Was die Viren uns lehren

Thomas Hardtmuth ist Arzt, Autor und Dozent. Er hat sich eingehend mit den Fragen der Virologie beschäftigt. Gerald Häfner sprach mit ihm über das Wesen von Mikroorganismen und die anstehende Corona-Impfung.


Gerald Häfner Wie nie zuvor bestimmt ein Virus und bestimmen Virologen unser Denken, unser Leben, unsere Rechte und deren Einschränkung. Was ist ein Virus?

Thomas Hardtmuth Der Begriff Virus ist einseitig konnotiert. Er stammt aus römischer Zeit und bezeichnete damals ein Gift im Speichel tollwütiger Hunde. Dieses Feindbild hat sich tradiert und ist aktiviert worden durch Robert Koch und Louis Pasteur. Man hatte die Mikroorganismen einseitig zu Pathogenen erklärt, die uns krank machen. Aus dem Erlebnis der Seuchen heraus ist das ja auch verständlich. Aber die Entwicklung der Genom-Sequenzierung in den letzten 20 Jahren hat hier ein neues Kapitel aufgeschlagen. Das hat zu einem radikal neuen Bild der Viren geführt, weil wir jetzt ganz andere Entwicklungs- und Abstammungslinien der Viren erkennen. Die Viren sind Urbausteine des Lebens. Viren sind das Urgenom aller Organismen, die Uranlage alles Genetischen in der Welt. Damit kommen wir weg vom Pathologiebegriff der Viren. Wir sehen sie nun in einem Gesamtkontext der Natur. Dass Viren etwas Pathologisches entwickeln, ist eher der Sonderfall.

Was machen Viren und welche Beziehung haben wir zu ihnen?

Die Mikrobiom-Forschung, also die Erforschung der Gesamtheit der Mikroorganismen, entwickelt sich rasant! Es gibt Phänomene, die uns mehr verblüffen, als dass sie klare Antworten liefern. Die Mikroorganismen erziehen uns zu einer neuen Denkweise. Wir müssen lernen, kontextuell zu denken. Wie interagieren die Mikroorganismen? Das erfordert eine neue Denkart. Das Mikrobiom nimmt sensibel alle Einflüsse wahr und prägt sie sich ein, wie ein Seismograf: die Umwelt, Krankheit, Psyche, Stress. Es gab die Urbiosphäre, den Urzustand der Erde, wo die ganze Erde ein homogener, vitaler Organismus aus interagierenden Einzellern war. Die Viren sind die Agenten einer urbiosphärischen Kommunikation. Die Virosphäre ist ein Teil des Erdorganismus. Wir haben in den Weltmeeren sog. biogeografische Provinzen, vergleichbar mit Organen, in denen gewisse Stoffwechselqualitäten realisiert sind. Das hat die neue Meeresbiologie gezeigt. Wir staunen über die Komplexität der mikrobiellen Welt. Sie ist sehr verschieden und hochindividuell an jedem Ort dieser Welt. Jeder Grashalm auf der Erde, jede Wolke, jedes Gewässer hat seine charakteristische mikrobielle Sphäre. Was sind das für Kräfte, die diese hochindividuellen Habitate gestalten? Es scheint, dass die Viren die Regulatoren dieser Sphären sind. Sie regeln die Populationsdynamik in ökologischen Systemen.

Was passiert, wenn ein Virus, das in eine Fledermausumgebung gehört, in eine Menschenumgebung überspringt?

Über 99 Prozent aller Viren führen einen sesshaften Lebensstil und machen nicht krank. Jeder Mensch hat Viren in und an sich, die zu ihm gehören. Auch Familien haben ihre gemeinsamen, ganz eigenen Hausmikrobiome, inklusive ihrer Haustiere. Die Pathologie beginnt erst mit dem Wirtswechsel. Wenn plötzlich eine andere Umgebung herrscht, Tiere in andere Habitate wechseln müssen, das ‹ätherische› Gleichgewicht erschüttert wird, dann wächst die Krankheitsgefahr. Wenn das Mikrobiom nicht zusammenklingen kann, weil es nicht zusammengehört, fängt Irritation an. Wenn ich einen Atemzug mache, treten mindestens 10 000 Bakterien und Viren in mich ein. Die Lungenoberfläche ist hochsensibel, voller immunkompetenter Zellen, die alles ‹fühlen›, was da atmosphärisch kommt. Die Sprache für das, was wir da ‹seelisch› einatmen und wahrnehmen, haben wir noch nicht.

