwickelt, verbindet sich das immer mehr mit dem Fühlen. Da geschieht etwas Heilsames. Dem bin ich gerade auf der Spur.
Sie sind also optimistisch eingestellt gegenüber Ihrer eigenen und der Zukunft der alternden Menschen?
Ja, auch wenn alles schwierig aussieht. Und ich bin auch gespannt.