Zeitenwende in Eleusis

Die Mysterien von Eleusis bei Athen waren die ‹Mysterien der Mysterien›. Ihre Inhalte beruhen auf dem Mythos vom Raub der Persephone durch Hades, den Gott der Unterwelt, dem Trauern der Mutter Demeter um die Tochter und dem damit einhergehenden Unfruchtbarwerden der Erde sowie deren neuerlichem Auferblühen, nachdem Persephone wieder auf der Erde erscheint. Der Eintritt der Seele in das Reich des Todes und die Überwindung des Todes sind das zentrale Thema jeder Einweihung.


In der griechischen Weltanschauung, so Rudolf Steiner, bedeutet der Gang in die Unterwelt (die ‹katábasis›) «Überwindung des Vergänglichen und die Auferweckung des Ewigen in der Seele».1 Im griechischen Mythos ist es ein wiederkehrendes Motiv. Orpheus steigt in den Hades, um die verstorbene Eurydike zurückzuholen. Herakles rettet Alkestis vor dem Tod. Odysseus tritt in den Hades ein, um von Teiresias seine Aufgabe zu erfahren. Wie Rudolf Steiner formulierte, ist dies «das Hinabsteigen in die Unterwelt […] das Eingeweiht-Werden in die Mysterien, das Überschreiten der Pforte des Todes schon während des Lebens».2

Das wechselseitige Überschreiten der Pforte des Todes während des Lebens ist im Mythos um Demeter und Persephone das eigentliche Thema. Demeter erreicht auf der Suche nach ihrer von Hades geraubten Tochter Eleusis und arbeitet verhüllt als Pflegerin des Königssohnes Demophon. Sie will ihm Unsterblichkeit verleihen und hält ihn dazu nachts ins Feuer. Als die Königin-Mutter dies gewahr wird, erschrickt sie, weint und klagt, sodass Demeter sich als Göttin offenbaren muss und den Sohn nicht weiter pflegen kann. Daraufhin zieht sie sich trauernd in ihren Tempel zurück, bis Zeus zulässt, dass Persephone zu ihr zurückkommt und fortan ein Drittel des Jahres in der Unterwelt als Gattin des Hades lebt und zwei Drittel des Jahres bei ihrer Mutter auf der Erde.

Demeter stiftet für ihren Tempel die heiligen Weihen, die jedes Jahr im Frühjahr begangen werden. Es sind geheimnisvolle Mysterien: «Keiner darf sie je verletzen, erforschen, verkünden; denn große Ehrfurcht vor den Göttern lässt Menschenrede verstummen. Selig der Erde bewohnende Mensch, der solches gesehen!», heißt es in der homerischen Hymne. Deutlich wird: Eleusis ist der Ort der Einweihung in die Mysterien, des Grundschicksals der Seele. Denn «unschwer erkennt man den Sinn des Demeter-Persephone-Mythos. Was abwechselnd in der Unter- und der Oberwelt ist, das ist die Seele. Die Ewigkeit der Seele und deren ewige Verwandlung durch Geburt und Tod hindurch wird im Bilde dargestellt.»3

Erdenmysterien

Rudolf Steiner spricht im zehnten Vortrag in ‹Mysteriengestaltungen› (GA 232) von Eleusis als «chtonische» Mysterien, als Mysterien der Erde, zugleich sah er die Mysterien des Kosmos mit Eleusis verbunden. Sie waren Mysterien der Erde wie des Himmels. Die Unsterblichkeit der Seele war in der alten Welt vertraut. Aber die Erfahrung, was das Erdenleben für die Seele bedeutet, wenn sie nach dem Tode vom Leib sich löst und in die geistige Welt eingeht, war eine Sorge. Wird sie nicht nur ein Schatten, eine Erinnerung an das Erdenleben sein – «lieber ein Bettler auf der Erde, als ein König im Hades»44

