Wer die Trias ‹Maß, Zahl und Gewicht› heute hört oder verwendet, meint meistens zahlenmäßige Quantität statt wesensmäßiger Qualität. Aber hinter den Begriffen verbergen sich andere: Verhältnis – Individualität – Bedeutung. Man könnte auch sagen: Beziehung – Eigenheit – Wirkung.
Seit Palamedes im 5. Jahrhundert kennt man die Begriffsgruppe aus griechischer Dichtung und Philosophie. Eventuell denken einige auch an die Bibel. Die Weisheit Salomos, Kapitel 11, Vers 21: «Aber du hast alles geordnet mit Maß, Zahl und Gewicht. Denn großes Vermögen ist allezeit bei dir, und wer kann der Macht deines Armes widerstehen?» Oft scheint das zitiert, um sich gerade abzusetzen von vermeintlich darin steckendem Materialismus, Mechanismus und Mathematismus. Dem wird entgegengehalten zum Beispiel die Stimmung von Novalis’ Gedicht ‹Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren […]›.
Wer aber eine Fläche füllt – zum Beispiel die abgebildete Parabel als Adventskalender mit Sternen – und dabei genau achtgibt, kann Folgendes bemerken: 1. Als Erstes fühlt man die Verhältnisse des Ortes – in welche Verhältnisse setzt man den neuen Stern, durch Winkel und Abstände. (Der erste Stern setzt Verhältnisse zum gesamten Platz und zum Zeitpunkt: markiert er mit dem 1. Dezember zugleich den 1. Advent, macht das einen ‹Hauptort› in der verfügbaren Fläche wahrscheinlicher, sonst wird wohl eher ‹nebensächlich› begonnen.) Das ist das Wesen des Messens: sich ins Verhältnis setzen, Beziehung eingehen. Ein Ding ist so hoch wie oder größer als – dass wir heute gewöhnlich ins Verhältnis zum universalen Meter setzen, dient sachlicher Verständigung sehr, verschleiert aber das eigentliche Tun. In der Negation wird es deutlich: ‹maßlos› heißt immer ‹unverhältnismäßig›. 2. Als Zweites erst erwacht die Frage nach der Eigenqualität des Sterns – welche individuelle Gestalt hat er, welche Farbe, wie viele Strahlen? Das ist die Frage nach der Zahl: Was hast du selbst zu erzählen? Was warst du schon vorher, bist du Kraft eigenen Wesens, unabhängig von aktuellen Verhältnissen? Primzahl, ‹befreundete Zahl›, Quersumme von. (Man studiere Zahlentheorie, z. B. ‹Null, unendlich und die wilde 13: Die wichtigsten Zahlen und ihre Geschichten› von Albrecht Beutelspacher. Oder man vergegenwärtige sich die kabbalistische Weltauffassung.) 3. Zuletzt entsteht die Wichtung – was bewirkt und bedeutet dein Sein an dieser Stelle zum jetzigen Zeitpunkt, für die anderen Sterne drum herum? Es entstehen Gruppierungen, bilden sich Gestalten, Sternbilder leuchten.
Mir war es immer wieder ein Wunder, wie deutlich das Gefühl für einen bestimmten Platz sprach. Woher kommt solche Stimme? Selten gab es Zweifel. Nur manchmal hatte ich einen Stern gegriffen, der am Ort der Wahl nicht recht passen wollte. Wenige ‹Gefahren› zeigten sich dabei: eine langweilig gleichmäßige Flächenfüllung könnte drohen oder zu starke Gestalten könnten zwingend wirken. Nie gab es ein gleichmäßiges Raster.
