Anthroposophische Ärzte im Nationalsozialismus

Waren die anthroposophischen Ärztinnen und Ärzte Mitläufer, Profiteure oder Opponenten der Medizin im Nationalsozialismus und seiner ‹Neuen Deutschen Heilkunde›? Wie positionierte sich die anthroposophische Ärzteschaft zu den Leitlinien und Konsequenzen der NS-Medizin – von der biologischen Erfassung der gesamten Bevölkerung unter dem Diktat der ‹Volksgesundheit› und maximalen Leistungsfähigkeit über den Ausschluss jüdischer Kolleginnen und Kollegen bis hin zu Zwangssterilisationen von Menschen, deren Fortpflanzung nicht erwünscht war, und zur Tötung psychiatrischer Patientinnen und Patienten?


Wenn die anthroposophische Ärzteschaft wirklich, wie von anthroposophischer Seite oft betont, Teil einer zivilgesellschaftlichen Widerstandsbewegung war, warum konnten sie dann nach dem Verbot der Anthroposophischen Gesellschaft im November 1935 noch weiterarbeiten, in Praxen und Kliniken, in einzelnen heilpädagogischen Heimen – und hatten anthroposophische Arzneimittel zur Verfügung, die die Weleda und Rudolf Hauschka nach wie vor produzierten? Gehörten sie doch eher zum Regime – und waren am Ende eine privilegierte und kooperative Gruppe mit ideologischer Konvergenz, wie Kritiker schon wiederholt behauptet haben? Führende Nationalsozialisten wie Otto Ohlendorf sahen sich und ihre Familien gerne in anthroposophischen Praxen betreut – der bekannte anthroposophische Pädiater Wilhelm zur Linden beschrieb in einer weitverbreiteten Autobiografie seine politisch prominente Klientel und war vielleicht nicht der Einzige, dessen große Praxis von führenden Nationalsozialisten (aber auch Oppositionellen) gerne aufgesucht wurde. Fügte sich die Anthroposophische Medizin ins biopolitische Konzept der Nationalsozialisten, mit der Aufwertung des ‹Natürlichen›, des Ökologischen und Prophylaktischen? Mehr Immunität, Lebenskraft und Resistenz wollten die führenden NS-Ideologen, mehr ‹Gesundheit› und ‹Lebenskraft› für das ‹deutsche Volk›. War die anthroposophische Heilkunst die für sie passende Form der ‹biologischen Medizin›?

Diese und ähnliche Fragen, die nicht ohne Brisanz und Aktualität sind, führten die Akademie der Gesellschaft Anthroposophischer Ärztinnen und Ärtze in Deutschland (GAÄD) 2016 dazu, das Ita-Wegman-Institut um die Ausarbeitung einer Studie zur Anthroposophischen Medizin, Pharmazie und Heilpädagogik in der Zeit des Nationalsozialismus zu bitten, in Zusammenarbeit mit einem unabhängigen, wissenschaftlich hoch qualifizierten Beirat, den NS-Medizinhistorikern und Charité-Professoren Thomas Beddies und Heinz-Peter Schmiedebach. Nun erschien im renommierten Schwabe-Verlag (Basel/Berlin), dem ältesten Wissenschaftsverlag der Welt (gegründet 1488, ‹Offizin Petri›), der erste von drei Bänden – mit über 900 Seiten. Er behandelt das Verhältnis der Anthroposophie zum Nationalsozialismus (und vice versa) sowie das Verhalten der anthroposophischen Ärzteschaft 1933 bis 1945. Band 2 und 3 werden 2025 bei Schwabe erscheinen – zur Weleda und zur Wala (Band 2) und zur anthroposophischen Psychiatrie und Heilpädagogik (Band 3).