Bei Plutarch, Priester von Delphi, finden wir in ‹Vom Gesicht im Mond› den Unterschied zwischen dem Tod von Demeter und dem Tod von Persephone. Der erste Tod trennt beim Menschen auf der Erde die Seele vom Leib, der zweite auf dem Mond den Geist von der niederen Seele. Demeter, die lebendige Natur, geht beim ersten Tod verloren. So sind wir ohne physischen Leib, ohne Lebensleib, im Hades getrennt von Demeter. Plutarch sieht, dass der Mensch zum zweiten Mal sterben muss: Er muss seinen Geist von dem niederen Seelenglied trennen, das ihn an das Schattensein bindet. Er trennt sich von Persephone – oder sie oder Hades lässt ihn frei. So haben wir eine philosophische Formel für das Grundmysterium. Wenn Demeter trauert, so stirbt die fruchtbare Natur, die Äcker verdorren. Sie lebt wieder auf, wenn Persephone aus dem Hades zu ihr kommt. Aber nicht dieses jährliche Sterben und Wiederaufleben der Natur ist das Geheimnis, sondern wohin die Seele geht, und ‹wie› es ihr nach dem Tod im Reich von Persephone und Hades ergeht.

Bekannt, doch nicht erkannt

Über die eleusinischen Mysterien wissen wir sehr wenig. Das Schweigen über sie wurde bis auf wenige Ausnahmen unter den frühchristlichen Autoren nicht gebrochen. Die Mysterien von Eleusis waren ein geistiger Mittelpunkt der alten Welt. Nicht nur Athener, wie anfänglich, sondern auch andere Völker, wie die Römer, suchten in späteren Epochen in Eleusis eingeweiht zu werden. Cicero, selbst, Eingeweihter von Eleusis, sagte: «Ich schweige über das heilige und ernsthafte Eleusis, wo die Völker der ganzen Welt die Einweihung suchen.» (‹De natura deorum›, Buch I, XLII). Gleichwohl war allgemein bekannt, dass die Mysterien von Eleusis von Demeter, Hades und Persephone handelten, auch wenn nicht darüber gesprochen wurde. Ihr Mythos stand sogar am Himmel mit dem Sternbild von Virgo mit Spica, der Ähre, – ein Mysterienbild aus Eleusis.5

Die Mysterien von Eleusis sind dennoch der «bestdokumentierte griechische Kult», der tausend Jahre gefeiert wurde (bis zur Zerstörung ihres Heiligtums 396 n. Chr.).6 Wir kennen die zugehörigen öffentlichen Feste in Athen, die Züge auf der heiligen Straße nach Eleusis und dass es am Fluss Ilissos im Februar die kleinen und in Eleusis im September die großen Mysterien gegeben hat. Bei den kleinen Mysterien im Februar opferte man und reinigte sich (bei den Römern hieß dieser Monat ‹februare›, was reinigen meint). Es dürfte auch in einem Festspiel die Ehe von Persephone und Dionysos gefeiert worden sein. Im September (beim Erntefest) konnten die ‹mystai› (Eingeweihten) von den kleineren Mysterien an dem großen Zug nach Eleusis teilnehmen, der neun Tage gedauert haben soll. Am Ende war der zugelassene Myste ‹epoptai› geworden. Er hatte die Mysterien im ‹telesterion›, dem Bühnenhaus der Weihen, geschaut oder in dem Haus der ‹Vollendung› (‹telete›) die Einweihung ‹vollendet›. Die Mysten hatten durch die Einweihung ihr Ziel (‹telos›) erreicht.

Man vermutet, dass der Demeter-Hymnos im Telesterion dargestellt wurde. So schließt Rudolf Steiner: «Die symbolische Darstellung des Welt- und Menschendramas bildete den Schlussakt der Mystenweihen.»7

Die zentrale Stellung von Eleusis

Eleusis liegt auch nicht weit von Delphi entfernt, welches für die Griechen der Omphalos, der Nabel der Welt, war. Diese mittlere Stellung von Eleusis spricht für sich. Wir finden die drei bedeutendsten Orakel – Dodona, Olympia und Delphi – westlich gelegen, und die drei Mysterien – Eleusis, Samothrake und Ephesos – östlich. Die Orakel waren die Stimmen der olympischen Volksgötter, der Himmelsgötter. Die Mysterien dagegen standen chthonischen (irdischen) Göttern oder Halbgöttern und Heroen nahe (den Dioskuren, Herakles und Theseus) und befanden sich im Bereich eines Bergs, eines Baums (Walds) oder einer Höhle.