Leben wir also in Wahrheit in einer größeren Lebenssphäre, in der die Viren dazugehören?

Diese Mikrobiosphären, in die wir eingehüllt sind, sind wie Erinnerungen an Urzustände, in denen die Organismen noch nicht so getrennt waren. Sie weisen uns auf diesen ätherischen Urzustand eines allgemeinlebendigen Fluidums an unseren Leibgrenzen hin und darauf, dass unser Organismus eigentlich nicht an der Haut aufhört. Ein Beispiel: Wenn man eine Tomatenpflanze mit einem Parasiten beimpft, warnt sie auf rätselhafte Weise ihre Nachbarpflanzen. Diese produzieren dann vorbeugend einen Antikörper für das Gift oder senden einen Duftstoff aus, der Insekten anlockt, die die Parasiten wegfressen. Alles ist vernetzt – durch die Mikrobiomforschung nähern wir uns gerade einem neuen, erweiterten Organismusbegriff.

Viren sind Regulatoren der mikrobiellen Sphären. Sie regeln die Populationsdynamik in ökologischen Systemen.

Aber im heutigen Umgang wird anders geredet und agiert.

Wir projizieren unsere eigene Psychologie in die Natur hinein, indem wir das Virus zum Feind erklären. Natürlich spielen die Viren in der Pathologie eine Rolle. Wenn ein Mensch krank ist, verändert sich auch das hoch kontextsensible Mikrobiom. Es treten zum Beispiel virale Monokulturen hervor, wenn sich krankmachende Einseitigkeiten entwickeln wie etwa in den riesigen Monokulturen der Landwirtschaft oder durch rücksichtslose Umweltzerstörung. Die Hotspots der Ebola-Erkrankung in Afrika waren dort, wo die Wälder abgeholzt wurden. Dann kommen noch Gewalt, Krieg, Terror und Menschenausbeutung hinzu. Das ist der größere Zusammenhang, in dem die Ebola-Erkrankung zum Anzeiger eines insgesamt kranken Systems wird.

Brauchen wir also ein anderes Verhältnis zur Natur, zu den Lebewesen, mit denen wir uns diese Erde teilen, um diese Pandemie zu überwinden?

Wir brauchen ein sensibleres Zusammenleben mit der Natur, aber auch unter Menschen. Ich vergleiche das gern mit den mittelalterlichen Seuchen. Wenn wir die Pest nur vom Erreger her betrachten, dann haben wir wenig verstanden. Was damals geschah, war, dass sich die Lebensbedingungen in der frühen Urbanisierung drastisch veränderten. Die Bevölkerung lebte in den Städten eng zusammengepfercht ohne jede Hygiene. 20 Menschen haben in einem Raum geschlafen, haben aus einem Topf gegessen, keine Bäder, keine Klos, keine Müllentsorgung usw. Das entspricht nicht der Natur des Menschen. Die Seuchen zeigen uns, dass es so nicht geht. Auch heute lohnt es sich, zu fragen: Was sagt uns die Natur jetzt? Sie will aufwecken, damit wir hinschauen.

Illustration: Fabian Roschka

Heißt das, hinzuschauen und zu fragen, was wir angerichtet haben und wie wir es wieder in Ordnung bringen?