618 Mediziner und Medizinerinnen

Ob wir die Aufgabe an- und in Angriff genommen hätten, wenn uns 2016 bewusst gewesen wäre, auf welchen Berg von Arbeit wir uns einlassen? Wohl kaum. Der Anstieg begann mit der Frage, wer 1933 bis 1945 überhaupt ein ‹anthroposophischer Arzt› oder eine ‹anthroposophische Ärztin› war, wer als solcher oder solche bezeichnet werden kann und nunmehr von uns in seinem Verhalten beschrieben werden sollte. Was ist ein anthroposophischer Arzt? Die Frage ist bis heute nicht einfach zu beantworten, und die Verschreibung von Weleda- oder Wala-Mitteln qualifiziert dazu wohl noch nicht. 1933 bis 1945 gab es, anders als heute, noch kein definiertes Ausbildungscurriculum und keine Zertifikate, nichts, worauf man sich berufen und eine Gruppe definieren konnte. ‹Anthroposophische Ärzte› bildeten keine Kategorie im Reichsmedizinalkalender, auch nicht in der Reichsärztekartei, auch nicht im Reichsarztregister. Der Name fand sich weder auf Praxisschildern noch auf Briefbögen – was, politisch gesehen, auch gut so war, weil es Schutz und Verborgenheit ermöglichte. Immerhin gab es eine Weleda-Kartei mit fast 4000 interessierten Ärztinnen und Ärzten, die jedoch als verschollen und verloren anzusehen ist. Aber die ‹interessierten› Mediziner waren auch sicher nicht alle Anthroposophen und Vertreter jener Medizin, die Rudolf Steiner und Ita Wegman konzeptionell entworfen haben, in menschenkundlicher und therapeutisch-ethischer Orientierung. Schließlich fanden wir insgesamt 16 Ärztelisten im Ita-Wegman-Archiv und im Archiv der Weleda, mit vielen prominenten, aber auch unbekannten Namen, sehr vielen Frauen. Wir prüften sie im Hinblick auf ihre Zugehörigkeiten zur Anthroposophischen Gesellschaft und zur Medizinischen Sektion am Goetheanum, der medizinischen Fachabteilung der Dornacher Hochschule. Wir fanden 211 Personen, die Mitgliedschaften in beiden Organisationen vorwiesen, 176 Ärztinnen und Ärzte waren nur der Anthroposophischen Gesellschaft angeschlossen. Beide Gruppen zusammengenommen, das heißt 387 Menschen, betrachteten wir als Kerngruppe der anthroposophischen Ärzteschaft. Zusätzlich fanden wir 231 Ärztinnen und Ärzte, die sich von 1933 bis 1945 nachweislich initiativ für die Anthroposophische Medizin einsetzten, aber ohne institutionelle Zugehörigkeit waren. Wir nannten sie die erweiterte Gruppe. Zusammen hatten wir es also mit 618 Personen zu tun, von denen in Deutschland in dem infrage stehenden Zeitraum 387 tätig waren, dazu 149 in von Deutschland (ab 1938) besetzten Ländern. Diesen Personenkreis untersuchten wir unter anderem nach Facharztqualifikation, Einkommensverhältnissen und Fortbildungen, nach Publikationen in der Anthroposophischen Medizin; wir suchten nach Niederlassungsorten und Orten klinischer Tätigkeit, nach ihrer Auffindbarkeit in lokalen Archiven, in Spruchkammerakten zur ‹Entnazifizierung› nach 1945, im Bundesarchiv, in vielen Archiven, überall. Wir recherchierten auch ihre Mitgliedschaften in NS-Organisationen.