So befand sich das älteste Orakel von Kronos am Fuße des Kronoshügels. Das Orakel von Zeus in Dodona offenbarte sich in den sprechenden Eichenbäumen im Nordwesten. Das Orakel von Apollo in Delphi lag über einer Erdspalte. Diese Folge der Orakel stellt drei Generationen der Götter dar: Vater Kronos, dann Zeus, dann Apollo – Abstieg des Menschen auf die Erde. Das Kabiren-Mysterium lag auf der Berg-Insel Samothrake. Von lichtem Wald umgeben war der Tempel der Artemis von Ephesos, der Göttin des Mondes, des Werdens, der Geburt, auch der Jagd. Das Telesterion in Eleusis war neben einer Höhle gebaut, dem Heiligtum des Hades. Inmitten des Telesterions stand das Anáktoron, ein Gebäude, das über einer unterirdischen Gruft errichtet wurde, aus der während des Weiheaktes die Persephone-Figur heraustrat, die Rückkehr zu ihrer Mutter darstellend. Eleusis kann als Mitte zwischen Berg und Höhle und zwischen Ost und West bezeichnet werden. Vor allem, wenn man bedenkt, dass, in einer Variante, der Mythos vom Raub der Persephone sich angeblich auf Thrinakia (Sizilien) vollzogen haben soll und Eleusis damit nach Westen dorthin geblickt hätte. Das orphische Motiv stammt aus Nordthrakien. Dionysos kam auf seinem Zug nach Indien vom Osten, sodass Eleusis einen Kreuzungspunkt bildet. Der Gründer von Athen soll König Kekrops aus Ägypten gewesen sein, der, nach Herodot, die Isis-Mysterien nach Eleusis brachte, die später zu den Demeter-Mysterien wurden. In die Mysterien von Eleusis mündeten so Elemente aus allen Himmelsrichtungen.

Chthonische Götter: Erde und Meer – Demeter und Poseidon

Eleusis ist noch aus einer weiteren Perspektive als Mitte zu verstehen. Denn sowohl auf der Erde als auch auf dem Meer walten die chthonischen Götter, verkörpert durch Demeter und Poseidon. Poseidâon hieß er ursprünglich, von ‹Poteidâ-on› oder ‹Gatte der Dâ› herkommend. Man vermutet, Dâ oder Dâ-Mater sei Gaia, die Erden-Mutter, denn Poseidon trug auch den Namen ‹Gaie-ochos›. So versteht man, dass Poseidon auch der ‹Erderschütterer› ist, der die Erde ‹bewegt› (‹ocheei›), das heißt zum Beben bringt, oder auch die Erde ‹hält› (‹echei›) – ebenso wie der Hafen, die Schiffe und das Meer das Land umfassen, dessen ‹ochos› (Schützender oder Mann) er ist.8 So gehören das Wasser im Boden und das Wasser in der Tiefe ihm. Denn kein Land kann ohne Wasser fruchtbar sein. In der Mysterienfeier sang man daher in Eleusis ‹hyé-kyé› – regne (Himmel), empfange (Erde).9

Die Kultur des alten Ägypten war durch den Nil, einen Fluss, der von Land umgeben war, bestimmt, während in Griechenland die Kultur sich wie ein Gegenbild auf einem vom Meer umgebenen Land entwickelte. So kann die griechische Kultur als vierte nachatlantische Epoche – nach Rudolf Steiner als eine kulturhistorische Erinnerung an die vierte Erdenepoche von Atlantis – empfunden werden, wo Poseidon im Wasserwesen und Demeter in dem üppigen Lebenskräftewirken herrschten.

