Rudolf Steiner wollte die Malerei erneuern. Seine Schulungsskizzen für Maler und Malerinnen werden in diesem Jahr 100 Jahre alt. Sie bilden das Herzstück einer Ausstellung, die der Auseinandersetzung mit diesen Skizzen gewidmet ist und noch bis zum 10. November 2022 in der Kunstgalerie am Goetheanum zu sehen ist.
Bereits in seinen Mysteriendramen aus den Jahren 1910 bis 1913 ist eine der zentralen Figuren ein Maler, der seine Suche in dem Satz zusammenfasst: «Die Form sei der Farbe Werk!» Die Farbe soll nicht benutzt, sie soll als schöpferisches Wesen erfahren und entsprechend in Tätigkeit versetzt werden! Dieser Ansatz kommt mit der Errichtung des Goetheanumbaus zur Entfaltung. Es entsteht die Kuppelmalerei, bei der Steiner zum Teil selbst tätig wird. Durch Überlagerung transparenter Farbschichten entstehen geistige Räume, aus denen heraus sich Figuren von berührender Intimität verdichten. Spätestens 1921 mit den drei dezidiert für Malerinnen und Maler gehaltenen Vorträgen ‹Das Wesen der Farbe› wird aber deutlich, dass Steiners Anliegen weit über den Goetheanumbau hinausreicht. Er bringt die wegweisende Unterscheidung von Bild- und Glanzfarben und gibt überraschende Hinweise für ein angemessenes Malen der Naturreiche. Erst ein Jahr später, im Mai 1922, wird es aber wieder konkret. Henny Geck, eine am Goetheanum tätige Malerin, bittet Steiner um einen den Formen der Eurythmie entsprechenden Lehrgang. Es entstehen die neun sogenannten ‹Naturstimmungen›, auf die Skizzen zur menschlichen Gestalt und schließlich die großen Aquarelle ‹Urpflanze›, ‹Urtier›, ‹Ostern› und ‹Neues Leben› folgen.
Wie mit diesen Skizzen umgehen?
Diese Frage beschäftigt anthroposophische Malerinnen und Maler seit nunmehr 100 Jahren – für Christiane Haid ein Anlass, zu der gegenwärtig im Goetheanum zu sehenden Gruppenausstellung einzuladen. In einem tiefblau lasierten Raum, in der Kunstgalerie des Goetheanum im ersten Stock, sind Steiners neun mit Pastell auf Pergamentpapier gezeichnete Skizzen zu sehen: schlicht, fast unscheinbar und doch von überraschender Präsenz. Im Nachbarraum werden Henny Gecks in ambitioniertem Großformat ausgeführte Adaptionen gezeigt. Und auf den gewohnten Ausstellungsflächen und darunter in Foyer und Terrassensaal finden sich, von Barbara Schnetzler in bewundernswertem Feingefühl gruppiert, die übrigen, seither entstandenen Bilder. Es ging ihr nicht um eine systematische Hängung, sondern um Zusammenstellungen, in denen sich die Vielfalt der Annäherungen gegenseitig zur Geltung bringt. Dabei lassen sich manche Malerinnen und Maler von den Motiven selbst anregen, andere gehen von der Dynamik der Motive aus und wieder andere von deren Farben. Immer jedoch steht die Berührung durch Steiners Skizzen im Mittelpunkt. Es lässt sich erkennen, welcher Aspekt den oder die Kollegin bewegt und zum Schaffen angeregt hat. Natürlich ist es unmöglich, an dieser Stelle alle Beiträge zu würdigen. Der Rezensent folgt der durch sein Erinnerungsvermögen getroffenen Auswahl.
Von Edgar Spittler sind den Jahreszeiten zugeordnete Baumgruppen zu sehen, die in aller Feinheit Erde und Himmel auf unterschiedliche Weise in Beziehung setzen. Ähnlich fein sind die Arbeiten von Stephane Zwahlen, der Steiners Formen durchpaust und dann ohne Berücksichtigung der Form mit Farbe überzieht und damit dem inneren Leben der Steinerskizzen auf kaum nachzuvollziehende Weise nahekommt. Ganz anders Angèle Ruchti, bei der sich beispielsweise ein dunkles Rot in einen mächtigen schwarzen Block hineinsenkt und damit der Dynamik von Steiners Sonnenuntergang eine äußerste Steigerung abgewinnt. Der Terrassensaal ist Gerard Wagners Alchemistenwerkstatt gewidmet. Seine Entdeckung war es, dass man bei entsprechend innerlich ausgerichteter Aufmerksamkeit das Finden der Form tatsächlich der Farbe selbst überlassen kann. So finden sich Versuchsreihen, in denen ein Rot auf unterschiedliche, den Farbkreis durchlaufende farbige Grundierungen gebracht, Formen hervorbringt, die durch Übergänge verbunden sind. Auf Gelb bringt das Rot Formen eines Sonnenaufgangs und auf Blau Formen eines Sonnenuntergangs hervor. Entsprechend lässt sich durch Veränderung eines zuerst aufgetragenen Grüns in ein Braun der Übergang eines Sonnenmotivs in ein Mondmotiv beobachten. Entsprechende Studien finden sich bei Caroline Chanter und Peter Stebbing. Bei Alexander Schaumann ist der Bezug zur Wagnerschule nicht ohne Weiteres zu erkennen. Er gewinnt der Frage ‹Rot, wo willst du hin?› lebendig vibrierende Flächen ab, die in die ätherische Welt Einblick zu geben scheinen. Für Bettina Roder-Pröbstl – über ihren Lehrer Walter Roggenkamp Enkelschülerin von Henny Geck – sind Farbe und Form dagegen eine von vornherein gegebene Einheit und werden in meditativer Behutsamkeit aufgebaut und aufeinander bezogen. Sonnenbilder von Beppe Assenza setzen an verschiedenen Stellen Akzente und ebenso die mächtig präsenten Bilder von Charles Blockey, die für die Betrachtenden eine freudige Herausforderung bilden.