Hermann Keiner. Quelle © Christiane Brunk

Was Ita Wegman voraussah

Allerdings ging es uns nicht nur um die vielen Einzelnen, sondern auch um ihren Zusammenschluss, darunter in gesundheitspolitischer Hinsicht. Am 7. Oktober 1933 erschien im ‹Deutschen Ärzteblatt› und in einigen anderen Zeitschriften ein Aufruf des ‹Reichsärzteführers› Gerhard Wagner, des obersten politischen Arztes, an die ‹biologischen Ärzte›. Wagner gab vor, die mit Naturheilmitteln arbeitenden Ärzte zusammenschließen zu wollen, um den nicht schulmedizinischen Verfahren nach methodischer Prüfung endlich den Stellenwert in der medizinischen Landschaft zu verschaffen, der ihnen gebührte. Die Frage, ob man sich daraufhin als Verband zusammenschließen und bei Wagner anmelden sollte, wurde in der anthroposophischen Ärzteschaft intensiv und kontrovers diskutiert. Der Freiburger Psychiater und Klinikleiter Friedrich Husemann (Sanatorium Wiesneck) war unbedingt dafür, Ita Wegman radikal dagegen – sie sah die ‹Gleichschaltung›, NS-Erfassung und Instrumentalisierung des anthroposophischen Ärzteverbandes voraus; Husemann hoffte dagegen auf eine größere gesellschaftliche Anerkennung und Wirksamkeit, auf eine Überwindung der Isolation. Schließlich schlossen sich gerade einmal 45 Kolleginnen und Kollegen dem von Husemann begründeten Verband an und wurden 1935 Teil der ‹Reichsarbeitsgemeinschaft für eine Neue Deutsche Heilkunde› unter Gerhard Wagner. In ihr spielten sie, anders als von manchen Kritikern behauptet, eine marginale Rolle, oder gar keine – sie blieben ohne Tagungsbeiträge, Publikationen und Einfluss. Die Reichsarbeitsgemeinschaft bestand auch nicht lange, unter anderem deswegen, weil der ‹Vierjahresplan› unter Hitler/Göring 1936 auf Kriegsfähigkeit zielte und auf die Hochleistungsfähigkeit der Schulmedizin setzte, auf die Effizienz der «deutschen Tatsachenforschung». Dennoch sind die internen Verbandsdiskussionen im Spiegel der Korrespondenzen, die wir fanden, von Bedeutung. Viele der anthroposophischen Ärztinnen und Ärzte widersprachen oder verweigerten sich still; sie wollten keinen Status einer definierten ‹biologischen› Außenseitergruppe in Regime- und ‹Volksheilkunde›-Nähe, keine Abtrennung von der ‹Schulmedizin› und keine Akzeptanz des Arier-Paragrafen. Ihrem Selbstverständnis nach war die anthroposophische Ärzteschaft etwas anderes; sie stand nicht lediglich für ‹biologische Naturheilmittel›, sondern für eine geisteswissenschaftliche Erweiterung der Heilkunde, damit auch für eine humanistische ärztliche Ethik, für eine individuelle Patientenbehandlung (statt eines ‹Volkskörpers›), sie stand gegen Eugenik und Selektion. Das sah auch Friedrich Husemann so – 1933 aber erhoffte er noch Positives von Wagner, um bald eines Besseren belehrt zu werden, nicht zuletzt durch das schwere Schicksal seiner Patienten im ‹biopolitischen› Staat.

Konsequente Abtrennung der Anthroposophie

Deutlich wurden in verschiedenen internen Korrespondenzen auch die Vorbehalte vieler anthroposophischer Ärzte – darunter bald auch Husemanns – gegen das vermeintliche ‹Erfolgsmodell› der biologisch-dynamischen Landwirte unter Erhard Bartsch und seinem ‹Reichsverband für biologisch-dynamische Wirtschaftsweise in Landwirtschaft und Gartenbau.› mit dem ‹Musterhof› Marienhöhe bei Bad Saarow.1 Schwer unter Druck geraten und kurz vor dem Verbot stehend, war Bartsch mit wenigen Kollegen zum Aufbau eines politischen Beziehungsnetzes übergegangen, um zu zeigen, was die Demeter-Landwirtschaft dem ‹neuen Deutschland› bedeuten könnte. Prominente Minister besuchten seinen Hof und fragwürdige Liaisons bildeten sich aus – ab 1940 interessierte sich die SS unter Himmler mit Nachdruck für die Einführung biologisch-dynamischer Methoden auf den SS-Versuchsgütern, unter konsequenter Abtrennung der Anthroposophie, die als staatsfeindlich galt. Falls die biologisch-dynamischen Methoden ohne Kunstdünger funktionierten, schienen sie Himmler insbesondere für den neuen ‹Lebensraum im Osten› tauglich zu sein. So kamen die Praktiken eines neuen Landbaus zur DVA (Deutsche Versuchsanstalt für Ernährung und Verpflegung), darunter zum SS-Heilkräuterbetrieb am Konzentrationslager Dachau, dem größten in Europa, mit 1000 Gefangenen als Zwangsmitarbeitern und einem großen botanischen Forschungsbereich.