Natürlich greifen wir in die Natur ein und verändern Ökosysteme. Das kann sogar zum Vorteil der Natur sein, wenn man es überlegt und weise macht. Die Diversität und damit die Gesundheit nimmt durchaus zu, wenn der Mensch die Natur mit einem gewissen künstlerischen Sinn behandelt. Was wir jetzt erleben, ist das Gegenteil. Es muss jetzt ein fundamental neues Denken der Natur gegenüber einsetzen, sonst werden wir eine Katastrophe nach der anderen erleben. Dieser ganze Staatsapparat ist aber sehr zäh. Das sieht man an der Klimakrise. Man stelle sich vor, wir würden den ganzen Aufwand, die vielen Billionen Dollar, die die Krise bis jetzt gekostet hat, in sinnvolle und nachhaltige sozioökologische Projekte investieren, auch in der Dritten Welt – es wäre ein Segen für die Erde! David Beasley vom UN-Ernährungsfonds spricht von enormen Hungersnöten durch die Corona-Maßnahmen, auch die Malaria nimmt enorm zu und wird Hunderttausende zusätzliche Todesopfer fordern. Die Not durch die Lockdown-Maßnahmen zwingt die Kleinbauern, in den Wald zu gehen und Bäume zu fällen, um etwas zum Leben zu haben. Das wiederum begünstigt die Verbreitung der Malaria, weil sich auf den abgeholzten Regenwaldflächen unzählige Pfützen bilden, in denen sich die Anophelesmücke als Überträgerin prächtig vermehrt. Seuchen sind keine böse Laune der Natur, sondern selbst gemacht, sie entstehen dort, wo wir die Balance der mikrobiellen Populationen in gewachsenen Ökosystemen zerstören.

Was also können wir tun?

Es geht nicht nur um Schutz, sondern auch darum, dass wir uns unserer Naturentfremdung bewusst werden und sie überwinden. Nicht zurück zur Natur, sondern vorwärts zur Natur. Meine eigentliche Intention, mich mit den Mikrolebewesen zu befassen, war der Wunsch, die Brücke zum Ätherischen zu bauen, also zu der Verbundenheitssphäre, die uns völlig abhanden kommt. Diesen Begriff müssen wir jetzt entwickeln. Je weniger wir das tun, umso mehr sind wir mit diesen Naturkatastrophen konfrontiert. Wir müssen lernen, zu verstehen, was uns die Natur sagt und wie wir ihr adäquat begegnen. Die Immunsysteme der Menschen funktionieren am besten, wenn es Kooperation, Fairness, Vertrauen gibt. Das ist die menschliche Natur. Dann ist das Menschliche präsent, und das stärkt die immunologische Gesundheit, nicht aber, wenn wir nur mit Angst und Misstrauen durch die Welt laufen.

Noch ein paar aktuelle Fragen: Was ist ein PCR-Test? Was genau wird da gemessen?

Der PCR-Test wurde nur zur genetischen Diagnostik entwickelt. Er machte die Entschlüsselung des Humangenoms möglich. Kary Mullis hat für diese Entdeckung den Nobelpreis bekommen, aber interessanterweise davor gewarnt, diesen Test zur Diagnostik von Infektionserkrankungen zu verwenden. Dazu sei der Test zu sensibel. Ein einzelnes Virus kann ausreichen, um ein positives Ergebnis zu erhalten. Und wir haben auf einem Quadratzentimeter Haut Millionen Viren, auch bei Gesunden sind sog. Krankheitserreger zuhauf nachweisbar. Das Vorhandensein eines Virus auf der Schleimhaut sagt also über Krankheit gar nichts aus. Der Test misst eine Gensequenz, aber nicht, ob wir krank sind. Das gesuchte Genfragment wird dabei immer wieder verdoppelt, bis es nachweisbar wird. Die Zahl der dazu nötigen Verdopplungen ist der Gradmesser für die Viruslast. Es gibt viele Virologen, die sagen, dass alles, was über 30 Verdopplungsschritte hinausgeht, keinerlei Krankheitsrelevanz hat. Das Problem bei uns ist, dass die meisten Tests mit 40 oder mehr arbeiten und daher viel zu viele falsch-positive Ergebnisse liefern.

Die Zahl der Test-Positiven oder ‹Infizierten›, nach der sich Freiheitseinschränkungen richten, sagt nichts darüber aus, wie viele Menschen krank sind?