Mythisch betrachtet ist Poseidon auch der Vater des Eumolpos. Seine Mutter ist Chione, die seine Geburt verheimlichte und ihn in das Meer warf, wo ihn sein Vater Poseidon empfing und zu seiner Schwester bringen ließ, die ihn aufzog. Er wurde später der König von Thrakien und diente als Hierophant bei den Mysterien von Eleusis. Sein Name (Eumolpos, der schön Singende) dient als Hinweis auf die dramatische Form der Mysterien. Die Tiefen des Meeres bargen schon vor der Herrschaft von Poseidon Geheimnisse, die darauf zurückgingen, dass sich unter den Okeaniden eine Göttin mit dem Namen Telesto befand, die als eine Göttin der Mysterien (‹teletai›) bekannt wurde. Demeter und Poseidon sind somit die chthonischen Götter des fruchtbaren und wogenreichen Hellas. Wie Poseidon zürnt und tobt (man denke an die Odyssee), so zürnt und trauert Demeter. Sie gehören zu den älteren Göttern. Persephone und Dionysos sind Protagonisten des nachatlantischen Dramas. Persephone verkörpert altes Hellsehen der göttlichen Natur, die schauende Seele, die herunterdrang in den Leib, der aber beherrscht wurde von den Hades-Kräften, den Todeskräften. Das neue Selbstbewusstsein konnte nur entstehen, wenn Demeters Lebenskraft einen Teil freigab, durch den die Seele sich mit den Todeskräften verbinden konnte, indem der Leib ihr zum Spiegel wurde. Ein Wesen, zwar aus Göttlichem geboren, aber nicht mehr Willenswerkzeug der oberen Welt, sondern sich selbstständig die Erdenkultur erringend: Dionysos, Halbgott des Weinbaus und Kulturstifter im weiteren Sinne.

Orpheus und Eleusis

Dionysos hat einen zweifachen Mythos. Als Gott ist er geboren worden von Zeus und Demeter oder wie die Orphiker erzählen, von Persephone. Da wird er von den Titanen, von der eifersüchtigen Hera aufgestachelt und zerrissen. Demeter sammelt die Teile, und Zeus zeugt ihn wieder mit der thebanischen Königstochter Semele. Als Weingott Dionysos fängt er seine Weltmission an, wird aber auch einmal Persephone aus dem Hades erlösen. Beide Halbgötter, Dionysos und Orpheus, teilen eine Schicksalswende. Auch Orpheus wurde wie der erste Dionysos zerrissen, allerdings Orpheus von den menschlichen Mänaden und Dionysos von den göttlichen Titanen.

Terrakotta-Votivtafel, die von Niinion den beiden großen Göttinnen von Eleusis gewidmet wurde. Foto: George E. Koronaios, Wikimedia

Dass man Götter und Verstorbene nicht unverhüllt anschauen sollte, war ein weiteres Bindeglied zwischen beiden Mythen. Orpheus wendet sich gegen das Gebot um und blickt Eurydike an, damit verliert er sie ein weiteres Mal an den Hades. Semele erblickt Zeus wie Hera, das heißt wohl nackt, und stirbt durch die Gewalt dieses Anblicks. Dionysos stieg in Lerna, wo die Mysterien von Demeter und der Kult des Poseidon gefeiert wurden, in die Unterwelt zu Persephone hinab. Dort wurde die Schwelle von der zwölfköpfigen Hydra (versinnbildlicht in zwölf starken Quellen) bewacht. Durch das Opfer seiner reinen Hingabe gelang es Dionysos, dass er seine Mutter zurückholen konnte, was Orpheus versagt blieb.10