Der Psychiater und Psychotherapeut Husemann, der führende Kopf der anthroposophischen Ärzteschaft in Deutschland, verhielt sich kritisch zu dieser Politisierung und Instrumentalisierung – offenbar von Jahr zu Jahr kritischer. Seine drei Buchpublikationen in der NS-Zeit: ‹Goethe und die Heilkunst. Betrachtungen zur Krise in der Medizin› (1936) ‹Vom Bild und Sinn des Todes. Entwurf einer geisteswissenschaftlich orientierten Geschichte, Physiologie und Psychologie des Todesproblems› (1938) ‹Das Bild des Menschen als Grundlage der Heilkunst. Entwurf einer geisteswissenschaftlich orientierten Medizin› (1941) sind in sich souverän. Sie passten sich nicht an die NS-Medizin an, weder ideell noch terminologisch, waren kompromiss- und konzessionslos – und die tatsächlichen Lehrbücher der Anthroposophischen Medizin in dieser Zeit. Dieselbe ideelle Kontinuität der Themen und Anliegen fanden wir bei der Analyse der ärztlichen Fortbildungsveranstaltungen, auch der ‹Weleda-Nachrichten› (mit einer Auflage bis zu 80 000 Exemplaren) und der anthroposophischen Arzneimittelgutachten, was jedoch nicht heißt, dass alle anthroposophische Ärztinnen und Ärzte Abstand von NS-Organisationen hielten (wohl jedoch Husemann, der über keine einzige Mitgliedschaft verfügte). Ca. 10 Prozent von ihnen traten aus verschiedenen Gründen der NSDAP bei (statt ca. 40 Prozent in der allgemeinen deutschen Ärzteschaft), in die SA gingen 6,2 Prozent (statt 26 Prozent), in die SS 2,5 Prozent (statt 7,2 Prozent).

Henriette Ginda Fridkin

Im Gegensatz zum ‹völkischen Gedanken›

Funktionen oder gar Leitungsaufgaben nahmen die Eingetretenen in diesen Organisationen nicht wahr, von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen. Sofern ihre anthroposophische Ausrichtung bekannt war, hatten sie von vornherein auch keine Chance dazu; nach dem Verbot der Anthroposophischen Gesellschaft im November 1935 durch Reinhard Heydrich wurden sie überwiegend gar nicht mehr aufgenommen. Die ‹internationale Einstellung›, die ‹Beziehungen zu ausländischen Juden›, ‹Pazifisten› und ‹Freimaurern›, die ‹individualistische Erziehung› im Gegensatz zum ‹völkischen Gedanken› des Nationalsozialismus, wurde, so der Gesellschaftsverbotstext, als ‹staatsfeindlich› und ‹staatsgefährdend› erachtet. Dies war und blieb das eindeutige Votum aller Gutachten des Sicherheitsdienstes der SS bis 1941, bis zur Schließung fast aller anthroposophisch orientierten und als solche erkennbaren Einrichtungen.2 Im Mai 1936 hieß es in einem SD-Bericht: «Die Anthroposophie löst den Geist aus seiner Verbindung mit der Rasse und dem Volk und verdammt das Rassische und Völkische in eine niedere Sphäre der Primitivität, des Instinkts, des durch den Geist zu überwindenden Triebs, der Vorzeitlichkeit. Sie erweist damit ihre Verflechtung mit den Hauptströmungen der bisherigen europäischen Geistesgeschichte, vor allem der Aufklärung, dem deutschen Idealismus und dem Liberalismus der vergangenen Jahrhunderte.»3 1941 stand in einem bilanzierenden Bericht des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA): «Will man die Totalität des weltanschaulichen Denkens gelten lassen und ihre Auswirkung auf die Gesamtmeinung und Haltung des Menschen, so kann nicht angezweifelt werden, dass der Anhänger der Anthroposophie zwangsläufig zum Gegner des Nationalsozialismus werden muss, zum mindesten aber dem Nationalsozialismus fremd bleiben wird.»4 Steiners Schriften wurden bereits 1935 verboten, anthroposophische Arbeitsgemeinschaften durchsucht, Bibliotheken konfisziert, Menschen verhört und erfasst. Das Sanatorium Burghalde nahe Bad Liebenzell wurde seit seiner Eröffnung 1935 genau beobachtet, ob es eventuell anthroposophisch orientiert sei. 1941 wurde dann eindeutig verboten, dort anthroposophisch orientierte Patienten aufzunehmen oder in dieser Weise ausgebildete Krankenschwestern zu beschäftigen. Der beliebte Dortmunder Hausarzt Hermann Keiner, ein Pionier der Anthroposophischen Medizin im Ruhrgebiet mit stets überfülltem Wartezimmer («wen keiner heilt, heilt Keiner»), hatte insgesamt sechs Prozesse am Hals, wurde unter harten Bedingungen inhaftiert, verlor seine Bibliothek, all seine Papiere und seine Gesundheit. Er verweigerte sich der NS-Medizin und ihren Vorgaben, stand für die Anthroposophie und seine medizinisch-therapeutischen Überzeugungen und wurde dafür bestraft. Die Anthroposophische Medizin als solche stand im NS-Staat nie zur Diskussion, war in ihren menschenkundlichen Voraussetzungen und ethischen Zielsetzungen indiskutabel; wenn anthroposophische Ärztinnen und Ärzte weiterarbeiten konnten, so deswegen, weil sie nicht als solche deklariert und behördlich bekannt waren.