Der Begriff der Infektion wird hier irreführend verwendet. Er bedeutet definitionsgemäß, dass ein Mensch durch Kontamination mit einem Mikroorganismus tatsächliche Veränderungen im Sinne einer Krankheit zeigt. Und das ist bei den sogenannten Corona-Infizierten meist nicht der Fall. Wenn wir jetzt hier einatmen, gehen viele Coronaviren zwischen unseren Atemwegen hin und her. Ob wir krank werden, hängt in erster Linie vom Organismus und nicht vom Virus ab. Wir schauen aber gerade nur auf das Virus und viel zu wenig auf unsere Immunfunktionen.

Der Organismus muss in der Lage sein, mit dem Virus umzugehen?

Wie gesagt machen die allermeisten Viruskontaminationen nicht krank. Die Viren in unserem Organismus haben in der Regel sesshafte Lebensstile und vermehren sich nicht so, dass sie die Zellen zerstören. Aber die Wissenschaft beginnt jetzt erst ganz allmählich, die Frage zu behandeln, was Viren natürlicherweise für uns bedeuten, jenseits der Pathologie. Mit einem Virus nehmen wir eine genetische Botschaft auf, die der Organismus wahrnimmt, und er macht etwas damit und lernt etwas daran. Die wichtige Entdeckung in der heutigen Genetik ist, dass die menschlichen Genome aus Viren entstanden sind. Jede wirkliche Entwicklung, die ein Mensch macht, geht mehr oder weniger durch eine Krise. Wir können nichts Neues lernen, wenn wir nicht auch gewisse Schwierigkeiten überwinden. Manchmal braucht es Krankheiten, die wichtig zur Reifung des Immunsystems und unserer Autonomie sind. Viren sind die Stimulatoren unserer genetischen Entwicklung.

Überall, wo ein Wesen sich seiner Natur gemäß entfalten kann, wird es gesund. Das trifft nicht nur für Menschen, sondern auch für Tiere, Pflanzen, für ganze Ökosysteme und auch für soziale Gemeinschaften zu.

Die Politik setzt auf massenhafte Impfung. Gerade wird der neue mRNA-Impfstoff zugelassen.

Wir wissen darüber grundsätzlich viel zu wenig. Bei einer Impfung von Millionen Menschen muss man aber sehr genau wissen, was man tut. Wenn ich einem Krebspatienten ein riskantes Medikament gebe, nehme ich Nebenwirkungen leichter in Kauf. Aber nicht, wenn man gesunde Leute behandeln will. Da braucht es hohe Standards. Es fällt mir schwer, nachzuvollziehen, wie man in so kurzer Zeit eine solide Abschätzung der Langzeitrisiken erkennen will.

Illustration: Fabian Roschka

Was kann man empfehlen?

Es gibt viele Untersuchungen, die zeigen, wie sich das Immunsystem steigern lässt. Seine Aktivität nimmt bereits um 50 Prozent zu, wenn man beispielsweise jeden Tag eine Stunde im Wald spazieren geht. Wir sollten den Menschen helfen, sich aus der Angstspirale zu lösen. Man kann von einer Sozialimmunologie sprechen, da die Immunfunktionen des Menschen hochgradig vom sozialen Kontext abhängen. Der am meisten schädigende Effekt auf das Immunsystem eines Menschen, das wissen wir heute, sind die sogenannten Entwertungserfahrungen, wenn man also jemandem zu verstehen gibt, dass er uninteressant ist und nicht gebraucht wird. Wenn Menschen wiederholt in dieser Form ausgegrenzt und gedemütigt werden, brechen ihre Immunsysteme zusammen. Das ist ein sozialmedizinisches Grundgesetz.

Ist die Sinn- und Selbstwerterfahrung also entscheidend für die individuelle, soziale und auch ökologische Gesundheit?

Absolut richtig! Um es mit einem Satz zu sagen: Überall, wo ein Wesen sich seiner Natur gemäß entfalten kann, wird es gesund. Das trifft nicht nur für Menschen, sondern auch für Tiere, Pflanzen, für ganze Ökosysteme und auch für soziale Gemeinschaften zu. Solche Aussagen werden heute gern als naive Naturromantik belächelt, das ändert aber nichts daran, dass sie wahr sind.

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