Jetzt endet das Jubiläumsjahr zum 100. Todestag von Rudolf Steiner. Was bleibt? Vor allem die persönlichen Begegnungen mit Rudolf Steiner. In diesem Sinne fragte die Zeitschrift ‹Stil› in ihrer Osterausgabe und publizierte 27 Blicke ‹Wo ich Rudolf Steiner finde›. Eine Lese aus diesem Blumenstrauß der Gegenwart Rudolf Steiners.
Rudolf Steiner sei ein Hüter, ein Hirte der Zeit, schreibt Christine Gruwez. Kein Zeitraum, keine Epoche blieb von diesem innigen Lauschen Steiners ausgeschlossen. Begegne man Rudolf Steiner, so begegne man der Fülle der Zeit. Dabei spielten, so zitiert sie Steiner, für unsere Entwicklung zwei Mysterien eine besondere Rolle: der Tod und das Böse. Rudolf Steiner gebe keinen Trost, keine Beruhigung, keinen Fluchtweg, sondern er eröffne ein vertikales und ein horizontales Verstehen. Vertikal bedeutet dabei, Hohes und Tiefes fassen zu können. Horizontales Verstehen lenke den Blick auf das Erleben der Zeit in seiner rätselhaften doppelten Richtung: in die Zukunft und aus der Zukunft. Wolf-Ulrich Klünker unterscheidet die persönlichen Darstellungen Rudolf Steiners von seinen Büchern. Während die biografischen Zeugnisse seinem vergangenen Leben angehören, wirke die geistige Individualität in seinen schriftlichen Schöpfungen weiter. Die Ideengestalt Steiners lasse die menschliche Individualität entstehen, nicht umgekehrt. Die Vorträge Rudolf Steiners sieht Klünker ebenfalls als «eher konservierte Zeitaufnahmen», die Vergangenes vergegenwärtigen. Im Sinne von ‹Gleiches erkennt Gleiches› nimmt Klünker drei Kennzeichen von Rudolf Steiners als Begegnungsmöglichkeiten. Rudolf Steiner sei in Entwicklung, wende sich gegen wissenschaftliche Dogmen und integriere fremde Anschauung in sein Weltbild. Steiner zu begegnen, bedeute, aus dieser Haltung Anthroposophie zu betreiben und eine alte Beziehungsform zu überwinden: «Nur in einer zukunftsoffenen inhaltlichen Perspektive kann sich auch ein freier Blick auf den Menschen, auf sein Leben und seine Weiterentwicklung entfalten.»
Vesna Forštnerič Lesjak schildert, dass sie Rudolf Steiner in menschlichen Begegnungen gefunden habe. Sie findet im Goetheanismus als universeller Forschungsmethode die «beste Eingangstür zur Anthroposophie». Wenn es ihr in Seminaren gelinge, eine Pflanze so zu betrachten, dass es zu einer Wesensbegegnung komme, dann trete die Unterstützung der verstorbenen Lehrer Goethe und Steiner hinzu. Sie schließt ihren Beitrag damit, dass sie Rudolf Steiner begegne, indem sie die Zeitfragen höre und ihre Antworten darauf verwirkliche. Die Ärztin Angela McCutcheon wandert durch ihre vielfältigen auf Rudolf Steiner zurückgehenden Lebensmomente: beseelte Waldorfschulzeit, Gespräche im Familienkreis, medizinische Studiengruppe, Patientenbesprechung. Sie wandert durch ihre Gefühlswelt: Dankbarkeit über die Kindheit, Liebe zur Tradition, Religiosität, Ehrfurcht vor der Natur, Lust aufs Lernen. Dabei finde sie weniger Rudolf Steiner als vielmehr die Fülle und Tiefe des Lebens. Dem Philosophen Eckart Förster begegnet Rudolf Steiner auch in seiner Abwesenheit im akademischen Diskurs, «schweigend, sorgenvoll, abwartend» sei Rudolf Steiner im Hintergrund. Außerdem erfahre er Steiner in seiner «ans Wunderbare grenzenden Lebenskraft» in dessen Geisteswissenschaft. Andre Bartoniczek, Historiker, hebt mit dem Zeitzeugen Hermann Friedmann Rudolf Steiners Fähigkeit hervor, «mit allen Organen» zuzuhören. Friedmann: «Ich glaube, er hörte, sah, fühlte und verstand den redenden Menschen.» Bartoniczek unterstreicht Rudolf Steiners Vermögen, sich umgekehrt rückhaltlos zu äußern und nicht in selbstloser Rücknahme zu verharren, sondern sich leidenschaftlich nach außen zu werfen, die eigenen Einsichten, Ideen, Impulse in den Umkreis hineinzugeben. Was in Empfänglichkeit und Produktivität als Gegensatz in der Seele lebt, das ist bei Rudolf Steiner in seinen Polen gesteigert und zugleich ein Ganzes. Bartoniczek zeigt an Rudolf Steiners Auseinandersetzung mit Ernst Haeckels sozialdarwinistischen Vorstellungen, wie in der Aneignung solcher, den eigenen Ideen entgegengesetzter Vorstellungen, mitunter unerlöste Wesen sich befreien könnten. Es gehe Steiner «um die innere Kraft, Abstoßendes auszuhalten, sich von der Bindung an einen liebgewordenen, aber leibgebundenen Standpunkt loszureißen». Bartoniczek fasst zusammen: «Wo finde ich Rudolf Steiner? An vielen äußeren und inneren Orten – und eben auch überall dort, wo ich der Bemühung um die Kraft begegne, aus der heraus eine gelebte Dialektik entsteht, eine Fähigkeit, die heilsam wäre für unsere gesellschaftlichen, kollegialen und persönlichen Verhältnisse und damit für unsere Zukunft.»
Anna Katharina Dehmelt, deren anthroposophischer Schwerpunkt in Meditation liegt, vermutet, dass heute mehr «innerer Eigenanteil erforderlich sei, um im Studium von Anthroposophie ‹dahinterzukommen›, «als hätte der Geist, der dieses Werk (Anthroposophie) hervorgebracht hat, sich zurückgezogen». Sie spüre Rudolf Steiners «gestaltungskräftigen Geist dort, wo Geist in Gedanke, Ideal und Tat geprägt wird». Nana Göbel leitet die Frage nach Rudolf Steiner mit einer großen weiteren Frage ein: «Haben wir die Kraft, das Menschliche zu pflegen – über alle Grenzen hinweg? Haben wir die Kraft, über die eigenen Vorurteile hinwegzukommen?» Sie mündet in ihrer Suche nach dem Fundort Rudolf Steiners dann in folgender Beobachtung: Wo Neues in die Welt kommt, indem ich selbst nach innen und im Reigen mit anderen nach außen tätig werde, da finden wir uns im Einvernehmen mit den geistigen Intentionen jener Entität, die sich in ihrem Leben Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts Rudolf Steiner nannte. Bastiaan Baan schließt auf die Frage nach Rudolf Steiner mit einem Aphorismus und einem Traum: «Wo und wie finde ich Rudolf Steiner? Ich komme in seine Nähe durch selbstlose Liebe und Enthusiasmus für unsere Sache – auch wenn er ferne ist.» Der Traum: «Da saß er beim Eingang eines Saales, wo er einen Vortrag halten sollte. Er selber musste die Eintrittskarten verkaufen. Ich aber hatte kein Geld. Da schaute er mich tief an und sagte schließlich: «Sie dürfen hineingehen.»
Bitte bedenken: Diese Antworten sind jeweils punktuell und aus einem Zusammenhang genommen.
Siehe im Ganzen: Zeitschrift ‹Stil›, ‹27 Blicke – Wo ich Rudolf Steiner finde›, Ostern 2025. Vertrieb: abo.stil@goetheanum.ch
Bild Rudolf Steiner, Foto: Otto Rietmann