Das Vorgehen gegen die Anthroposophie als solche war vonseiten der Gestapo und der SS konsequent. Im polykratischen System des NS-Regimes gab es jedoch immer wieder einzelne Behörden und Behördenvertreter, die anthroposophische Einrichtungen schützten, aufgrund persönlicher Interessen oder in dem Versuch, deren Methoden dem NS-Staat zugutekommen zu lassen. So unterstützte Alfred Baeumler, Professor für politische Pädagogik in Berlin und Mitarbeiter im Amt Rosenberg, bekanntermaßen die Didaktik der Waldorfschulen – ‹ohne Anthroposophie› –, Rudolf Hess unter anderem den biologisch-dynamischen Landbau, Otto Ohlendorf neben anderem auch die Pharmazeutik Rudolf Hauschkas und der Weleda. Welchen Umständen das psychiatrische Sanatorium Wiesneck sein Überleben und die Nicht-Abholung seiner gefährdeten Patienten verdankte – ebenso die heilpädagogischen Heime anthroposophischer Ausrichtung – ist bis heute nicht restlos geklärt. Es waren, im Vergleich zu Emmendingen und Bethel, kleine, private Orte, ohne organisierten Zusammenschluss; nach Wiesneck sandten Psychiater aus ganz Deutschland ihre Patienten, darunter auch berühmte Unikliniker und Professoren. Wiesneck galt als vergleichsweise sicherer Ort mit einem hohen therapeutischen Ethos.

