Ein Wollen zum Zukünftigen

Als irdischer Mensch pendle ich zwischen Hoffnung, Wunsch, Erwartung, Frustration und Verzweiflung. Auf meinen Werdegang zurückblickend frage ich mich: Wie hast du die Lebensherausforderungen bzw. -krisen gemeistert, sodass dein Leben sich von einem Zustand zum anderen metamorphosiert hat und du wachsen konntest? Die Antwort heißt: durch Hoffnung. Ich habe nicht etwas erhofft, sondern ich habe gehofft. Wenn ich ‹auf etwas› gehofft hätte, könnte das Wort ‹hoffen› durch ‹wünschen› oder ‹erwarten› ersetzt werden und es verlöre seinen Sinn. Im Grunde hat die Hoffnung keinen Inhalt; sie ist noch voller Substanz. In diese innere Tat des ‹Hoffens› tauche ich ein und kann in ihr nichts finden – doch ich werde erwärmt und von etwas Zukünftigem angezogen. Woher stammen diese Wärme und diese Anziehungskraft? In meinem Innern taucht das Bild eines kleinen Kindes auf, das gehen lernt. Bei den ersten Versuchen, sich aufzurichten, fällt es unzählige Male hin, steht immer wieder auf und versucht es von Neuem. Was geschieht zwischen einem Fall und einem neuen Versuch? Das Kind verfügt über keinerlei Sicherheit, dass sein Versuch von Erfolg gekrönt sein wird. Warum steht es trotzdem immer wieder auf?

Weil es sich von etwas Zukünftigem angezogen fühlt, das es erwärmt und ermutigt. Das Hoffen und das Angezogensein sind wie zwei Seiten einer Medaille: eine vom Aktiven und Jetzigen her betrachtet, die andere vom Passiven und Zukünftigen. Wir alle haben das Aufstehen erlernt und den Rhythmus vom Fallen und Sich-Erheben erlebt – dieses Lernen hat sich unbewusst und von instinktivem Lebenswillen erfüllt vollzogen. Gibt es ein geistiges Aufstehen? Das Tier bewegt sich horizontal und kann sich nicht aufrichten (lassen) – es hat keine ‹Ich-Organisation› und wird nicht vom Himmlischen in die Aufrechte geleitet. Ein körperliches Ich muss sich der Mensch während einigen Monaten erringen, aber ein geistiges Ich? Ein ganzes Leben reicht vielleicht dafür nicht aus. Was kann uns in diesem Lernprozess treu begleiten und uns frische Kraft verleihen, damit wir immer weiter versuchen, uns aufzurichten, Fehler zu machen und unsere seelischen Grenzen zu durchbrechen bzw. zu erweitern? Die Hoffnung.

In frühchristlicher Zeit und im Mittelalter ist die Hoffnung unmittelbar mit Glauben und Liebe verbunden gewesen, im Zeitalter der Bewusstseinsseele geht sie nun eher mit von Liebe durchdrungener Erkenntnis einher. Den Drang, sich innerlich aufzurichten und sich zum Ideal hin zu entwickeln, verspürt jeder Mensch, nur wird der Entwicklungsgang gelegentlich unterbrochen oder blockiert. Dieser Drang klopft an jedes Herz – unermüdlich. Leider sind wir aufgrund von Nebengeräuschen oft nicht mehr in der Lage, hinzuhören. Hoffnung bedingt aber, Zukünftigem lauschen zu können. Hoffen und Erkennen fördern und befruchten sich gegenseitig. Das Hoffen bringt dem Erkennen eine Sehnsucht und eine Hülle, nämlich eine Gebets- und Gnadenstimmung entgegen, während das Erkennen dem Hoffen eine tiefe Einsicht in das ‹Hier und Jetzt› sowie die Zukunft verleiht. Es sollten hoffendes Erkennen und erkennendes Hoffen als Zwillinge geboren werden.

Hoffen ist eine Zauberkraft, die dem Menschen ermöglicht, Widerstände als Schmelztiegel zum Schmieden des Willens nutzbar zu machen und den Lebensschatten in kostbare Erfahrungsnahrung umzuwandeln. Hoffen führt mich mit Wärme abends ins Jenseits des irdischen Lebens und lässt mich am Morgen mit frischen Kräften aufwachen. Hoffnung ist die Morgen- und Abendröte.


Illustration Gilda Bartel

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