Kehrt man nach dem anregenden Rundgang noch einmal in den blauen Raum mit den Skizzen Rudolf Steiners zurück, wirkt deren Schlichtheit geradezu erschütternd. In schweigender Zurückhaltung zeigen sie eine Präsenz, die sich mehr an das Gehör als an das Auge zu wenden scheint. Es ist wie bei Bachs Goldberg-Variationen, die nach all den aufregenden, dramatischen und virtuosen Variationen zu ihrem schlichten Ausgangsmotiv zurückkehren und dieses auf ganz neue Weise zum Erklingen bringen.
Zeitgleich zur Eröffnung der Ausstellung luden Christiane Haid und Pieter van der Ree zu einer ‹Kunstintensivwoche›, die von der Begegnung und Zusammenarbeit dieser Kunstschaffenden geprägt war. Vor allem die Abende waren den verschiedenen Zugängen zu den Skizzen gewidmet, nachdem tagsüber ausgiebig gearbeitet worden war. Angèle Ruchtis Arbeitsgruppe hatte Fragen zu den Glanz- und Bildfarben und einer daraus hervorgehenden Darstellungsweise der Naturreiche zum Thema. Edgar Spittlers Arbeitsgruppe ging verschiedenen Aspekten der ‹Naturstimmungen› nach. Hinzu kamen Plastik und Architektur. Die Arbeitsgruppe von Torsten Steen widmete sich dem Modellieren der Sockelmotive des Ersten Goetheanum und die Arbeitsgruppe von Pieter van der Ree und Markus Fischer beschäftigte sich mit Entwürfen eines Gärtnereigebäudes für das Goetheanumgelände. Für alle offen gab es unter der Leitung von Benno Otter, dem Leiter der Gärtnerei am Goetheanum, eine Betrachtung der sieben Planetenbäume, also der Bäume, aus deren Holz die Säulen des Ersten Goetheanum geschaffen worden waren. Esther Gerster führte durch die Betrachtungen der Bilder der Ausstellung. Die Morgenbeiträge waren dem Zusammenwirken der Künste gewidmet. Raum, Gestalt und Farbe in Architektur, Plastik und Malerei – Fragestellungen, die die innere Anschauung in Bewegung brachten und auf eine Weise behandelt wurden, die den Erfahrungshintergrund der jeweils Beitragenden deutlich werden ließ.
Einen originellen Akzent setzte Christiane Haid, indem sie den Morgen mit Kerngedanken aus den ‹Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung› begann, was in die Gespräche eine freie, erweiternde Note hineinbrachte. Damit knüpfte sie einen Faden, den weiterzuverfolgen sich lohnt! Drei halbstündige, gut gemischte Beiträge sind ein wunderbarer Einstieg in den Tag.
Die Teilnehmerschar war international. Sie kam nicht nur aus der näheren und weiteren Umgebung von Dornach, sondern auch aus Argentinien, Australien, China, Kalifornien, Italien, Japan, den Niederlanden, Texas, der Ukraine sowie aus Deutschland und der Schweiz. Sie reichte von solchen, die eine erste Begegnung mit dem Goetheanum-Kunstimpuls suchten, über solche, denen es um eine intensive Auszeit und eine Anregung für ihre berufliche Tätigkeit ging, bis hin zu ‹alten Hasen und Häsinnen›, die den Austausch und die Zusammenarbeit genossen. Wer sich eine solche Woche auch vorstellen kann, sollte die erste Augustwoche schon mal in seinen Terminkalender eintragen. Es wird überlegt, ob im nächsten Jahr eine Intensivwoche zum Ersten Goetheanum als Ganzem und im übernächsten Jahr zum Zweiten Goetheanum stattfinden könnte.
Ausstellung Sonne, Mond und Bäume Naturstimmungen. 100 Jahre Schulungsskizzen für Maler,mit einer Ausstellung der neun Originale von Rudolf Steiner 31.07 bis 10.11.2022 Goetheanum.
Bild Vernissage zu ‹Sonne, Mond und Bäume. Naturstimmungen. 100 Jahre Schulungsskizzen›. Foto: John Ermel