Eine Handvoll bekennender Nationalsozialisten

Unsere Studie geht in ihrem letzten Teil zu Einzelporträts über – der Mitläufer, Angepassten und Kollaborateure, aber auch der Widerständigen in der anthroposophischen Ärzteschaft, jeweils in ansteigender Intensität. Es gab einige bekennende Nationalsozialisten in der Kerngruppe, eine Handvoll, vielleicht auch nur drei bis vier: Jaap Sierts Galjart in den Niederlanden, Fritz, Sigmund und Hanns Rascher in Deutschland. Das Befremden der Gesamtheit über deren Wege war groß, wie die Dokumente zeigen. Dass Galjart mit der NS-Besatzungsmacht und ihrer NS-Gesundheitspolitik in den Niederlanden zusammenarbeitete und sich aktiv in sie einbrachte, war ein Schock für seine Kollegen, und die große Ausnahme. Warum er es tat, blieb für alle ein Rätsel. Freilich gab es Grauzonen im Sinne von Primo Levis, in der Kerngruppe und darüber hinaus. Der Anthroposoph Walter Pfabel war als Leiter des Gesundheitsamts Reinickendorf auch Beisitzer im Erbgesundheitsgericht Berlin; der Betriebsarzt Walter Martin vertrat bei einem österreichischen Kohlenwerk eine effiziente Leistungsmedizin mithilfe von Weleda-Produkten, in der Ideologie der DAF, der ‹Deutschen Arbeitsfront›. Wie sehr er sich wirklich mit der Anthroposophie beschäftigte und verband oder nur Weleda-Mittel verschrieb, bleibt offen. Martin war zuvor in Buchenwald inhaftiert gewesen, was ihn nicht entschuldigt; möglicherweise ergriff er jedoch die Flucht nach vorn. Der Münchner Hanns Rascher war der einzige anthroposophische Arzt, der beim Sicherheitsdienst der SS mitarbeitete und für die Vereinbarkeit der Anthroposophie mit dem Nationalsozialismus eintrat. Er war psychisch auffällig, neigte zum Größenwahn, wollte Reichsärzteführer werden, benötigte immerzu Geld. Bekannt wurde er am Ende durch seinen Sohn Sigmund, der unter Himmler eine SS-Karriere als äußerst brutaler, experimentierender SS-Arzt im KZ Dachau machte. Lange hieß es in der anthroposophischen Literatur, Sigmund Rascher sei nur ein vorübergehender, schwieriger Waldorfschüler gewesen, ohne näheren Bezug zur Anthroposophie. Er kannte sie jedoch, die Anthroposophie, war komplett anthroposophisch sozialisiert. Beide Eltern waren Anthroposophen, auch beide Geschwister. Die Familie besaß ein Haus in Dornach neben dem ‹Speisehaus›, und Sigmund arbeitete zeitweise am naturwissenschaftlichen Forschungsinstitut am Goetheanum, dem ‹Glashaus› (1933/34), wurde Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft und ein Meisterschüler Ehrenfried Pfeiffers in der Technik der sogenannten ‹Empfindlichen Kristallisation›, mit der er es zu zwei Publikationen in der angesehenen ‹Münchner Medizinischen Wochenschrift› (MMW) brachte, 1936 und 1939. Er arbeitete nicht als praktischer anthroposophischer Arzt (wie sein Vater, den er jedoch manchmal in der Praxis vertrat), sondern verstand sich als Wissenschaftler. ‹Karriere› machte er schließlich in Dachau, in der Perversion der Medizin, als Leiter einer ‹wehrwissenschaftlichen› Forschungsgruppe der SS-‹Ahnenerbe›-Organisation, in der Dynamik des Tötens, mit grausamen Höhendruck- und Unterkühlungsexperimenten an wehrlosen Gefangenen, von denen viele einen qualvollen Tod starben. Seinen Vater, dessen Anthroposophie-Beziehungen und Fahrten nach Dornach zeigte er bei der Polizei an und brachte ihn vorübergehend in Haft – möglicherweise, um seine eigene Distanz zur Anthroposophie unter Beweis zu stellen. Anthroposophische Ideen waren für Sigmund Rascher nicht handlungsleitend, im Gegenteil. Wie weit man trotz Anthroposophie fallen kann, stellte er jedoch unter Beweis – und selbst die suizidalen Blausäure-Kapseln der SS gehen sehr wahrscheinlich mit auf seine Dachauer Tätigkeit zurück. Nicht wenige der anthroposophischen Ärztinnen und Ärzte kannten Familie Rascher und Sigmund Raschers MMW-Publikationen; von seinen Dachauer Experimenten und dem ganzen Abgrund konnten sie dann 1947 im ersten Nürnberger Prozessbericht von Alexander Mitscherlich und Fred Mielke erschrocken lesen. Einer von uns?