Es ist der Kulturweg der Mysterien und unteren, chthonischen Götter. Pallas Athene gehört zu den olympischen Göttern. Diese Götter geben guten Rat (Athene), verleihen Schönheit (Aphrodite) und schenken Geleit (Hermes). Sie ermahnen die Seele oder vermitteln Sehergaben (Apollo). Dem Tod aber weichen sie aus. Sie wohnen nicht auf der Erde, sondern im Äther, wie der Heerführer Agamemnon in der ‹Ilias› berichtet (Il. 2: 412) – im Himmelsbereich also, noch über dem physischen Olympos-Berg. Die ersten drei Götter gaben ihre Namen an die Planeten, die wir heute als Jupiter, Venus und Merkur kennen. Himmelsgötter sind es. Von dem Göttergeleit über die Orakel führt hier der Weg zu Technik, Philosophie und Wissenschaft.

Zwischen den himmlischen und den chthonischen Göttern, zwischen dem Himmel und der unterirdischen Welt, ereignet sich das Leben des Menschen auf der Erde. Der Verlust des Anschauens des Göttlichen ist den Mythen von Persephone und von Orpheus gemeinsam. Bedeutet doch Hades einfach ‹haides›: unsichtbar, also der Unsichtbare oder der Unsichtbarmachende.11 Was macht uns nun die Götter, den geistigen Makrokosmos unsichtbar? Der Leib, das heißt unser Wille, durch den wir physisch als Ich auf der Erde anwesend sind. Alles Lebendige, wie es seelisch sich in Leidenschaft, Gewohnheit und Gedächtnis äußert, ist aus dem Ätherischen, also makrokosmisch, als Poseidon erschienen. Zum Willen gehört der physische Leib, mythisch: Hades, zum Denken der Astralleib, makrokosmisch: Zeus.12 Der physische Leib wurde in der nachatlantischen Zeit dichter. So fühlte oder erinnerte der Grieche sich, wie das natürliche, von Demeter geschenkte Hellsehen (Persephone) oder der direkt anschauende Zugang zur göttlichen Welt verloren ging. Das ist mit dem mythischen Bild des Raubes durch Hades gemeint. Der Wille ist zunächst nicht anschaubar, wirkt aus den Tiefen der Seele und steht der leuchtenden Welt, die äußeres Bild eines Geistigen wird, entgegen. Was sollte aus diesem Gegensatz13 nun werden?

Der Argonautenzug

Im Mythos vom Argonautenzug wird berichtet, wie Jason alle Helden Griechenlands versammelte, um das goldene Vlies aus Kolchis zu holen. Kolchis liegt zwischen dem Schwarzen Meer und dem Kaukasus. Der Widder hatte einst Phrixos nach Kolchis gebracht, der ihn den Göttern geopfert und dann das Widderfell, das goldene Vlies, Aietes, dem König von Kolchis, geschenkt hatte.

In Widdergestalt hatte Poseidon selbst diesen Widder mit Theophane (‹göttliches Erscheinen›), der Enkelin der Sonne und der Erde (Helios und Gaia), gezeugt.14 Erneut begegnen wir der Verbindung des chthonischen Paares Poseidon und Demeter. Nun wandeln sich Raum und Zeit. Der König Aietes ist Sohn des Sonnengottes Helios und dessen Sonnengattin Perse, und seine Schwester ist Kirke. Aietes thronte im östlichen Kolchis, in der Stadt Aia. Kirke wohnte auf der Insel Aiaia im Westen. Sie waren die beiden ‹Häuser›, in denen die Sonne im Osten erwachte und im Westen unterging. Phrixos war mit dem Widder nach Kolchis geflogen, sonst kommt man nicht durch den Bosporus. Und Jason musste mit der Argo, was die ‹Schnelle›, auch die ‹Glänzende›, verwandt mit der ‹Silbernen›, heißt, ebenso fliegen, sodass die Schiffe von Aietes ihn nicht einholen konnten, als er aus Kolchis mit dem goldenen Vlies floh. Noch in Kolchis selbst half des Königs eigene Tochter, Medea, Jason, die schweren Proben zu bestehen. Doch Aietes weigerte sich, Jason das Vlies zu überlassen, sodass Medea mit Jason floh und ihren kleinen Bruder Absyrtos tötete, zerstückelte, damit ihr Vater aufgehalten würde, wenn er die Leichenteile für eine Bestattung sammelte. Auch hier erscheint ein Motiv des Zerstückelns – auch Orpheus wird zerstückelt, wie Dionysos und Osiris.

