Anthroposophie und Demokratie

In jüngster Zeit wurde die Anthroposophie häufig antidemokratischer Affekte verdächtigt. Dabei haben die Wesensgesten von Demokratie und Anthroposophie viel gemeinsam. Es lohnt sich, Staatsform und Weltanschauung miteinander zu vergleichen.


Kürzlich stellte der Journalist Jens Jessen die These auf, in der aktuellen «Demokratiesorge» drücke sich «vor allem eine zunehmende Feindseligkeit der Wähler gegeneinander [aus]. Sie zweifeln nicht am Funktionieren der Demokratie, sondern verzweifeln am Wahlverhalten der anderen. Sie verwechseln das Demokratische mit dem politisch Wünschenswerten – und das Nichtwünschenswerte erscheint ihnen undemokratisch. […] Nicht der demokratische Staat ist in Gefahr, sondern unser Demokratieverständnis ist tendenziös und parteilich geworden.» Kern der Demokratie sei ein «Formalismus»: «die Entscheidung über alle möglichen Politiken offen und für möglichst alle Bürger beeinflussbar zu halten».1

In der Tat fußen Demokratie und Anthroposophie beide auf einem Menschenbild der Partizipation, der individuellen Freiheit und der Toleranz. Sie sind, wie Willy Brandt es für die Demokratie akzentuierte, Wagnisse – und machen sich dadurch angreifbar. Sie vereinfachen nichts, sondern stellen sich der Komplexität von Welten und Milieus, von Sichtweisen, Meinungsbildungsprozessen und Verstehensvoraussetzungen, der Komplexität von Bürgern, Bürgerinnen, Menschen. So wie sich Anthroposophie weniger über bestimmte Glaubensinhalte definiert, vielmehr eine Methode des Weltzugangs darstellt und eine Erweiterung menschlicher Erkenntnismöglichkeiten, so offenbart sich auch das Wesen der Demokratie weniger im Herbeiführen bestimmter inhaltlicher (Wahl-)Ergebnisse als darüber, überhaupt frei wählen zu können und dies jedem und jeder vollkommen selbst zu überlassen. Knapper formuliert: Beide sind vom Wesen her duldsam und ermöglichend, freilassend und prozessual. Sie sind Wege, nicht Ziele. Ihre Form ist der Inhalt. Sie sind Methoden – auf dem Feld des Wissens und dem des sozialen Zusammenlebens –, dem Menschsein in seiner Heterogenität und Potenzialität gerecht zu werden. Sie garantieren keine Automatismen, sind nicht ewige Quellen des Friedens oder statischer Wahrheit, sondern machen sich letztlich abhängig davon, wie der Einzelne die von ihnen bereitgestellten Möglichkeiten be- und ergreift. Sie kennen Ambivalenz und Ambiguität. Sie dienen – und beanspruchen keine Macht für sich selbst.

Hart im Nehmen, weich im Geben

Während die Demokratie vitaler würde, wäre sie direkter, besteht die Kraft der Anthroposophie im Indirekten: nicht in einem überlieferten alternativen Bildungsgut oder dem, was sie behauptet und lehrt und worüber man sich von außen allzu leicht erheben kann. Sondern in dem, was sie jeweils neu bildet und erzeugt, wozu sie ermutigt: nämlich den eigenen Weg zu gehen und sich unbefangen für den des anderen zu interessieren – im Vertrauen, dass sie beide letztlich von einem ausgehen und in einem münden. Es ist die Natur solchen Vertrauens, dass es keiner Voraussetzungen bedarf. Es bezieht sich rein auf das Menschsein des anderen.