Im Widerstand

Wir porträtierten aber auch Ärztinnen und Ärzte sowie anthroposophisch orientierte Medizinstudierende, die sich widerständig betätigten, angefangen mit Josef Kalkhof in Freiburg, dem unbeugsamen Allgemeinarzt, über das Ärzteehepaar Cramer-Oppen in Heidelberg, die sich intensiv und unter eigener Gefährdung für bedrohte jüdische Patienten einsetzten. Trude Förster protestierte gegen die ‹T4-Aktion›, die Tötung von psychiatrisch kranken Menschen, Henny van Suchtelen in den Niederlanden verweigerte sich der NS-Medizinpolitik und kam ins Gefängnis. Felix Auler versammelte einen Kreis von Schülern- und Studierenden mit oppositioneller Literatur um sich, während der anthroposophische Arzt Rolf Brestowsky in Düsseldorf eine kommunistische Widerstandsgruppierung unterstützte. Es gab noch andere. Ita Wegman, die engste ärztliche Mitarbeiterin Rudolf Steiners, lebte den Widerstand aus anthroposophischer Überzeugung vorbildlich – in ihrer ebenso klaren wie frühen Erkenntnis des NS-Regimes und seines totalitären Charakters, in der von ihr geleisteten Fluchthilfe für jüdische Kollegen und andere Gefährdete, in ihrem Vorgehen gegen die Anwendung des Sterilisationsgesetzes in der Heilpädagogik etc. Den Nationalsozialismus, Rassismus und Antisemitismus lehnte sie radikal ab. Bereits am 17. April 1933 schrieb sie in einem Brief an D. N. Dunlop, den Leiter der britischen Weleda: «Es wird jetzt wohl so gehen in Deutschland, dass die Freiheit da nicht mehr herrschen wird und vielleicht überall Kommissarien eingesetzt werden, die über die Dinge zu bestimmen haben, sowohl im politischen Leben als auch im Geistesleben, wie der Verwaltung der Schulen und andere Dinge, sowie auch, dass alle Juden doch herausgesetzt werden. Das ist jetzt natürlich auch unsere erste Sorge, die verschiedenen Freunde, die jetzt nicht in Deutschland bleiben können, sei es, dass sie von jüdischer Herkunft sind, sei es, dass sie durch eine bestimmte Arbeit, die mehr auf dem sozialen Gebiet stattgefunden hat, nicht ganz sicher sind in Deutschland.» Am 18. Juli 1933 hieß es: «Es ist erschütternd, wie man da [in Deutschland] alle Individualität ablegen muss und aufgehen muss im Staat und wie alles sich dreht um den Nationalsozialismus.» Wir beschrieben auch den Einsatz der anthroposophisch orientierten Medizinstudentin Traute Lafrenz (Page), die als Freundin von Hans und Sophie Scholl, Alexander Schmorell und Christoph Probst im engsten Kern der Widerstandsgruppe der ‹Weißen Rose› mitarbeitete und die Flugblätter verbreitete – mit inspiriert von Rudolf Steiners ‹Philosophie der Freiheit› und Husemanns Buch ‹Das Bild des Menschen›. Dem noch ausstehenden Todesurteil des Volksgerichtshofes unter Roland Freisler durch das Kriegsende entkommen, ging sie in die USA, arbeitete als anthroposophische Ärztin und leitete die Kindertagesstätte und -schule ‹Esperanza› in Chicago – in erster Linie für Seelenpflege-bedürftige Kinder und Jugendliche aus armen Einwandererfamilien.

Schließlich recherchierten und porträtierten wir die Wege der – gemäß NS-Terminologie – 29 ‹volljüdischen› Kolleginnen und Kollegen in der anthroposophischen Ärzteschaft (mindestens drei jüdische Großeltern); fast alle standen in Korrespondenz mit Ita Wegman. Sie erfuhren keine Ausgrenzung in der anthroposophischen Ärzteschaft, im Gegenteil. 24 von ihnen konnten, oft mit kollegialer Unterstützung, aus Deutschland fliehen, darunter alle 17 Deutschen. Die Berliner anthroposophische Ärztin Ilse Rennefeld konnte durch die Hilfe des Widerstandskreises um Wilhelm Canaris, Hans Oster und Hans von Dohnanyi gerettet werden und in die Schweiz gelangen; Eva Canaris, eine Tochter von Admiral Canaris, war in anthroposophisch-heilpädagogischen Orten sowie zeitweise bei Friedrich Husemann in Behandlung. Wir fanden jedoch auch heraus, dass eine anthroposophische Ärztin und ein anthroposophischer Arzt jüdischer Herkunft in deutschen Konzentrationslagern ermordet wurden – die ukrainische Ärztin Henriette Ginda Fridkin (aus Charkov) in Auschwitz-Birkenau am 11. Februar 1943, die in der Bauzeit des Ersten Goetheanum in Dornach die erkrankten Mitarbeiter betreut hatte, und der Prager Arzt Erich Knapp, der am 23. Oktober 1944 mit einem Transport aus Theresienstadt am selben Ort eintraf. Die Berichte über sein therapeutisches Wirken in Theresienstadt sind eindrucksvoll. Nachzulesen bei der Überlebenden Helen Lewis (ehemals Helene Herrmann): ‹A Time to Speak› (Belfast 2010).

