Vom 15. bis 22. April 1923 fand in Dornach in der Schreinerei neben der Brandstätte des Ersten Goetheanum ein pädagogischer Kurs für Schweizer Lehrende statt. Zu diesem reisten auch tschechoslowakische Teilnehmende an.
Acht Vorträge von Rudolf Steiner (GA 306) und weitere von Walter Johannes Stein, Ernst Blümel, Hermann v. Baravalle, Caroline v. Heydebrand wurden in dieser Woche gehalten. Ein Bericht im ‹Berner Schulblatt› betont die vermittelnde Rolle der vortragenden Waldorflehrer: «Die Menschen, die noch immer Dr. Steiners Schüler heißen wollen, die die anthroposophische Pädagogik in sich verarbeitet haben, sie haben uns zu Dr. Steiner so etwas wie eine Brücke geschlagen. Wenn aus dem fast Übermenschlichen, was Dr. Steiner zu bieten vermag, solche Lehrer und Menschen erwachsen können, so darf man sich der Anthroposophie mit Vertrauen und Hoffnung nähern. Den ganzen Tag standen sie uns zur Verfügung, den einzelnen, kleinen Gruppen oder in den allgemeinen Diskussionen.» (Das Goetheanum, 1923, 2. Jg., S. 357) Teilgenommen haben etwa 80 schweizerische und 30 ausländische Lehrerinnen und Lehrer sowie 50 Eltern. Unter den ausländischen Lehrenden befanden sich auch zwölf Gäste aus der Tschechoslowakei. Die Umstände der Teilnahme der tschechischen Gäste werden im Folgenden kurz skizziert.
Bereits der erste Vortrag Rudolf Steiners in Prag am 20. Februar 1907 hatte einen pädagogischen Inhalt und trug den Titel ‹Die Erziehung des Kindes vom Standpunkte der Geisteswissenschaft›. Noch im selben Jahr erschien der Vortrag in schriftlicher Form in tschechischer Übersetzung. Im folgenden Jahr, am 18. November 1908, hielt Rudolf Steiner den Vortrag ‹Mann, Weib und Kind im Lichte der Geisteswissenschaft›, in dem er sich wiederum pädagogischen Fragen widmete. Zum ersten Besuch Rudolf Steiners in Prag nach der Gründung der Waldorfschule kam es erst 1923. Am 28. April dieses Jahres sprach er zum Thema ‹Gehen – Sprechen – Denken des Menschen in ihrer Beziehung zur Welt der Hierarchien. Die drei Etappen des Erwachens der menschlichen Seele› und am 30. April 1923 über ‹Die Menschenentwicklung und Menschenerziehung im Lichte der Anthroposophie›. Der letzte öffentliche Vortrag in Prag war wiederum der Bildung gewidmet. Er wurde am 4. April 1924 gehalten und hatte den Titel ‹Erziehung und Unterricht auf der Grundlage wirklicher Menschenerkenntnis›.