Eingang zum Heiligtum (römisch). Hinten: Höhle in die Unterwelt. Foto: Carole Raddato, Wikimedia

Orpheus nimmt zuvor noch an der Reise der Argo teil. Er vermittelt während der Reise zwischen Apollo und den Mysterien, zwischen oben und unten, sogar zwischen Urzeiten und Zukünftigem. Als die Argonauten, auf Anraten von Orpheus, sich auf Samothrake einweihen lassen und dann durch den Bosporus hindurchkommen, erscheint ihnen Apollo bei der Insel Thynias. Sie umschiffen die ganze griechische Welt, denn die Flucht aus Aia geht über das Schwarze Meer, über die Donau zum Meer von Kronos (adriatisches Meer), entlang von Eridanos (Po) und Rhodanos (Rhône) und zurück ins Mittelmeer. So sind sie am anderen Ende ihrer Welt, wo auf der Insel Aiaia Kirke Jason und Medea vom Brudermord reinigt. Da Orpheus singt, kommen sie an den Sirenen vorbei. Nun treibt sie der Sturm an die Küste von Syrte und Libyen (wo das griechische Kyrene war). Sie tragen das Schiff zwölf Tage durch die Wüste und fahren dann, von Poseidon begünstigt, wieder nach Hellas. Über Kreta geht es abermals hinab, wie durch den dunklen Hades. Danach erscheint Apollo zum zweiten Mal auf der südlichsten Insel der Kykladen, die dementsprechend jetzt Anaphe (von ‹ana-phainein›: auf-erscheinen) genannt wird. Dann bringen sie das goldene Vlies endgültig nach Hause. Die Reise umfasst so den gesamten damaligen griechischen Kulturraum.

Es liegt ein tieferer Grund im Mythos, warum Apollo auf dem Hin- und Rückweg erscheint. Er greift scheinbar nicht in die Handlung ein, obwohl er Phineus, den Seher, inspiriert, der den Argonauten noch vor dem Bosporus den Weg nach Aia weist. Die Beziehung Apollos zum goldenen Vlies ist aber folgende: «Das Vlies ist etwas, das zum Menschen gehört, das ihm unendlich wertvoll ist; das in der Vorzeit von ihm getrennt worden ist und dessen Wiedererlangung an die Überwindung furchtbarer Mächte geknüpft ist. So ist es mit dem Ewigen in der Menschenseele. Aber dieses findet sich getrennt von ihm.»15

Das Ewige im Menschen, das Ungeborene, der in der geistigen Welt verbliebene Teil der allgemeinen Menschenseele, ist nach Rudolf Steiner nichts anderes als «die Schwesterseele Adams», der nicht gefallene Teil des ursprünglichen Menschenwesens, der in der Urweihnacht als nathanische Seele in dem einen Jesusknaben geboren werden sollte. Doch näherte sich die nathanische Seele stufenweise an die Erde an, und in der Zeit des Mythos trat sie als die Göttergestalt Apollons auf.16 In den atlantischen Zeiten hatte dieses Wesen harmonisierend auf das Verhältnis von Sonne, Mond und Erde gewirkt und somit auf Menschendenken, Fühlen und Wollen. Davon ist, wie Rudolf Steiner erklärt, im Mythos das Bild von Apollo geblieben, der den Drachen überwindet, die neun Musen leitet. Eine Harmonie von Denken, Fühlen und Wollen, von Hirn, Atem und Kehlkopf und Herz ist der Gesang oder mit den Gliedmaßen zusammen der Tanz, das Musische überhaupt.17 Im Moralischen ist Apollo durch Orpheus der Erzieher in der griechischen Kultur mittels Sprache, Städtegründungen und Kunst gewesen.18 Alle Kultur ist Erziehung des Astralleibes. Es ist der Kampf gegen den Drachen, so wie auch Jason ihn führen muss, mithilfe von Medea gegen den Drachen oder die Schlange, die das Vlies überwacht. Den zweiten Tod, den Tod von Persephone, erleidet derjenige nicht, der die Katharsis der Einweihung erlebt und die geistige Seele von der Begierden-Seele trennen kann. Nicht für Demeter, die ihre Tochter zurückbekam, sondern für den Menschen wird hier die ursprüngliche Geistesschau von Persephone wiedergewonnen. So versteht man das alte Wort: «dass im Schlamm versinkt, wer nicht eingeweiht; und dass nur der in die Ewigkeit eingeht, der ein mystisches Leben durchgemacht hat»19.