Unter uns
Nicht anders geht es im Sozialen. 1. Neues misst zuerst sich ein, tritt ein in Verhältnisse, in Winkel – als Onkel und Enkel, das Kind als Tochter oder Sohn. Oder jemand tritt zu einer Gruppe hinzu. Da wählt, wer geschickt ist, die offenste Seite. Fragend tastet der maßvoll nähernde Schritt, wartet auf öffnende Gesten des Willkommens, setzt so sich in Beziehung, schafft klare Verhältnisse. Vermessen scheint es und maßlos, als Neuling die erhöhte Mitte zu besetzen. Unangemessen kann es sein, zu weit außen zu bleiben oder sich privatisierend nur einem der Gruppe zuzugesellen. 2. Nach gutem Einmessen erst zeigt der maßvolle Neuling der Gruppe seine eigenste Kraft, trägt bei aus individuellem Vermögen. Dann erst offenbart sich innerhalb der Verhältnisse und da heraus die Individualität, als Ich und Du! 3. Zuletzt lässt sich ermessen Bedeutung und Gewicht – und jede Epoche gewichtet neu. Manch Künstler kommt posthum erst zu Ehren, was kein Politiker sich leisten kann.
Mensch und Bau
Wer baut, weiß: Hier wird gemessen. Man griff zum Zollstock, greift heute zu Gliedermaßstab oder Maßband. Es geht auch anders – zuerst ist der Mensch selbst das Maß, nimmt Maß mit Spann, Elle und Fuß, zählt laufend die Schritte. Immer wieder ist es ein Erlebnis, dass Messen ohne Zahlen geht! Man hält eine Latte an und greift damit eine Länge ab, überträgt diese, setzt in Verhältnis der Gleichheit. Oder man stellt die Winkelschmiege ein, überträgt gleichermaßen einen Winkel. Und noch elementarer: Die Senkrechte trägt jeder in sich – leicht lässt sich ein Werkstück lotrecht stellen. Man setzt es ins Verhältnis zu seinem eigenen Ich. Das geht mit Augenmaß genauer als per Wasserwaage.
Wird die Neigung der Seiten einer Wiege oder eines Bettes eingestellt, braucht es keinen Winkelmesser. Niemand möchte sein Kind zwischen senkrechte Wände legen, da «rutscht es doch durch». Das wäre wie ‹Einsargen›. Keiner stellt so steil die Wände. Auch zu weit soll es nicht werden. Der Wiegenraum als solcher möchte erfassbar sein, nicht unendlich offen sich oben verlieren. Winkel sind Neigungen. Zuneigung, Abneigung. Verhältnisse sind immer gemeint. Was angemessen ist, das wird gesucht.
Buchhaltung
Man hat da einen Vorgang, das ist zunächst nur Stoff, unspezifisches Material. 1. Am Anfang steht die Kontierung – das Feld wird vermessen, Sinngruppen werden eingemessen. Für einen aktuellen Vorgang wird das Konto in der richtigen Kontengruppe bestimmt. Das ist die Suche nach dem rechten Ort, damit das Verhältnis zu allem anderen, zum Gesamten bestimmt wird. Das ist das Messen. 2. Als Zweites interessiert die konkrete Eigenqualität dessen, was gebucht werden soll – was erzählt die Sache selbst? Das ist die Zahl! Manchmal fügt sich ein Vorgang recht genau in ein vorgesehenes Feld, in ein bereitgehaltenes Konto. Oft genug ist die Kontierung jedoch nicht 100 Prozent klar. Manches kann so oder anders angeschaut werden. Kategorien haben grundsätzlich unscharfe Ränder. Zu diesem zweiten Teil gehört natürlich auch die Zahl als der Eigenwert und der neue Kontostand. 3. Zuletzt wird gewichtet, das geschieht mit der Bilanzierung, da erhält jeder einzelne Kontostand seine Bedeutung fürs Ganze. Passt?
Kinder
Kinder messen zuerst ganz äußerlich: «Die hat aber mehr!» So beginnt das Messen im Leben, keine Frage. Wie viel ist in ihrem Schüsselchen im Verhältnis zu meinem? Erst später erwacht der Blick darauf, was zählt: wer was zu erzählen hat, zum Beispiel wie viel Hunger sie hat, oder dass ihr der Schokopudding nicht schmeckt. Jede isst anderes, jeder ist anders. Die Eigenarten zählen. So verschieden sind die Menschen, jeder zählt, ist seine eigene Zahl! Und zuletzt erst entsteht Sinn für Wichtung: Wem tut was wann und warum gut? Und das im Verhältnis zu beidem: zum Eigenen nach Bedarf und Möglichkeiten, zur Umgebung mit allen Aspekten.
Bilder Peter Zimmer