Eine der aktivsten Schülerinnen Rudolf Steiners in Prag, Julie Klímová, deren Mann, Jaroslav Klíma, ein hochrangiger tschechoslowakischer Staatsbeamter war, versuchte im April 1923 eine Gruppenreise zum pädagogischen Kurs in Dornach zu organisieren. Ihr Motiv war die Gründung einer Waldorfschule in der Tschechoslowakei. Durch ihren Mann hatte Klímová Kontakte zu Beamten des Kultusministeriums. Weil sie selbst keine geeigneten Lehrer kannte, bat sie einen von ihnen, Ministerialrat Josef Černý, ihr einige geistig oder religiös orientierte Lehrer zu nennen, die sie auf den Unterricht in der Waldorfschule vorbereiten wollte. Ohne sie persönlich zu kennen, sandte sie jedem der Lehrenden und Schulinspektoren ein Buch über Waldorfpädagogik (‹Der Lehrerkurs Dr. Rudolf Steiners im Goetheanum›, 1922) und lud sie bald zum Kurs im April 1923 nach Dornach ein. Dabei bot sie an, jedem Reise und Aufenthalt aus eigenen, für diesen Zweck gesammelten Mitteln zu bestreiten. Unter den Eingeladenen war auch die Theosophin und Schriftstellerin Pavla Moudrá, mit der Julie Klímová seit 1922 über die Gründung einer Waldorfschule in brieflichem Kontakt stand. «Mein Plan ist folgender: Ich möchte eine tschechische oder slowakische Schule ins Leben rufen, die den Intentionen von Dr. Rudolf Steiner entspricht, dessen Pädagogik im Geiste von Comenius steht. Wer es mit dem Studium der Waldorfschule so ernst meint wie ich, muss die Überzeugung aufbringen, dass nur auf diese Weise Licht in die gegenwärtigen chaotischen Verhältnisse gebracht werden kann.» (Brief an Moudrá vom 26. September 1922) In einem anderen Brief vom 15. Oktober 1922 heißt es sogar: «Ich mache mir keine Sorgen mehr, dass ich keinen Lehrer haben werde, um meine Idee zu verwirklichen – wenn sich solche Persönlichkeiten wie Sie melden.»
Moudrá hatte angeboten, dass sie gegebenenfalls an einer gegründeten tschechischen Waldorfschule unterrichten könnte. Sie war nicht nur als Schriftstellerin, sondern vor allem als Übersetzerin in Tschechien bekannt. Ihre außergewöhnlichen Sprachfähigkeiten ermöglichten ihr, aus dem Englischen, Französischen, Deutschen, Russischen, Schwedischen und aus weiteren Sprachen zu übersetzen. Die größte Bedeutung hatte jedoch ihre umfangreiche öffentliche Tätigkeit. Sie arbeitete organisatorisch und publizistisch im Tierschutzverein, in der Chelčický Friedensgesellschaft, in der feministischen, der vegetarischen und der Abstinenzbewegung. Sie war in allen Bereichen eine unermüdliche Vorarbeiterin, die sich aus allen Kräften um spirituelle Erhebung des menschlichen Lebens bemühte. Ihre öffentliche Tätigkeit hing mit ihrer Überzeugung zusammen, die sie durch das Studium der Theosophie erwarb. Die reiche Aufklärungs- und Vortragstätigkeit machte sich auch in der Theosophischen Gesellschaft bemerkbar. Pavla Moudrá hielt in der Theosophischen Gesellschaft, in der sie seit 1904 Mitglied war, seit 1906 jedes Jahr einen Vortrag. Im November 1907 wurde sie durch Rudolf Steiner in die dritte Abteilung der Esoterischen Schule aufgenommen. (R. Steiner, GA 265, S. 58)
Klímovás großzügige Einladung nahmen zwölf Persönlichkeiten an, von denen aber nur zwei Lehrer und drei Inspektoren waren. Schon an der Auswahl der Teilnehmenden kann man ahnen, dass dieser Besuch trotz aller Bemühungen Klímovás nicht die erwünschten Ergebnisse brachte. So erschien Pavla Moudrá am Prager Hauptbahnhof mit ihrem kleinen adoptierten Kind Lála, um das sie sich natürlich während des ganzen Dornacher Aufenthalts kümmern musste. «Frau Klímová stellte uns Dr. R. Steiner vor und unterhielt sich eine Weile mit ihm in unserer Anwesenheit. Die Augen derjenigen, die sich an den ersten Holzbau des Goetheanums erinnerten, glitzerten mit Tränen. Der Lärm der rasenden Autos von der Straße nach Arlesheim und Basel drang leise bis zu unserem Hügel. Nach einer Weile gingen wir durch die Schreinerei und betraten den Saal. Ich setzte mich auf einen der Stühle am Mittelgang. […] Neben meinem Stuhl war eine Bühne mit einem Rednerpult. Der Saal füllt sich schnell. Der Stenograf setzte sich an die Bühne und schaltete eine Lampe mit gedämpftem Licht ein. Der Lärm im Saal wurde leiser. Dvořáks ‹Slawischer Tanz› wogt durch den Raum und die Eurythmisten stellen es in der Bewegungssprache dar. Plötzlich erscheint Dr. R. Steiner am Rednerpult und seine Ansprache ertönt. […] Er begrüßt die versammelten Schweizer Lehrerinnen und Lehrer der verschiedenen Schultypen, für die der Kurs organisiert worden war, und erwähnt besonders Frau Julia Klímová und die tschechischen Lehrer, die sie mitgebracht hat.» So charakterisiert B. Večerek die Eröffnung des Kurses.