Urzeiten und Zukunft in Eleusis

Man kann Eleusis als Zeitenmitte betrachten, denn es weist auf Altes zurück, bis hinein in die atlantische Zeit. Sein Name bedeutet ‹Ankunft› oder das ‹Kommende›, wie ‹Advent› von ‹advenire›. Weder die Tiefendimension der Vergangenheit noch der Zukunft werden von den üblichen Darstellungen über die Mysterien von Eleusis aufgedeckt. Rudolf Steiners Angaben aber erstrecken sich, wie wir gesehen haben, bis zurück in die atlantische Zeit, in der die erwähnte Harmonisierung der Seelenkräfte durch ein Opfer des nathanischen Wesens geschah. Die Planetenwesen von Saturn, Jupiter bis hin zum Mond wirkten in den Mikrokosmos des Menschen hinein. Ihre kosmischen Impulse wurden ebenfalls durch das nathanische Wesen gemildert, das durch die einzelnen Planetensphären zog.20 In der Mythologie schlugen sich diese Vorgänge nieder in den Planetengeistern der Gestalten von Zeus, Ares, Hermes usw. Man stellt sich zu leicht die Mythologie als Polytheismus vor, doch geht ein einheitlicher Zug durch die Planetengötter hindurch, wovon dann Zeus, Ares usw. die Bilder sind.21 Dieses Ausbalancieren der Planetenwirkungen im Menschen fand gerade in den Epochen statt, in denen aus dem Kosmos die Metalle in die Erde sanken. So ist in den eleusinischen Mysterien dieses Geheimnis als eine Einweihung in das Wesen der Metalle erhalten geblieben. Dadurch, dass der Kosmos seine Kräfte in der Form der Metalle in die Erde sinken ließ, befreite er die Menschen entsprechend vom Übermaß der metallischen Kräfte. Die so geronnene Umwelt des Menschen ist hinausversetzte Seelenkraft, die sonst den Menschen überwältigen würde.22 Hätte er nur die Bleiwirkung in sich gehabt, dann käme es zum Beispiel, wie Rudolf Steiner es darstellt, zwar zu einer auf dem Gedächtnis fundierten Ichbildung, aber zugleich auch zu einer Entfremdung gegenüber dem Kosmos. So musste die Kraft des Mondes ihn dem Kosmos wieder einverleiben. Diesen Ausgleich verdanken wir dem nathanischen Seelenwesen, das beide Male, hier wie später, von der Christuswirkung von der Sonne aus überglänzt wurde. Das lässt sich daran erkennen, dass der Gott, der die Planetenwirkungen auf der Erde veranlasste, als eine Vaterstatue im Heiligtum aufgestellt war, so berichtet es Rudolf Steiner. Er reichte die Metalle an die Erden-Mutter Demeter weiter. Diese Statuen sollten den Mysten in uralte Zeiten zurückversetzen, damit ihm das Leben im Kosmos aufging auf dem Weg zum Selbstverständnis der Seele.