Seit der Coronazeit gab es hier einen Vertrauensverlust. Innerhalb der anthroposophischen Bewegung verzweifelten die einen über das öffentliche Verhalten der anderen. Sie distanzierten sich von diesen aus Sorge um den Ruf der Bewegung. Der Konflikt ging einher mit Ausgrenzung auf der einen Seite und Selbststilisierung auf der anderen. Dabei ist es weniger die pluralistische Gesellschaft, die diffuse ‹Außenwelt›, vor der man als Anthroposoph so oft meint, sich rechtfertigen zu müssen. Es sind eher die Vertreter gewisser Interessen, die über die Medien eine entsprechende Stimmung herbeiführen. Der Mitbürger, den man beim Freizeitsport trifft, reagiert gelassen darauf, dass man Waldorflehrer ist. Er mag Fragen haben, einem anderen Milieu entstammen – aber hat sein Kind im Waldorfkindergarten angemeldet. Und in der Tat: Warum sollte es generell fragwürdig sein, sich mit Steiners Werk zu befassen? Genauso wie es keinen stören muss, wenn man nicht heterosexuell liebt. Beides gehört zur Vielfalt des Bürger-Seins; dass Biografien gegeneinander in den Krieg ziehen, wäre zumindest neu.

Demokratie gibt, ohne sich abzusichern, was herauskommt. Sie muss hart im Nehmen sein, weil sie weich im (Raum-)Geben ist. Sie lässt wählen, aber nicht sich oder: darin ‹sich›. Sie maßregelt nicht, wie jemand sein Wahlrecht interpretiert. Erst beim «Selbstwiderspruch» (Jessen), wenn eine Partei, die von der Demokratie profitiert, zugleich gegen sie agitiert, wehrt sie sich. Auch die Anthroposophie hält aus, dass Menschen Dinge für anthroposophisch halten, die es nicht sind. Trotzdem wird sie stets zurückweisen, wenn man ihre Praxisfelder lobt, doch den geistigen Kern ihres Wesens verrät. Nur, wer bestimmt, wann dies der Fall ist?2 Problematisch wird es sowohl bei der anthroposophischen Identitäts- als auch der demokratischen Meinungsbildung, wenn Moral kombinatorisch wird: Wer das und das tut oder vertritt, «kann kein Anthroposoph sein». Wer so und so redet, «ist ein Rassist». Subjektive Gemüts- oder Verstandeslogik können darüber nicht entscheiden, da sie die (scheinbar) paradoxe Geste der beiden Wesen verkennen. Es ist nicht undemokratisch oder dogmatisch, zu empfinden, dass gerade Steiners Werk den zentralen Zukunftsimpuls für die Zivilisation gesetzt hat und alles andere, im Kern, letztlich dahinter zurückbleibt. Wäre das so unerträglich? Und wäre es – umgekehrt – für die davon Überzeugten unerträglich, wenn sich heute trotzdem neue gesellschaftliche Gewohnheiten etablierten, etwa auf dem Feld der Sprache, die man mit manchen Aussagen Steiners zunächst nicht in Einklang zu bringen vermag?

Den wahren Überblick hat nur der die ganze Menschheit im Bewusstsein tragende Christus.

Als Demokrat gilt es zu verinnerlichen, dass die Freiheit des Andersdenkenden nicht nur den meint, der etwas anderes denkt, sondern der auf eine andere Weise denkt. Und kein Anthroposoph muss es gleich verdächtig finden, wenn über manche Dinge durchaus keiner quer-, sondern alle mehr oder minder ähnlich denken. Ich kann offenbleiben für die ‹Moves› des Zeitgeists, auch wenn ich sie (noch) nicht verstehe oder noch hafte an dem, was mir stets natürlich erschien. Es ist kein Widerspruch, skeptisch zu sein und zugleich loyal zur Menschheit. Ausdruck solch ‹wachen› Vertrauens ist das Gespräch: das unbedingte Interesse am Erleben, an der Meinung und am Ich des anderen. Im besten Fall werden beide Wesen, Demokratie und Anthroposophie, immer freier sich selbst gegenüber und stimmen so immer tiefer mit sich selbst überein. Anthroposophie ist das souveräne Bewusstsein des eigenen Menschentums und Demokratie das souveräne Bewusstsein des eigenen Bürgertums. Demokratie muss Anthroposophie ertragen und Anthroposophie Demokratie.


Bild Siena Nisavic

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Footnotes

  1. Obacht, da kommt was. In: Die Zeit, Feuilleton, Nr. 12/14.03.2024.
  2. Vor diesem Hintergrund kritisiert Jens Jessen als Willkür, dass AfD-Mitglieder des Kulturausschusses entgegen der protokollarischen Regeln von der Berlinale ausgeladen wurden.

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