Am zweiten Tag des Aufenthalts in Dornach ist das Gruppenfoto entstanden, das vom Lehrer der Hilfsschule in Prag-Libeň Václav Rohlena stammte. «Das war das letzte Mal, dass ich ihn in Dornach gesehen habe. Er ging nach Frankreich, um Schulen an der frischen Luft zu fotografieren. Sein Verschwinden wurde von Frau Klímová nicht weiter kommentiert. Vielleicht sah sie ihren Fehler ein und trug stoisch die Konsequenzen. Nach dem Gruppenfoto habe ich Frau Moudrá mit ihrem Sohn und Prof. Matouš aus Náchod nicht mehr gesehen. Lehrer Burian aus Jablonné nad Orlicí und ing. Motyka aus Pardubice machten einen Ausflug in die Schweiz. Zunächst nach Lugano am Luganer See. Als wir Dr. Steiner in seinem Atelier besuchten, wo er gerade an einem Modell des neuen Goetheanums aus Beton arbeitete, hatte Dr. Havelka unpassende Fragen Dr. Steiner gestellt, als ob sie ‹in einem Weinkeller› wären!» (Unveröffentlichte Erinnerungen von B. Večerek)
Julie Klímová war sicher enttäuscht, aber nicht einmal diese bittere Erfahrung konnte ihr die Hoffnung auf Einrichtung einer Waldorfschule in Böhmen völlig nehmen. Ihre Briefe an Pavla Moudrá zeugen davon, dass sie im Erziehungsministerium Unterstützung für ihre Bemühungen anstrebte, in Brünn einen pädagogischen Vortragszyklus Rudolf Steiners für die örtliche Lehrerschaft zu organisieren. Ihre Pläne gingen jedoch leider nicht in Erfüllung. Das Ministerium hatte auch so schon genügend Sorgen mit den deutschen und den kirchlichen Schulen. Die Waldorfschule hatte für sie den Geschmack von beidem, und so wollten sie keine Waldorfschul-Gründung unterstützen. Es scheint tatsächlich so, dass nationale und weltanschauliche Gesichtspunkte für die Waldorfpädagogik erschwerende Umstände bedeuteten. Das grundsätzliche Problem aber lag selbstverständlich insbesondere darin, dass sich keine Erzieherpersönlichkeit fand, die die Waldorfpädagogik im tschechischen Umfeld repräsentieren könnte. Unter den deutschsprachigen Mitbürgern und Mitbürgerinnen der Tschechoslowakei fand sich ebenfalls damals niemand, der pädagogisch im Geiste der Waldorfpädagogik arbeiten wollte.
Literatur
Klímová J., Erinnerungen an Rudolf Steiner, in: Polzer-Hoditz: Erinnerungen an Rudolf Steiner. Dornach 1985.
Klímová J., Pedagogický kurs pro učitele …, in: Komenský. 1923, S. 139 f.
Moudrá P., Pedagogický kurs Dra. Rudolfa Steinera v Dornachu u Bazileje, in: Komenský. 1923, S. 203–206.
Steiner R., Die pädagogische Praxis vom Gesichtspunkte geisteswissenschaftlicher Menschenerkenntnis. GA 306. Rudolf Steiner Verlag 1989.
Večerek B., Evokace mé první cesty do Švýcar (Erinnerung an meinen ersten Besuch in der Schweiz). Unveröffentlicht.