In der Gestalt des Dionysos war das Zukünftige auch da, ob Gatte, Kind oder Retter der Persephone. Die Dionysien um die Eleusinen herum stellen den Impuls dar, die Mysterienkultur in die Welt zu tragen. Das heilige Drama von Eleusis wurde allmählich zu den Dramen und Komödien im Dionysos-Theater in Athen. Der Weisheitsgehalt der Mysterien wurde von Plato in Form der Philosophie in die Öffentlichkeit hinübergeführt. Das Geheimnis blieb so bewahrt, doch die Seele sollte sich allmählich selbst weiterbilden. Das größte Opfer des nathanischen Wesens sollte aber noch geschehen. Es sollte in einen Menschenleib einziehen und dem Christusgeist sich hingeben. Schon die Suche der Argonauten nach dem goldenen Vlies oder die Reinigung des Astralleibes war ein Vorausblick auf das kommende Zeitalter des Widders, wo das goldene Lamm, das nathanische Wesen, sein Opfer darbringen würde. In Eleusis stand eine dritte Statue, eine weibliche Gestalt, die an der Brust das Kind trägt, das Jakchoskind, ein Bild für das Menschen-Ich, in das der Christus-Impuls aus der Zeitenwende hineinwirken sollte.23 Dionysos Zagreaus war den ‹Tod von Demeter› durch die Titanen gestorben. Durch Athene und Zeus, also vom Denken, ist er gerettet und neu geboren worden. So wurde er Schöpfer einer Erdenkultur, von der der Weinbau Symbol ist. Jakchos, dessen Bild aus dem Jakcheion in Athen im Feierzug nach Eleusis mitgetragen wurde, ist der ‹dritte Dionysos›, eben der Dionysos, das irdische Menschen-Ich, das durch den Tod der Persephone gegangen ist. Seine Zeit war und ist die Zukunft: ‹der kommende Gott› von Eleusis (‹Advent›).


Titelbild Gesamtansicht des Telesterion, dem ‹Ort der Einweihung›, Eleusis, Foto: Carole Raddato, Wikimedia

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Footnotes

  1. Rudolf Steiner, Das Christentum als mystische Tatsache. GA 8, Dornach 1976, S. 90.
  2. Rudolf Steiner, Über die astrale Welt und das Devachan. GA 88, Dornach 1999, S. 59.
  3. Siehe 1, S. 95.
  4. Rudolf Steiner, Geheimwissenschaft im Umriss. GA 13, Dornach 1989, S. 288–289.
  5. Walter Burkert, Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche. Stuttgart 2011, S. 429–430.
  6. Ebd., S. 425 f.
  7. Siehe 1, S. 94.
  8. Karl Kerényi, Die Mythologie der Griechen. Band I: Die Götter- und Menschheitsgeschichten. München 1983, S. 144–147.
  9. Siehe 5, S. 430.
  10. Karl Kerényi, Die Mythologie der Griechen. Band I, München 1983, S. 203–204.
  11. Der kleine Pauly. München 1979, Bd. II, S. 903–905.
  12. Rudolf Steiner, Weltenwunder, Seelenprüfungen und Geistesoffenbarungen. München, 20.8.1911, GA 129, Dornach 1977, S. 59–64.
  13. Rudolf Steiner, Mysteriengestaltungen. 1.12.1923, GA 232, Dornach 1958.
  14. Siehe 10, S. 145.
  15. Siehe 7, S. 86–87.
  16. Rudolf Steiner, Christus und die geistige Welt. 30.12.1923, GA 149, Dornach 1960.
  17. Ebd.
  18. Vgl. Friedrich Hiebel 1983 und Ernst Uehli, Mythos und Kunst der Griechen im Geiste ihrer Mysterien. Dornach 1958.
  19. Siehe 20, S. 24. Es gibt weitere Quellen bei Pindar, Sophokles und Isokrates, vgl. Burkert 2011, S. 430.
  20. Siehe 16, S. 50–51.
  21. Ebd., S. 54.
  22. S. 13.
  23. Ebd.

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