Was braucht es, um in einem Moment völliger Verzweiflung innere Stärke zu finden? Es ist unsere merkwürdige menschliche Fähigkeit, uns wieder aufzurichten, uns vom Staub zu befreien und es erneut zu versuchen. Es bedarf eines Willens, der oft erst dann in einen Menschen dringt, wenn er schon aufgegeben hat, wenn die Chancen schlecht stehen. Er taucht in jenem Moment der Gnade auf, wenn ‹alle Hoffnung verloren ist›, aber aus Herzenstiefe der Impuls zum Weitermachen kommt.
Ich denke oft an das Foto vom Januar 1923 mit der feierlichen Gestalt, die auf den Ruinen des Ersten Goetheanum steht – ein tiefes und überzeugendes Zeugnis für die Vergänglichkeit der materiellen Welt. Es löst ein eindringliches, intuitives Empfinden von Verlust und Zerstörung aus. Menschen aus 17 Nationen arbeiteten neun Jahre lang an diesem Bau, der in einer Welt am Rande des Krieges nur für eine flüchtige Weile Bestand hatte. Vielleicht war die Vergänglichkeit selbst Teil der Erlebbarkeit dieses Bauwerkes, wie bei einer Sandburg oder einer Blüte.
Zur Zeit des Neubaus des Zweiten Goetheanum herrschte in der Welt eine große Feindseligkeit gegenüber der Anthroposophie. Der Wiederaufbau war ein kühner Akt von Hoffnung und Trotz zugleich. Rudolf Steiner hatte weder Angst, noch zögerte er angesichts der totalen Zerstörung, als ob es keine andere Frage gäbe, als weiterzumachen – ein Sinn für die innewohnende Güte und den Lebensauftrag und ein Schritt, als ob er die Zukunft herbeiruft, damit sie im unmittelbaren Augenblick geschieht. Das Wesen dieses Bemühens ist nicht flexibel oder nachgiebig, es ist eisern und begleitet von uneingeschränktem Vertrauen in das Potenzial der Zukunft und in die Gemeinschaft der Hüter, die am Weitermachen beteiligt sind.
Eine latente, aber wesentliche Willenskraft in der menschlichen Konstitution treibt uns voran. Obwohl manchmal unentdeckt, gibt es Zeiten, in denen eine Reihe biografischer Umstände, die durch unsere eigenen Anstrengungen beschleunigt werden, unsere Resilienz offenbaren und aktivieren. In der Natur staune ich darüber, dass sie keine andere Wahl hat, als ihre Kräfte zu leben – Kräfte, welche die Blätter im Herbst von den Bäumen fegen oder sie im Frühling wieder erneuern. Die aktive Anregung ist in der Natur so ganzheitlich und offensichtlich, dass sie die ganze Atmosphäre durchdringt. Wir sehen sie in den Momenten, in denen die Knospe aufwacht und durch den Frost bricht, der Same aus seinem Schlummer zum Sprießen gebracht wird. Ich spüre sie als Mut der Gewissheit, gemischt mit einer tiefen Sehnsucht.
Die Entschlossenheit des Willens, die als formende Kraft in der Natur sichtbar wird, spiegelt sich als Hoffnung im menschlichen Wesen wider – eine heilende Kraft, die den physischen Körper formt und die Seele zum Erwachen einlädt. Die Entwicklungsreise unserer Seele erwacht im Wechsel von Harmonie und Zerwürfnis, von Liebe und Verlust, im Wechsel der Jahreszeiten. Wie die erneuernde Kraft in der Natur ist der Drang, mit Ausdauer, Eifer und Erwartung vorwärtszugehen, unserer konstitutionellen Natur angeboren. Er wird umso mehr geweckt, wenn er zwischen Menschen geteilt und in der Gemeinschaft genährt wird.
Diese Woche hielt ich inne, um zu sehen, wie das Goetheanum und die Umgebung mit dem ersten Schnee der Saison bedeckt wurden. Ein so tiefer Frieden entstand in mir, als der Schnee am Abend fiel und die Erde still wurde, aufnahmefähig und ruhig. Ich begrüßte den nächsten Tag aufgeregt. Die Landschaft glitzerte in einer weißen Decke und die Kinder waren mit ihren Schlitten unterwegs und genossen es. Es war ein freudiger Moment in seiner Schönheit und Kürze. Ich wusste, dass der Schnee nicht lange anhalten würde und der Moment, ihn zu genießen, nicht aufgeschoben werden konnte. Es war ein Moment, um sich ganz und gar hineinzuleben; inmitten einer unsicheren, beunruhigenden Welt zum Guten und zur Erneuerung genötigt, die schon in der Atmosphäre und in der Erde selbst lebendig sind.
Illustration Gilda Bartel