Vom Geist der Menschlichkeit

So wurde die Studie auch eine Suche nach konkreten Menschen, ihren Verhaltensweisen und Lebenswegen, ihren Motivationen und Schicksalen in schwieriger geschichtlicher Zeit. Wussten die anthroposophischen Ärztinnen und Ärzte um die Abgründe der NS-Medizin, um die Totalität der Selektion und Tötung? Die in der Psychiatrie und Heilpädagogik tätigen mit Sicherheit – wir fanden nicht nur entsprechende Korrespondenzen, sondern Zeugnisse der Schutzmaßnahmen, wenigstens für die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen, die ihnen anvertraut waren. Ita Wegman war von der Dynamik der Zerstörung nicht überrascht, wie ihr Nachlass zeigt, wohl jedoch vom Ausmaß. Rudolf Steiner hatte bereits nach dem ersten Londoner Eugenik-Kongress (Juli 1912) vor den gesellschaftlichen Folgen sozialdarwinistischer, eugenischer und ‹rassenhygienischer› Konzepte eindringlich gewarnt, auch vor der Instrumentalisierung der Medizin zu staatlichen und ökonomischen Zwecken. Er las 1920 das Buch der Professoren Binding und Hoche, die die ‹Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens› forderten. «Und da wird kaum die erste Hälfte dieses Jahrhunderts zu Ende gehen, ohne dass auf diesen Gebieten geschieht, was für den Einsichtigen ein Furchtbares ist», hatte er am 27. März 1917 in Berlin gesagt.5 Er war kein Nostradamus, aber sah die Entwicklungstendenzen und -kräfte. Das ‹Diktat der Menschenverachtung›, von dem Mitscherlich und Mielke 1947 sprachen, er kannte es. «Es geht […] in der Heilkunde um eine Vergegenwärtigung des ganzen menschlichen Wesens» – diesen Satz von Alexander Mitscherlich (19486) hätte Steiner unterschrieben. Die vergleichsweise kleine Gruppe der anthroposophischen Ärztinnen und Ärzte konnte sich 1933 bis 1945 nur sehr bedingt der katastrophalen Entwicklung entgegenstellen. Die 1500 erhaltenen Patientenakten des Sanatoriums Wiesneck desselben Zeitraums sprechen dennoch eine deutliche Sprache, auch die Berichte aus der anthroposophischen Heilpädagogik. Sie zeugen vom Geist einer anderen Medizin und Menschlichkeit. Keinesfalls waren jedoch alle anthroposophischen Ärzte im Widerstand – und das Spektrum zwischen Ita Wegman und Traute Lafrenz auf der einen Seite und Sigmund Rascher auf der anderen war groß, in Person und Verhalten, Urteilskraft und Moralität. «Solange eine Lehre nur eine Lehre bleibt, entstehen keine Schwierigkeiten», schrieb Ita Wegman am 16. Januar 1935 in einem ihrer klugen Briefe.7 Die Lehre der ‹Menschenkunde› in der Zeit ihrer totalen Verschattung zu leben, ist herausfordernd.


Präsentation
Der erste Band unserer Studie wurde am 23. Mai 2024 in Berlin im medizinhistorischen Hörsaal der Charité, an der alten Wirkungsstätte Rudolf Virchows, mit einem wissenschaftlichen Podium der Presse vorgestellt.


Buch Peter Selg, Susanne H. Gross, Matthias Mochner: Antroposophie und Nationalsozialismus. Die anthroposophische Ärzteschaft. Schwabe Verlag, 2024.

Titelbild Geheimes Staatspolizeiamt (später Reichssicherheitshauptamt), 1933. Berlin, Prinz-Albrecht-Straße 8. Quelle: Bundesarchiv.

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Footnotes

  1. Vgl. J. Ebert, S. zur Nireden, M. Pieschel, Die biodynamische Bewegung und Demeter in der NS-Zeit. Berlin 2024.
  2. Vgl. U. Werner, Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus (1933-1945). München 1999.
  3. Zit. n. P. Selg, S. H. Gross, M. Mochner, Anthroposophie und Nationalsozialismus. Die anthroposophische Ärzteschaft. Basel 2024, S. 304.
  4. RSHA (Hg.): Die Anthroposophie und ihre Zweckverbände. Berlin 1941.
  5. Rudolf Steiner, GA 175, 31996, S. 176.
  6. Alexander Mitscherlich, Gesammelte Schriften. Band 7. Frankfurt a. M. 1983, S. 426.
  7. An Franz Löffler. Ita Wegman Archiv, Arlesheim.

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